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Stein und Blut

2. Mai 1789, Paris, Königreich Frankreich

Henri schrak aus einem unruhigen Traum hoch. Er hatte sich mit einem Gargoyle verbunden und war deswegen von einem der mächtigsten Adligen des Landes und einer Horde lebender Wasserspeier verfolgt worden. Wie lächerlich ... Henri schlug die Augen auf. Aber die Welt um ihn herum blieb dunkel. Gleichzeitig begann sie zu beben. Nein, sie hob und senkte sich beständig. Er lag auf etwas, das atmete. Er tastete danach. Seine Finger fühlten warmen Stein. Das war kein Traum. Ein grünes Leuchten durchbrach die Dunkelheit. Der Gargoyle war ebenfalls wach. Neiron , schoss Henri der Name des Wesens durch den Kopf.

Der Wasserspeier drehte seinen Schädel, um den auf ihm ruhenden Henri zu betrachten.

»Guten Morgen, Neiron. Hast du gut geschlafen? Ich jedenfalls habe geschlafen wie ein Stein.« Henri hielt kurz inne und kicherte.

Neiron legte seinen Schädel schief. Verwirrung ging von ihm aus.

»Na ja«, fühlte Henri sich bemüßigt, zu erklären, »du bist ja aus Stein und deswegen ... Egal«, lenkte er ab. »Wo wir gerade von Stein reden: Wie geht es dir?« Henri betrachtete die Wunden des Wesens. »Die sehen schon besser aus, aber gesund bist du noch nicht wieder, denke ich mal.« Ehrfürchtig strich er über den Flügel des Gargoyles. Gleich einer wulstigen Narbe war die Verletzung von letzter Nacht deutlich zu erkennen. »Wenigstens blutet es nicht mehr, oder wie auch immer man das bei dir bezeichnet. Wozu Gips doch gut ist«, lobte er sich selbst. »Wenn ich das meinem Meister erzähle, der wird nicht glauben ...« Henri unterbrach sich. Was würde Perceval wohl von ihm denken? Bin ich für ihn weiterhin sein zukünftiger Geselle oder nur noch ein Verbrecher, der niemals Teil der Hütte sein kann? Er betrachtete Neiron. Der Beweis seiner versehentlich verübten Missetat. Ich muss ihn schnellstens loswerden. Ohne Gargoyle kein Verbrechen.

»Ich bin du und du bist ich, ganz so einfach geht dies nicht.«

»Hä? Was?« Henri kratzte sich verständnislos am Hinterkopf. Wie soll man nur aus diesen elenden Reimen schlau werden , ärgerte sich Henri.

»Ich spreche nur zu dir und immer weise, und deshalb bleiben meine Worte leise.«

»Niemand anderes kann also dein Gereime hören?«

Neiron antwortete, indem er nicht antwortete.

Henri deutete dies als Ja. »Solange du nicht erwartest, dass ich ebenfalls in verschwurbelten Versen antworte, soll mir das recht sein.« Er gähnte ausgiebig. Durst und Hunger machten sich bemerkbar. Beides schlechte Begleiter, wenn man nachdenken musste. Außerdem meldete sich seine Blase. Henri beschloss, sich erstmal um das Naheliegende zu kümmern. »Hast du was dagegen?« Er zeigte auf seinen Schritt.

Neiron legte fragend seinen Hundeschädel schief. Seine Nüstern blähten sich und er schob seinen Kopf langsam in Richtung von Henris Unterleib.

»Mon dieu! Was wird das denn?« Henri sprang hastig ein Stück rückwärts. »Deine steinernen Reißzähne kommen auf gar keinen Fall auch nur in die Nähe meines ...« Er unterbrach sich selbst. »Nicht so wichtig. Ich muss nur mal pinkeln.« Ungeduldig zupfte Henri an seiner Hose herum, um der Kreatur zu verdeutlichen, was er vorhatte. »Deinesgleichen hat Derartiges wohl nicht nötig, was? Kein Wunder, ihr dient ja normalerweise arroganten Adligen, die glauben, dass selbst ihre Hintern den Geruch nach Rosen verströmen würden.«

»Pinkeln – Hintern. Rosen – Hosen.« Es war offensichtlich, dass der Gargoyle nicht verstand, was Henri von ihm wollte.

»So ganz sattelfest sind deine Reime nicht«, stöhnte der. »Egal, ich werde da in der Ecke schnell mal eine Stange Wasser abschlagen. Mach dir keine Sorgen, das ist ganz normal und es dauert auch nicht lange.« Henri schlurfte in die Dunkelheit. Es war ihm zwar unangenehm, auf die Knochen Verstorbener urinieren zu müssen, aber noch unangenehmer wäre es ihm gewesen, sich in die Hosen zu machen. Kaum hatte er aus seinen Beinkleidern befreit, was es zu befreien galt, zeichnete sich sein Schatten auf den Gebeinen vor ihm ab. »Lass das! Ich kann nicht, wenn du mich beobachtest.«

»Eine Stange Wasser in der Dunkelheit, sonst ist er nicht bereit.« Der Lichtstrahl wanderte in eine andere Richtung.

»Viel besser«, freute sich Henri. Nachdem er sich erleichtert hatte, kehrte er zu seinem merkwürdigen Begleiter zurück. »Jetzt sag mir doch bitte mal, was mich daran hindern sollte, zu meinem Meister zurückzukehren. Ich kann ihm doch einfach erklären, was passiert ist. Was denkst du, was da los ist, wenn er erfährt, was Albirich getan hat? Perceval wird einen Weg finden, dieses Missverständnis aufzuklären. Ich habe mich keines Verbrechens schuldig gemacht und du auch nicht.«

»Stein und Blut, das ist unser Verbrechen, die verschmähte Weichhand wird sich rächen.«

»Weichhand? Meinst du damit etwa den Sohn des Marquis? Ein schönes Wort. Es beschreibt die faulen Adligen ziemlich gut«, befand Henri und betrachtete seine schwieligen Hände. »Wie wäre es denn, wenn du freiwillig Blut und Stein mit der Weichhand eingehst?« Er zwinkerte dem Wesen zu. »Du wirst der Diener einer Weichhand und ich der größte Baumeister aller Zeiten, genauso wie es geplant war.«

»Stein und Blut bestehen ein Leben lang, nur der Tod etwas daran ändern kann.«

»Das kann doch unmöglich dein Ernst sein. Nur wenn einer von uns stirbt, kann dieses vermaledeite Blut-Stein-Ding gelöst werden?«

Statt einer Antwort kratzte sich Neiron mit der Pfote hinter den Ohren. Steinstaub wirbelte dabei auf, der Henris Nase kribbeln ließ. Offensichtlich wiederholte sich die Kreatur nicht gern.

Henri stand auf und umkreiste seinen Begleiter. Beim Laufen hatte er schon immer besser nachdenken können. »Betrachten wir unsere Lage also einmal genauer. Wir haben uns den Erben eines der mächtigsten Adelshäuser des Königreichs zum Feind gemacht, dessen Vater wegen uns vom Himmel gefallen ist und …«, er zuckte entschuldigend mit den Schultern, »… dabei zerschmettert wurde. Außerdem will jeder lebende Wasserspeier des Landes ebenfalls unser Ende, weil wir auch noch gegen eure Regeln verstoßen haben. Und wir können nichts daran ändern, außer einer von uns stirbt. Richtig?« Er schielte zu dem Gargoyle hinüber, doch der schien sich mehr für seine Pfote zu interessieren statt für Henris Worte. »Wie wäre es denn, wenn jeder von uns einfach seiner Wege zieht? Ich könnte mir eine andere Baustelle suchen ...« Henri bekam Magenschmerzen bei dem Gedanken, seine geliebte Notre-Dame verlassen zu müssen. »Weit weg von Paris. Vielleicht im Süden am Meer. Ich wollte schon immer das Meer sehen. Du kannst ja das Gleiche tun. Was hältst du von den Bergen im Norden? Kälte macht dir doch bestimmt nichts aus, du bist ja aus Stein. Damit hätten wir den größtmöglichen Abstand zwischen uns gebracht und niemand wird Verdacht schöpfen. Vielleicht nicht das Leben, das wir uns vorgestellt haben, aber immerhin ein Leben.«

»Wir sind gezeichnet durch das Mal. Es zu entfernen, wäre eine tödliche Qual.«

»Was denn für ein Mal?«

Neirons Blick wanderte zu Henris linker Hand.

»Schon klar, ich muss mir dringend die Hände waschen«, brummte Henri gereizt. »Immer noch alles voller Steinstaub und Gips.« Beiläufig versuchte er, den Schmutz an seiner Jacke abzuwischen. Vergebens. »Was ist das denn für ein Zeug?« Er wischte erneut. Das Ergebnis blieb dasselbe. »Wieso geht das nicht ab?«

»Und mit einem Mal spürt er das Mal.« Amüsiertheit kam von dem Gargoyle.

»Was, das ist es? Meine ganze Hand ist grau wie Mörtel. Wie weit geht das?« Ängstlich rollte Henri seine Ärmel auf, um festzustellen, ob die Veränderungen auch seinen restlichen Arm befallen hatten. Zu seiner Beruhigung erblickte er dort nur rosige Haut. Die Veränderung endete an seinem Handgelenk. »Hast du denn auch eins oder bin nur ich entstellt?«

Neiron drehte ihm seinen Rücken zu.

Henri streckte sich und betrachtete ihn. »Das sieht aus wie menschliche Haut.« Ehrfürchtig strich er darüber. »Und es fühlt sich auch so an. So langsam verstehe ich, warum das Blut und Stein heißt.« Er schnaufte resigniert. »Da werden wir beide in unseren Verstecken Handschuhe oder einen Überwurf tragen müssen.«

»Das Mal bindet uns an einen Ort. Ohne den anderen geht keiner fort!«

»Das wird ja immer schlimmer. Ich muss ab jetzt also ständig mit dir zusammen sein? Nachdem das mit meinem Vater …« Er unterbrach sich.

Neiron stupste Henri mit seiner steinernen Schwanzspitze an. Es fühlte sich wie eine Entschuldigung an.

»Schon gut« , erwiderte Henri, »du kannst ja nichts dafür.«

»Ich spüre deine Qual, bitte berichte mir von deines Vaters Schicksal.«

Henri schluckte schwer. »Mein Vater …«, begann er zögerlich. Er betrachtete den Gargoyle einen Moment. Er ist so anders. »Mein Vater war zur falschen Zeit am falschen Ort. Als er an einem Sonntag einen Ausflug mit mir zur Seine machte, gerieten wir versehentlich in die gewalttätig ausgetragene Fehde zweier Adelsfamilien. Zwei kämpfende Gargoyles stürzten plötzlich vom Himmel. Mein Vater stieß mich geistesgegenwärtig zur Seite, er selbst wurde aber von den fallenden Wesen getroffen.« Henri seufzte und blinzelte sich die Tränen weg. »Er ist in meinen Armen gestorben.« Nun weinte er ungeniert. »Die adligen Kontrahenten haben später von einem Unfall gesprochen und wurden niemals belangt. Genauso wenig wie die Gargoyles. Das erklärt vielleicht, warum ich auf deinesgleichen bisher nicht gut zu sprechen war.«

»Das tut mir schrecklich leid. Du hattest sicher eine wirklich schlimme Zeit.«

Tatsächlich fühlte sich Henri besser. Es war ein tröstliches Gefühl, dass der Gargoyle an seinem Unglück teilnahm. »Danke!« Er wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht trocken.

Um von seinem Vater abzulenken, wechselte er das Thema. »Was passiert, wenn ich einfach vor dir weglaufe? So zum Beispiel.« Er rannte in den dunklen Gang, aus dem sie gekommen waren. »Siehst du! Alles gar kein Problem. Du kannst nach Norden reisen und auf einem einsamen Berg leben. Ich behaupte, dass ich verletzt bin, und werde ab jetzt immer Handschuhe tragen. Oje, ganz schön dunkel hier, ich komme besser zu dir zurück. Nein!«, befahl er sich selbst. »Ich will doch gar nicht zurück. Oder doch? Immerhin kannst du mir leuchten und ... Was passiert hier?«

Henri war plötzlich kaum noch in der Lage zu laufen. Jeder Schritt fühlte sich an, als wäre er seit Tagen ohne Pause gewandert. Schmerzen durchzuckten seine Muskeln. Seine Beine begannen zu zittern. Einen Augenblick später hatte er das Gefühl, durch langsam erhärtenden Mörtel zu waten, so verzögert reagierten seine Gliedmaßen. Schließlich konnte er nicht mehr weitergehen. Ihm fehlte schlicht die Kraft dazu. »Ich glaube es nicht«, keuchte er. Schweiß lief ihm in die Augen. Ein schier übermächtiger Drang, sich umzudrehen, überkam ihn. Der unbändige Wunsch, die grünen Augen Neirons zu sehen, den Körper der mächtigen Kreatur zu berühren. Blut und Stein. Nein! Ich bin ich!

Gegen seinen Willen drehte Henri sich um. Der Anblick des grünen Schimmerns der Gargoyle-Augen erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung. Zögerlich versuchte er, einen Fuß zu heben. Es gelang augenblicklich. Seine Füße schienen geradezu darauf zu brennen, laufen zu dürfen. Rasend schnell trugen sie ihn zurück zu Neiron. Henri tätschelte das Wesen ausführlich zwischen den steinernen Ohren und knurrte dabei. »Ich hasse es schon jetzt, dass du immer recht hast, aber ich werde dich nicht so schnell verlassen, das steht fest.«

Neiron verzog die Schnauze wie zu einem selbstgefälligen Grinsen.

»Wir können uns also nicht trennen und ich kann dich nirgendwo verstecken. Wo sollen wir bloß hin? So langsam möchte ich mal wieder weg von den Toten.« Henri rollte mit den Schultern, um die Kühle der Katakomben aus seinen Knochen zu vertreiben. »Von meinem Hunger mal ganz abgesehen. Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam zu dem einsamen Berg fliegen und uns dort verstecken, bis uns eine Lösung einfällt?«

Kraftlos hob Neiron seinen verletzten Flügel.

»Verstehe, erstmal keine langen Flüge. Du musst dich ausruhen. Aber ich kann nicht hier unten bleiben, sonst verhungere ich.«

Der Gargoyle stieß einen Schwall warme Luft aus seinen riesigen Nasenlöchern aus.

»Soll das heißen, dass du eine Idee hast, wo wir uns verstecken können?«

»Einen Stein allein kann jeder finden, doch unter seinesgleichen kann er rasch verschwinden.«

»Dieses Gereime hilft jetzt nicht, du sollst dir eine Lösung für unser Problem ausdenken.« Henri vollführte eine verzweifelte Geste in Richtung des Gargoyles. Er ließ sich den Vers noch einmal durch den Kopf gehen. Rasch verschwinden … unter seinesgleichen? »Wenn es nur einen Ort geben würde, an dem sowohl mehrere Gargoyles als auch Angehörige des dritten Standes zur selben Zeit anwesend sind.« Er summte vor sich hin. »Außer einem Aufstand fällt mir da nichts ein, und wenn wir da zwischen die Fronten geraten ... Moment mal«, unterbrach er sich selbst. »Es gibt solch einen Ort.« Henri pfiff durch die Zähne. »Die Generalständeversammlung. Natürlich, warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Am Schloss von Versailles werden von heute an die Vertreter aller Stände herumlaufen. Mein Meister hat mir erzählt, dass sie dafür sogar extra einen Saal errichtet haben. Die Architektur fand er übrigens scheußlich. Alle Adligen, die dort sind, müssen ihre Gargoyles dabeihaben, das weiß ich ja jetzt. Wir können dort einfach in der Menge untertauchen und wenn jemand fragt, bin ich der Diener von irgendeinem feinen Schnösel und du bist nur zufällig in meiner Nähe. Schaffst du es bis Versailles? Immerhin müssen wir raus aufs Land. Weißt du überhaupt, wo das ist?«

Neiron breitete seine Schwingen aus.

»Sehr gut!«, lobte Henri. »Dann auf nach Versailles. Dort bleiben wir so lange, bis du dich erholt hast. Die Zusammenkunft der Stände wird sich vermutlich über Wochen hinziehen, wenn man dem Tratsch in den Gasthäusern glauben will. Wenigstens bin ich mir sicher, dass es dort jede Menge zu futtern gibt.« Henri rieb sich über seinen leeren Bauch und grinste den Gargoyle schief an. »Hier unten können wir nicht bleiben. Also schlagen wir uns erstmal den Bauch voll und überlegen am schönsten Schloss der Welt, wie es weitergehen soll. Vielleicht haben wir ja Glück und sie sind auf der Versammlung alle so abgelenkt, dass ein falsch verbundener Gargoyle und sein tapferer Begleiter einfach in Vergessenheit geraten. Was hältst du davon?«

Neiron schien mit diesem Vorschlag einverstanden zu sein. Geräuschlos erhob er seinen massigen Leib und stapfte in Richtung Ausgang.

»Ich würde dich ja bitten, auf mich zu warten, aber ich weiß, dass du ohne mich sowieso nicht weit kommst.« Lachend folgte Henri ihm.