2. Mai 1789, Rouen, Provinz Normandie, Königreich Frankreich
Der Regen hatte endgültig aufgehört und ein strahlend blauer Himmel kündete von einem wunderschönen Frühlingstag. Für mich wird es nie wieder schöne Tage geben , war sich Catia dennoch sicher. Zum Weinen hatte sie längst keine Kraft mehr. All ihre Energie wendete sie für ihr Überleben auf. Sie musste einfach leben. Damit ich Rache an den Mördern meiner Familie nehmen kann. Der erste Schritt auf diesem Weg war es, die schändlichen Verbrechen anzuzeigen. Die nahe gelegene Großstadt Rouen war dafür genau der richtige Ort. Im Magistrat der Stadt saßen mächtige Männer, die nicht zulassen würden, dass man einen aus ihrem Stand so schändlich behandelte, war sich Catia sicher.
Marengo lahmte wieder.
»Durchhalten, mein treuer Freund«, flüsterte Catia ihm ins Ohr. »Wir haben es fast geschafft.«
Tapfer hielt das Pferd weiter auf die Stadt zu, deren berühmteste Einwohnerin ebenfalls eine vom Leben schwer gezeichnete Frau gewesen war: Jeanne d’Arc. Der Turm jener Burg, in der die Engländer sie in Rouen gefangen gehalten hatten, war bis heute ein weithin sichtbares Symbol der Stadt. Ich werde so stark und erfolgreich wie Jeanne d’Arc sein , nahm sich Catia vor. Die Tatsache, dass die erst Neunzehnjährige vor mehr als dreihundert Jahren in Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, verdrängte Catia und reihte sich in den anschwellenden Strom von Händlern und anderen Reisenden ein, die in Richtung der Provinzhauptstadt zogen. Catia kannte die Stadt kaum, war sie doch erst zweimal hier gewesen. Beide Besuche lagen Jahre zurück. Seit ihr Vater in Melancholie verfallen war, hatte es ihn nur selten an Orte mit vielen Menschen gezogen.
Die Stadt grenzte direkt an einen Bogen der Seine, was sie über die Jahrhunderte zu einem bedeutenden Handelszentrum gemacht hatte. In seiner Blüte war Rouen gar das Zentrum des Handels mit Brasilien gewesen. Allerdings lagen diese Zeiten lange zurück. Ausweis dafür war schon der Weg in die Stadt. Um hineinzugelangen, musste man eine hölzerne Schiffbrücke überqueren. Eigentlich als Provisorium erdacht, bis die während einer Belagerung zerstörte Brücke aus Stein wiederaufgebaut wurde, nutzte man in Rouen dieses Konstrukt seit beinahe zweihundert Jahren. Jedes neue Stadtoberhaupt hatte den Einwohnern eine feste Flussquerung versprochen, doch bisher hatte noch jeder die immensen Kosten gescheut.
Catia sprang aus dem Sattel und führte Marengo auf die schwankende Konstruktion zu. Das Pferd scheute. Die sich beständig bewegenden Holzbohlen über dem schnell fließenden Fluss machten ihm sichtlich Angst. »Komm schon, mein Lieber. Du kannst mich nicht auch noch alleinlassen.«
Das schien den Hengst tatsächlich zu überzeugen. Zaghaft setzte er erst einen Huf auf die Planken und dann alle weiteren.
»Danke!«, raunte ihm Catia zu.
Schnell wurde es eng auf der schmalen Flussquerung. Die Brücke war wie ein Flaschenhals. Hier konzentrierten sich sämtliche Besucher Rouens auf dem Weg in die Stadt. Händler mit voll beladenen Fuhrwerken und Menschen jeden Alters und Standes strömten auf die Stadt zu. Die Lautstärke hier war ungewohnt für Catia. Dialekte von überall aus dem Königreich flogen an ihr Ohr, sogar Fremdsprachen, die sie nicht verstand, mischten sich darunter. Die wogende Masse hielt auf das sogenannte Löwentor zu. Es wurde zwar bewacht, aber die Soldaten winkten die meisten Einzelreisenden gelangweilt durch. Einzig den Fuhrwerken widmeten sie ihr Interesse, vermutlich, um Handelszölle einzutreiben.
Catia wurde so mit einer Traube Menschen in die Stadt gespült, ohne dass irgendjemand besondere Notiz von ihr nahm. Dennoch fühlte sie sich innerhalb der Masse von Fremden noch verlorener als allein auf der Straße. Vor lauter Leibern konnte sie sich kaum orientieren, zumal sie ohnehin keine Ahnung hatte, wohin sie eigentlich wollte. Ständig schob sie jemand in die eine oder die andere Richtung.
»Kann ich dir helfen, Mädchen?«, sprach sie schließlich ein humpelnder Bettler an.
Catia war schon im Begriff, vor dem alten Mann wegzulaufen, zwang sich aber zu bleiben. Ich brauche tatsächlich Hilfe. »Ja, könnt Ihr mir sagen, wie ich zum Rathaus komme?«
»Natürlich«, krächzte der Mann, der sich zum Schutz gegen die Kälte eine schmuddelige Pferdedecke über die Schultern geworfen hatte. »Es liegt in der Rue du Gros-Horloge.« Er beschrieb Catia gestenreich den Weg.
»Das sollte ich finden. Habt vielen Dank, werter Herr!«
»Gern«, erwiderte der Bettler und streckte seine dreckige Hand nach ihr aus.
Beinahe wäre Catia zurückgesprungen, bis sie begriff, dass der Bettelmann ihr nichts Böses wollte, sondern eine Belohnung für seine Hilfe. Catia dachte an die fünf Goldmünzen. Magalis Mörder würde den Notgroschen ihrer Familie vermutlich für Alkohol und Dirnen verprassen. »Ich ... ähm ...«
»Eine milde Gabe ist doch wohl nicht zu viel verlangt«, drängte der Mann und rückte unangenehm nah an Catia heran. Er verströmte einen herben Geruch nach Urin, der ihr Übelkeit bereitete.
»Es tut mir leid, aber außer meinem Dank habe ich nichts zu geben. Ich besitze kein Geld, guter Mann«, versuchte es Catia mit der Wahrheit.
Der Blick des Bettlers heftete sich auf Marengo und seinen reich verzierten Sattel. »Wer solch ein Pferd sein Eigen nennt, wird doch wohl für einen armen Mann wie mich ein wenig Kupfer übrig haben.«
»Nein, ich ...«
»Platz da!«, schrie plötzlich ein rotwangiger Kutscher, dessen Gefährt sie im Weg standen.
Sofort nutzte Catia die Gelegenheit, um der unangenehmen Situation zu entkommen. Sie musste sich dabei zwingen, fest aufzutreten, so sehr zitterten ihre Beine. Werde ich mich bald in das Heer der Armen und Obdachlosen der Stadt einreihen müssen? Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass die Stadtoberen ihr halfen. »Immerhin bin ich die Tochter eines Chevaliers«, sprach sie mit Marengo. »Wir Angehörigen des zweiten Standes müssen doch zusammenhalten.« Alles Schlechte in meinem Leben haben mir Angehörige des dritten Standes angetan. Es kam Catia wie die Begebenheit aus einem anderen Leben vor, dass sie noch gestern Abend mit ihrem Vater bei Kerzenschein über die Ungerechtigkeit der Ständeordnung diskutiert hatte.
Vor dem Tor zum Hôtel de Ville hatte sich eine kleinere Menschenmenge versammelt, die offensichtlich alle dringende Anliegen hatten, die sie dem Magistrat der Stadt vorbringen wollten. Es wurde geschrien, geschubst und gedrängelt. Dazwischen schoben sich fliegende Händler, die Essen und Getränke an die Wartenden verkaufen wollten. Das im florentinischen Stil errichtete Prachtgebäude besaß im unteren Geschoss einen Arkadengang, in dem zahlreiche Geschäfte beheimatet waren, deren Kunden den Menschenauflauf noch weiter anwachsen ließen. Nur den zahlreichen Stadtwachen war es zu verdanken, dass die Masse das Rathaus nicht längst gestürmt hatte.
»Dann wollen wir uns mal ins Getümmel stürzen«, machte sich Catia Mut. »Für Vater und Magali.« Sie band Marengo etwas abseits fest, setzte ihren überheblichsten Adelsblick auf und lief gemessenen Schrittes auf eine der gelbrot gewandeten Stadtwachen zu, die, mit hölzernen Schlagstöcken bewaffnet, versuchten, die Szenerie nicht vollends in Chaos versinken zu lassen. »Werter Herr!« Sie tippte einem von ihnen auf die Schulter.
»Verschwinde!«, rief der, ohne sich umzudrehen.
Affektiert räusperte sich Catia. »Ich muss doch sehr bitten, junger Mann.«
Die geschwollene Sprache brachte den Soldaten tatsächlich dazu, sich umzublicken. Mit einer genervt hochgezogenen Augenbraue blickte er sie fragend an. »Mädchen, es ist nicht an der Zeit, jetzt deine Dienste anzubieten. Verschwinde, bevor ich dich einsperre!«
Er hält mich für eine Dirne. Catia blickte an sich herunter. Ihr Kleid war zerrissen und voller Dreck. Der Saum hatte sich mit dem Schlamm von Rouens Straßen vollgesogen. Wie ihre Haare und ihr Gesicht aussehen mussten, wollte sich Catia lieber nicht vorstellen. »Ich bin keine ... äh ... nun ...« Ihr fielen schlicht keine Worte ein, mit denen sie ausdrücken konnte, dass sie kein Freudenmädchen war. »Mein Name ist Catia d’Argenton. Mein Vater ist Rousel d’Argenton, Ritter des Saint-Louis-Ordens und Lehnsherr des Guts d’Argenton.«
Der Wachsoldat schob einen allzu aufdringlichen Händler, der gebratenen Fisch anpries, barsch zur Seite, bevor er sich Catia zuwandte. »Ich bin mir sicher, Mädchen, dass du Freier finden wirst, die für diese besondere Geschichte mehr zu zahlen bereit sind oder gar darüber hinwegsehen, dass du obenrum recht flach bist, aber mir gehst du gerade auf die Eier. Und das nicht in dem Sinn, den du dir vielleicht vorgestellt hast, glaub mir! Geh jetzt, bevor ich dir eins über die Rübe ziehe, um dich anschließend eine volle Woche im Kerker schmoren zu lassen!« Drohend hob der Mann seinen Schlagstock.
Vor Schreck wich Catia zurück. Ich bin zu einem Niemand geworden. Sie überblickte die wuselige Menge. Jetzt wusste sie, wie sich Bastiens Familie gefühlt haben musste, als man ihnen den Vater und Ehemann genommen hatte, ohne dass sie auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatten, das zu verhindern. Ich muss hier weg. Rouen war ein Fehler gewesen. In diesem Moloch würde ihr niemand helfen.
Doch wohin sollte sie gehen? London hätte genauso gut auf dem Mond liegen können. Nach Hause konnte sie ebenfalls nicht, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen. Vielleicht nimmt mich Vicomte Bellême nicht unbedingt zur Schwiegertochter, aber vielleicht kann er mich beschützen , überlegte sie auf dem Weg zurück zu Marengo. Eine vage Hoffnung. Warum sollte sich der mächtige Adlige eines namenlosen und verarmten Mädchens annehmen? Einen Moment lang glaubte Catia, sich verlaufen zu haben, weil sie ihr Pferd nicht fand. Erst als sie den zerschnittenen Riemen entdeckte, den sie eigenhändig um einen Pfahl geschlungen hatte, begriff sie, was passiert war. Gestohlen. Marengo ist auch fort. Die letzte Verbindung zu ihrem alten Leben war damit endgültig gekappt. Kraftlos ließ sie sich am Straßenrand zu Boden sinken. Gestern noch die Tochter eines Chevaliers, war sie heute in der Gosse angekommen. Das war zu viel. Die Welt wankte und verschwamm vor ihren Augen. Die Menschen, der Gestank und all der Lärm verstummten mit einem Mal. Catia begriff, dass sie vor einer Ohnmacht stand. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was mit ihr passieren würde, wenn sie hier besinnungslos zusammensackte. Nein! , schrie sie sich im Geiste selbst an und versuchte, tief durchzuatmen. Es brauchte mehrere Anläufe, bis ihr das gelang. Die Wirklichkeit drang langsam wieder in ihre Sinne. Dennoch spürte Catia, dass sie nicht sofort aufstehen konnte, um diesen scheußlichen Ort hinter sich zu bringen. »Ich kann auch noch einen Augenblick länger auf dem Rinnstein verweilen«, übte sie sich in Galgenhumor.
Ein kühler Windzug kam auf und wehte ein zerknittertes Papier zwischen ihre Füße. Gegen ihren Willen las Catia die darauf gedruckte Überschrift: Journal des États-Généraux . Eine Zeitung der Generalstände? Sie musste an den gestrigen Abend denken. Diese verfluchte Generalständeversammlung. Für Catia fühlte es sich an, als wäre dadurch erst ihr Leben in eine derartige Schieflage geraten. Hoffentlich teilt der König hier offiziell mit, dass er mit dem Abschaum vom dritten Stand nicht reden wird. Sie zog die beschmutzte Zeitung aus der Gosse und studierte das Titelblatt. Unter dem Zeitungsnamen stand das Motto des Druckerzeugnisses: Novus nascitur ordo – eine neue Ordnung wird geboren. »Nein«, schrie Catia die Zeitung an. »Sie wird aus dem Blut Unschuldiger gegossen.« Sie war schon im Begriff, das Papier wieder in den Dreck zu werfen, da fiel ihr Blick auf den Namen des Herausgebers. Flüsternd las sie ihn vor. »Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau, Paris.«
Catias Herzschlag beschleunigte sich. »Er ist gar nicht in London, sondern in Paris.« Abrupt stand sie auf. Und diese Stadt liegt am gleichen Fluss wie Rouen!