9

Unter Ungleichen

2. Mai 1789, Versailles, Regierungssitz, Königreich Frankreich

Das trübe Licht der hinter Wolken versteckten Sonne brannte in Henris Augen, als er vorsichtig aus der zerstörten Eingangstür der Katakomben schielte. Hoffentlich ist die Luft rein und wir können ungesehen von hier verschwinden. Eine vergebliche Hoffnung, wie sich augenblicklich herausstellen sollte.

»Was machst du da, enfant morveux?«

»Wie jetzt, Rotzbengel … ich ... ähm ... ich wollte ...«, stammelte Henri.

»Ich wollte, ich wollte ...«, äffte der untersetzte Mann, der an seiner dunklen Kleidung eindeutig als Totengräber zu erkennen war, ihn nach. »Du warst es also, der hier gestern Nacht eingebrochen ist. Na warte, das wird dich teuer zu stehen kommen. Die Störung der Totenruhe ist ein schweres Vergehen. Schon bald wirst du die Bastille von innen kennenlernen, glaub mir.« Drohend hob der Mann seine schwielige Faust und pfiff gleichzeitig.

Weitere seiner Zunft erschienen.

»Das ist der Kerl, dem wir all das hier zu verdanken haben!«, begrüßte er seine Kameraden und zeigte auf Henri.

»Nein, ich ...« Henri kam die Lüge nicht über die Lippen, dass er nichts mit den zahlreichen Zerstörungen ringsherum zu tun hatte.

»So ein Dreckschwein, macht uns die Arbeit noch schwerer«, schimpfte einer der neu Hinzugekommenen. »Bevor wir ihn der Stadtwache übergeben, sollten wir ihn gehörig durchwalken, damit er nicht noch einmal auf die Idee kommt, im Suff die Ruhe der Toten zu stören.«

Zustimmendes Gemurmel brandete auf. Fäuste wurden klatschend in offene Hände geschlagen.

»Bitte, meine Herren, das war alles ganz anders. Ich ...«

Es war offensichtlich, dass die Männer nicht vorhatten, ihm zuzuhören. Mit grimmigen Gesichtern schritten sie auf ihn zu. Plötzlich wurde Henri unsanft zur Seite geschoben.

Neiron. Der Gargoyle baute sich vor Henri auf.

Augenblicklich hielten die Männer inne. Irritiert blickten sie einander in die Augen. »Herr«, murmelte derjenige, der Henri zuerst entdeckt hatte. »Wir konnten ja nicht ahnen, dass Ihr ...« Er unterbrach sich für eine tiefe Verbeugung. Seine Zunftbrüder taten es ihm augenblicklich nach. »Bitte entschuldigt, dass wir Euch belästigt haben. Ich hoffe, dass Ihr uns diesen Fehler verzeihen könnt.«

Wegen Neiron glauben sie, dass ich ein Adliger bin. Henri ließ sich auf dieses Verwirrspiel ein, das ihm nur zum Vorteil gereichen konnte. »Ihr braven Männer tut ja nur eure Pflicht. Nun gut, ich werde dann ...« Unschlüssig verharrte er im Türrahmen. Die Männer starrten ihn weiter entgeistert an. Und was mache ich jetzt? Henri hatte in seinem Leben bisher kaum Kontakt zur Oberschicht gehabt und kannte ihre Verhaltensweise fast nur aus Spottliedern und Schmähgedichten.

Neiron drehte sich zu ihm um und wies mit dem Schädel in Richtung seines Rückens.

Zeit zu gehen ... ähm ... fliegen. Henri wurde flau. Die Fliegerei des gestrigen Tages belastete ihn immer noch. Dennoch hatte er keine bessere Lösung. Sie mussten verschwinden, bevor eine der Stadtwachen sie entdeckte. Sicher hatte man längst jeden Bewaffneten in der Stadt darüber informiert, dass ein Steinmetzlehrling sich auf illegitime Weise einen Gargoyle angelacht hatte. Und auf der Flucht einen Marquis getötet hat. Henri schluckte schwer. Sie hatten nur eine Chance. Auf geht’s nach Versailles. Hoffen wir, dass diese Neuigkeiten die Stadtgrenze von Paris noch nicht passiert haben. Neiron ging in die Knie, um ihm das Aufsteigen zu erleichtern. Behände kletterte Henri auf den steinernen Leib seines Begleiters. »Darf ich mich an deinen Ohren festhalten?«, flüsterte er.

Ein schnelles Wackeln der steinernen Hörorgane signalisierte ihm Zustimmung.

Henri ergriff jeweils eines mit jeder Hand.

Geschmeidig richtete Neiron sich auf, nahm drei Schritte Anlauf, klappte die Flügel aus und schwang sich wacklig in die Luft. Seine verletzte Schwinge brauchte einen Augenblick, bis sie im Takt mit der gesunden schlug. Der Gargoyle stieg deutlich langsamer auf, als Henri es in der letzten Nacht erlebt hatte.

»Ganz ruhig«, redete Henri auf ihn ein. »Du schaffst das.«

Tatsächlich stabilisierte sich der Wasserspeier. Stetig gewannen sie an Höhe. Die Welt unter Henri wurde kleiner und kleiner. Paris schrumpfte zu einer Spielzeugmetropole zusammen. »Kennst du den Weg zum königlichen Schloss?«, schrie Henri gegen den rauschenden Fahrtwind in Neirons Ohr.

»Ein Gargoyle kennt jeden künstlichen Ort aus Stein. So war es und so wird es immer sein.«

»Dann bin ich ja beruhigt.« Henri blickte sich um. »Eine andere Sache macht mir aber Sorgen. Was ist, wenn uns deine Brüder wieder verfolgen und angreifen?«

»Keiner von meinesgleichen ist in der Nähe, jedenfalls soweit ich sehe.«

»So ein Glück. Vermutlich sind die meisten Gargoyles mit ihren Herren schon in Versailles.«

Neiron flog eine Schleife in nordwestlicher Richtung und hielt auf das glitzernde Band der Seine zu. Verzückt betrachtete Henri seine Heimatstadt von oben. Es fühlte sich beinahe so an, als würde er Paris neu entdecken. Der alte Palais Royal und die Tuilerien zogen unter ihnen hinweg, bevor sie den Fluss überquerten. Den mächtigen Invalidendom mit seiner goldenen Kuppel und Spitze ließen sie ebenfalls hinter sich. Und mit einem Mal erstreckten sich frisch bestellte Felder, Wäldchen und kleinere Gehöfte unter ihnen.

Sie hatten Paris verlassen und überquerten plattes Land, als wären sie in eine andere Welt eingetaucht. Hier erinnerte nichts mehr an die Weltstadt, die Henri sein Zuhause nannte. Seitdem Louis XIV. die königliche Residenz aus dem Zentrum der Stadt, weg vom Ufer der Seine und den Tuilerien, in den kleinen Ort Versailles hatte verlegen lassen, zogen die Bourbonenkönige die Ruhe des Landes der quirligen Hauptstadt vor. Von einem kleinen Jagdschloss war das Schloss Versailles in knapp hundertfünfzig Jahren zu einer gigantischen Anlage angewachsen.

»Hoppla!«

Neiron war zur Seite gedriftet. Seinem verletzten Flügel ging die Kraft aus. Die Wunde war erneut aufgebrochen. Mörtelbrocken tropften Richtung Boden.

»Fast geschafft«, rief Henri. »Das da vorn muss Versailles sein.« Was für ein beeindruckender Anblick. Der größte Schlosskomplex der Welt!

Neiron begab sich in den Sinkflug. Seine Schwingen bewegte er kaum noch, sondern nutzte geschickt die Aerodynamik, um mit dem Wind zu segeln. Was für ein schlauer Bursche er doch ist , kam Henri nicht umhin anzuerkennen.

»Ob schlau gewesen unser Plan, werden wir jetzt gleich erfahrn.«

»Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das hin. Du landest in einer abgelegenen Ecke und wir mischen uns unters Volk. Wir müssen nur aufpassen, dass immer ein Adliger in der Nähe ist, damit deine Anwesenheit nicht auffällt. In Ordnung?«

Wortlos hielt der Gargoyle auf eine große menschenleere Rasenfläche am gigantischen Park zu.

»Wir sinken viel zu schnell!« Weil Neiron nicht mehr beide Flügel synchron bewegen konnte, kam er immer stärker ins Trudeln. Der Boden raste auf sie zu. Panisch klammerte Henri sich an die Ohren des Gargoyles, doch schließlich konnte er sich nicht länger halten. Schrill kreischend flog er von Neirons Rücken und landete in einem der zahlreichen Springbrunnen. »Ich hasse das Fliegen«, fluchte er und spuckte hustend einen gehörigen Schwall brackigen Wassers aus. Immerhin hatte ihn das flüssige Nass vor einer allzu harten Landung bewahrt.

Neiron war es schlechter ergangen. Er hatte eine regelrechte Furche in den gepflegten Schlosspark gezogen und war schließlich in einer Figurenhecke zum Stillstand gekommen. Von den fein getrimmten Buchsbäumen, die man in mühevoller Arbeit zu Nymphen, Satyrn und anderen Fantasiewesen geformt hatte, war nicht mehr übrig als Kleinholz.

Erst erzürnen wir die Totengräber und jetzt die Gärtner mit unseren Landungen , schoss es Henri durch den Kopf.

Bewegungslos lag Neiron zwischen den Büschen.

Ob es ihm gut geht? Ein affektiertes Räuspern beanspruchte Henris Aufmerksamkeit. Sein Blick fiel auf einen älteren Herrn, der in einen roten Frack mit bauchigen Schößen und riesenhaften Puffärmeln gekleidet war. Er musterte Henri streng unter seiner gelockten, schulterlangen Perücke.

Verflixt, ich hatte gehofft, dass wir uns unentdeckt unter die Leute mischen können. Aber nach diesem Auftritt weiß vermutlich das ganze Schloss, dass wir da sind. Henri versuchte, zu Neiron hinüberzuschielen. Der Gargoyle lag immer noch bewegungslos in der Hecke. Wenn der Mann jetzt die Schlosswachen holt, ist unser Plan gescheitert. Eine unangenehme Trockenheit breitete sich in seinem Mund aus. Wie sollte er glaubhaft erklären, warum er soeben vom Rücken eines Gargoyles gestürzt war?

»Ist Euer Begleiter verletzt, werter Herr?« Der Fremde zog fragend eine seiner fein gezupften Augenbrauen hoch.

Werter Herr? Henri musste an die Begegnung mit den Totengräbern denken. »Ich denke ja. Lasst mich kurz nach ihm sehen«, näselte er, in der Hoffnung, den Tonfall eines Adligen nachzuahmen.

»Selbstverständlich.« Henris Gegenüber deutete eine kleine Verbeugung an. Sein Blick blieb kurz auf Henris grauer, von dem Mal gekennzeichneter Hand haften.

Schnell krabbelte Henri aus dem Brunnen. Ihm war inzwischen erbärmlich kalt. Der Tag war wolkenverhangen und kühl. Maikühl, hatte sein Vater immer gescherzt, wenn es im Winter besonders kalt gewesen war. Ein steter Wind zerrte an seiner klatschnassen Kleidung. Trotzdem lief er mit quietschenden Schuhen zu Neiron. Vorsichtig strich er ihm über den Rücken. »Geht es dir gut?«

Das Wesen stand auf und schüttelte sich. Feuchte Erde spritzte in alle Richtungen.

»Das heißt dann wohl Ja«, interpretierte Henri diese Reaktion und wischte sich einen Grasbrocken aus dem Gesicht. »Es ist nur so, dass wir bereits entdeckt wurden und ich diesem feinen Pinkel dahinten jetzt erklären muss, was wir miteinander zu schaffen haben.« Nachdenklich kaute Henri an seiner Unterlippe.

»Du musst nicht zittern vor Angst, ich bin mir sicher, dass du das kannst.«

»W-w-as?«, fragte Henri mit klappernden Zähnen. Die elenden Reime Neirons machten ihn einfach verrückt.

Der Gargoyle legte seine Tatze auf Henris Unterarm. Henri spürte echte Besorgnis – und Zuneigung.

»Ach so«, erklärte er mit einem breiten Lächeln. »Mir ist kalt, deswegen zittere ich. Ich brauche schnellstens trockene Kleidung.«

»Kalt?« Obwohl er es nicht aussprach, spürte Henri deutlich Neirons Verwirrtheit.

»Herr?«, forderte der Fremde mit einem Mal Henris Aufmerksamkeit.

»Erkläre ich dir später«, raunte er Neiron zu und wandte er sich dem Unbekannten zu. »Ja?«

»Darf ich Euch vielleicht trockene Kleidung bringen? Eure missliche Lage bricht mir schier das Herz. Niemand sollte Euch in solch einem Aufzug sehen müssen.«

Ein Diener! , begriff Henri endlich. Der Mann hielt ihn für jemanden, dem er zu Diensten sein musste. Neiron sei Dank. »Sehr gern!«

»Wehe, du lachst«, brummte Henri Neiron an, als er hinter dem Paravent hervortrat. Der Diener hatte sie in eines der zahllosen Nebengebäude des Schlosses gebracht und dort in einen mollig warmen Raum geführt, wo Henri sich in aller Ruhe umziehen konnte. Henri wusste kaum, worüber er mehr staunen sollte: die opulent eingerichteten Zimmer und Gänge, die vor Prunk und Luxus nur so strotzten, oder eher darüber, dass niemand, dem sie begegneten, auch nur im Geringsten Anstoß an Neirons Anwesenheit nahm. Vielmehr schienen die gigantischen Türen und Säle sogar extra für die gewaltigen Ausmaße der geflügelten Wesen ausgelegt zu sein. Jeder Mensch, dem sie begegneten, erwies sowohl Neiron als auch Henri stets Respekt. Köpfe wurden gesenkt, Hüte gezogen, Verbeugungen gemacht. Henri strich über die Kleidung, die ihm der Diener herausgesucht hatte. Die edlen Stoffe fühlten sich fremd auf seiner Haut an. Man hatte ihm ein schneeweißes Leinenhemd überreicht, dazu eine Weste aus gold- und silberdurchwirktem Tuch. Sein neuer Rock bestand aus schwarz-goldener Seide. Am ungewohntesten waren jedoch seine Beinkleider. Trug er sonst gewöhnliche, gerade geschnittene Hosen, die bis zu den Füßen gingen, besaß er nun erstmals eine schwarze Kniehose und weiße Kniestrümpfe. Die schmalen Schuhe, in die er seine Füße gezwängt hatte, waren mit silbernen Schnallen verziert. »Na, was sagst du?« Henri lüftete seinen schwarzen Dreispitz, den er sich keck auf die Perücke gesetzt hatte.

»Ich will besser schweigen, um dich nicht zu beleidigen.« Neiron ließ sein Steingrinsen aufblitzen.

»Soll ich Eure Kostümierung entsorgen, Herr?« Mit gerümpfter Nase hielt der Diener Henri seine alten Kleider entgegen.

Der war schon im Begriff, Nein zu sagen, doch dann erinnerte er sich der Rolle, in die ihn der Bedienstete geradezu geschoben hatte. Die Idee mit der angeblichen Kostümierung ist genial. Jeder weiß doch, wie sehr der König Kostümfeste liebt. Ich werde so lange ein Adliger bleiben, bis Neiron von hier fortfliegen kann. »Selbstverständlich. Ich bin dieses Scherzes längst überdrüssig«, parlierte Henri.

»Wie schön. Ihr könnt jetzt zu den anderen gehen, wenn es Euch beliebt.« Der Diener deutete eine Verbeugung an.

»Die anderen ...« Henri hatte kurz den Faden verloren, weil er einen selbigen auf seiner neuen Weste betrachtet hatte. »Ach, die Generalständeversammlung meint Ihr.«

Der Mann nickte erhaben.

»Könntet Ihr mir wohl verraten, wo genau ich die Abgeordneten finde?«, setzte Henri kleinlaut nach.

»Natürlich.« Der Diener vollführte eine kaum sichtbare Handbewegung und schon kam hinter einem Vorhang ein Junge von vielleicht zwölf Jahren zum Vorschein. Wortlos verneigte er sich vor Henri und Neiron. »Bring die Herrschaften zum Cabinet du Roi. Eile dich!«

Der Junge lief augenblicklich los.

»Danke für die Kleider«, rief Henri und rannte ihm hinterher.

»Du hast es aber eilig«, keuchte er dem Burschen ins Ohr.

»Entschuldigt, aber der König wird nicht warten«, murmelte der Junge mit rotem Kopf.

»Der König ...« Henri sah an sich herunter. Gut, dass ich mich umgezogen habe. Ich werde vor den König treten.

Sie durchquerten Gänge und Säle, die in ihrer Pracht beinahe unbeschreiblich waren. Überall goldener Stuck, dicke Teppiche, seidene Tapeten, Spiegel und Ölgemälde in verschnörkelten Rahmen. Dennoch empfand Henri den Luxus irgendwann als gleichförmig. Für ihn unterschied sich kein Zimmer vom anderen.

»Da wären wir«, schnaufte der Junge schließlich. Er hatte ihn und Neiron in einen großen Saal gebracht, der voller murmelnder Menschen war.

Zu Henris Verwunderung trug ein Teil von ihnen exakt dieselbe Kleidung wie er.

»Dort entlang«, wies ihm der Diener den Weg. »Ich darf Euch nur bis hierher begleiten. Hinter dieser Tür befindet sich die kleine Königswohnung, in der Euch Seine Majestät empfangen wird.«

»N-n-natürlich«, stammelte Henri. »Habt vielen Dank!« Unter diesen Leuten ist jetzt unser Platz. Henri schlug das Herz bis zum Hals. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Das lief hier alles so gar nicht wie von ihm geplant. Mit zitternden Knien reihte er sich in die Gruppe schwarz-golden gekleideter Adliger ein. Zahlreiche Gargoyles lagen zu Füßen der hochwohlgeborenen Männer. Für sie gelten die gleichen Regeln wie für mich. Keiner von ihnen kann sich weit von seinem Wasserspeier entfernen. Überall sah er die Male der Verbindungen: steingraue Hände. Anders als außerhalb der schützenden Palastmauern, trug hier niemand Handschuhe, um die Kennzeichnung zu verbergen. Vielmehr kam es Henri vor, als würde man sie mit Stolz präsentieren.

Neiron legte sich wie selbstverständlich auf Henris Füße und schloss die Augen. Der Gargoyle hatte die Schwingen angelegt, sodass von seiner Verletzung nichts zu bemerken war.

Tut gut, das hier nicht allein durchstehen zu müssen. Merci , bedankte sich Henri. Langsam legte sich seine Aufregung, da niemand auch nur die geringste Notiz von ihrer Anwesenheit nahm. Wie ein Teil einer gleichförmigen Masse stand Henri mit Neiron inmitten der adligen Menschenmenge und betrachtete erstaunt das Geschehen. Auch die anderen Stände grenzten sich durch ihre Kleidung ab. Die Vertreter der Kirche waren in auffälliges Purpur gekleidet, wohingegen die gewählten Abgeordneten des dritten Standes allesamt Schwarz trugen.

»Ganz schön viel los hier, oder, mein junger Freund?«, begrüßte ihn ein untersetzter Adliger, dessen Gesicht von Pockennarben übersät war. Neben ihm stand ein Gargoyle, der etwa einen Kopf größer war als Neiron. Merkwürdigerweise konnte Henri an den Händen des Mannes keine Spur des Mals entdecken. Der Wasserspeier gehört aber eindeutig zu ihm . Die beiden Steinwesen ignorierten einander oder kommunizierten auf eine Weise, die Henri nicht nachvollziehen konnte. Ich habe noch so viel über sie zu lernen. »Ja, ganz schön viel los«, plapperte er die Floskel des Mannes nach, um nicht versehentlich etwas Falsches zu sagen.

»1165 Abgeordnete«, sprach der Adlige weiter und vollführte eine ausladende Geste. »Gewählt!« Er betonte das Wort besonders. »Knapp sechshundert davon dem einfachen Volke zugehörig.« Er lachte. »Nun ja, ›einfaches Volk‹ trifft es nicht so ganz. Ihr werdet hier keine Bauern oder Handwerker finden. Die hier anwesenden Vertreter des niedrigsten Standes verfügen alle über eine ausgesprochen hohe Bildung und teilweise über ein Vermögen, das viele von hoher Geburt neidisch werden lässt. Anwälte, Ärzte und reiche Geschäftsleute haben sich als Abgeordnete aufstellen und wählen lassen. Natürlich.« Er zuckte mit den Schultern. »Welcher arme Steinmetz hätte schon das Geld, wochenlang nicht zu arbeiten?«

Weiß er etwa, wer ich bin? Henri schoss der Schweiß aus allen Poren, während ihn ein Kälteschauer überlief. Unwillkürlich wanderte seine graue Hand zu Neirons Kopf. Der Gargoyle hatte aufmerksam die Ohren aufgestellt und teilte offenbar seine Aufregung.

Der Fremde bekam von alldem nichts mit und redete einfach weiter. »Wohingegen wir Hochwohlgeborenen und die heilige Geistlichkeit jeweils nur auf dreihundert Köpfe kommen. Es interessiert mich brennend, was sich Seine Majestät dabei gedacht haben mag. Euch nicht auch?«

Ein Zufall. Nichts als ein Zufall , beruhigte sich Henri selbst und überhörte die Frage des Unbekannten. Er hätte auch einen Bäcker oder Schuster erwähnen können.

Die durchdringende Stimme des Herolds erklang: »Seine Majestät ist bereit, den ersten Stand zu empfangen.«

Die purpurne Gruppe der kirchlichen Vertreter setzte sich in Bewegung. Offensichtlich stand dem Klerus das Recht zu, dem König als Erstes aufzuwarten. Nachdem sämtliche Geistlichen die Tür durchschritten hatten, wurde sie von zwei in rotblaue Uniformen gekleideten Soldaten der Schweizergarde verschlossen.

»Die Pfaffen dürfen ihn hinter verriegelten Türen treffen. Uns wird Louis bei offenen Türen empfangen. So verlangt es angeblich die Tradition, obwohl sich da niemand so sicher ist, da das ganze Trara ja mehr als hundertfünfzig Jahre nicht stattgefunden hat.« Der Adlige seufzte. »Aber man muss die Stände ja unterscheiden können. Dabei sind gerade unter den Dienern unserer heiligen Kirche besonders viele einfache Landpfarrer und Mönche. Kaum ein hoher Kirchenvertreter hatte Lust, sich mit weltlichen Nebensächlichkeiten wie Staatsbankrott oder der Höhe der Steuern zu befassen.« Er kicherte gehässig. »Wer kann ihnen das schon verdenken?«

Henri nickte staunend. Er hatte keine Ahnung, was er dazu sagen sollte. Was war dies nur für eine wunderliche Welt? Hoch oben über der Stadt auf einem wackligen Holzgerüst und mit seinem Knüpfel bewaffnet fühlte er sich deutlich trittsicherer als auf dem feinen Parkett des Palasts.

»Aber wie unhöflich von mir, da rede ich die ganze Zeit auf Euch ein und habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Der Adlige lüftete theatralisch seinen Federhut und sagte mit einer kurzen Verbeugung: »Mein Name ist Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau. Und mit wem habe ich die Ehre, wenn ich fragen darf?«

Bevor Henri in die Bredouille kam, auf diese verfängliche Frage antworten zu müssen, wurden die Türen zu den Privatgemächern des Königs erneut geöffnet. Die Kirchenvertreter kamen murmelnd zurück in den Saal. Für einen Moment durchmischten sich alle drei Stände. Henri nutzte das Durcheinander, um sich von dem aufdringlichen Mirabeau abzusetzen. Der Mann stellte ihm entschieden zu viele Fragen.

»Bisher hat er nur eine gestellt, weil du dich ja zu ihm gesellt« , frotzelte Neiron, trottete aber brav hinter Henri her.

»Seine Majestät ist jetzt bereit, den zweiten Stand zu empfangen«, dröhnte der Herold.

Gespannte Aufregung legte sich über die Gruppe der Adligen. Die Gespräche verstummten. Gleich einem schwarz-goldenen Riesenwurm setzten sich die Vertreter des zweiten Standes in Bewegung. Henri passierte die breiten Türen zu den privaten Gemächern des Königs bewusst als einer der Letzten, um Mirabeau zu entgehen. Die vielen Gargoyles schritten als lautlose Begleiter über die edlen Holzböden des Cabinet du Roi. Ihre leuchtenden Augen wurden von den zahlreichen Spiegeln reflektiert, die an den weißroten, mit goldenem Stuck verzierten Wänden hingen. Die Gruppe drängte in ein kleines Zimmer, in dem ein goldverzierter Schreibtisch mit aufwendigen Intarsien stand.

Es war unangenehm eng und die Luft wurde schneidend dick. Henri begann unter den ungewohnt vielen Schichten Kleidung zu schwitzen. Und nun?

Als hätte der Herold seine Gedanken gelesen, schmetterte er: »Seine Majestät, Louis XVI., König von Frankreich und Navarra, Kofürst von Andorra.«

Alle beugten den Kopf.

In diesem Moment erhaschte Henri einen Blick auf einen kleinen, rotwangigen Mann, der ebenso in Schwarzgold gekleidet war wie er selbst und all die anderen Adligen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass er eine hellblaue Schärpe über der Kleidung trug. Das Gesicht des Königs kam Henri auf unbestimmte Art und Weise sowohl bekannt als auch völlig fremd vor. Wie jung er ist , wunderte er sich. Seit nunmehr fünfzehn Jahren saß Louis XVI. bereits auf dem Bourbonenthron und war doch nicht älter als Mitte dreißig. Henri konnte sich an keinen anderen König erinnern. Er war von dem Moment ergriffen. Ich stehe vor dem König.

»Meine sehr geehrten Herren!« Die Stimme von Louis XVI. war erstaunlich hoch und leise. Henri musste sich konzentrieren, um jedes Wort zu verstehen. »Danke, dass Ihr gekommen seid, um gemeinsam mit den beiden anderen Ständen die wichtigsten Belange des Königreichs zu besprechen. Ihr erweist damit Frankreich und Eurem König einen großen Dienst.«

»Vive le roi! Vive la France«, antwortete ihm die Menge wie aus einem Mund.

Warum hat dieser kleine Mann nur so viel Macht?

Und schon erhielt er eine Antwort auf diese Frage: Neben dem König positionierten sich sechs Gargoyles.

Henri musste sich zwingen, den Mund zu schließen. Die Wasserspeier, die Louis XVI. flankierten, waren nicht nur alle deutlich größer als Neiron, sie sahen auch vollkommen anders aus. Pechschwarz und glänzend. Hätte Henri raten müssen, hätte er darauf getippt, dass diese Kreaturen aus Onyx bestanden. Neirons Schwanz schlug immer wieder angstvoll an sein Bein. Henri tätschelte ihn beruhigend. Was sind das für Wesen?

»Einen König kennt meinesgleichen nicht, doch hätten wir einen, dann wären es die Six.«

Die Sechs , ließ sich Henri die Worte seines geflügelten Begleiters durch den Kopf gehen. So was wie die Könige der Gargoyles. Er bekam eine Gänsehaut. Diese Wesen machten ihm allein durch ihre Anwesenheit Angst. Er versuchte jeden Gedanken daran, wer er war und was passiert war, zu verdrängen, was natürlich dazu führte, dass er nur noch mehr daran dachte. Hoffentlich können sie nicht in meinen Geist eindringen.

»Aufwachen, junger Freund«, holte eine freundliche Stimme Henri aus seinen Gedanken.

»Hä? Was?«

Das lächelnde Gesicht Mirabeaus strahlte ihm entgegen. »Die Audienz ist beendet. Zeit zu gehen. Ich freue mich übrigens, Euch wiedergefunden zu haben.«

»N-n-natürlich.« Henri machte sich bereit zu gehen. Er warf einen letzten Blick auf den König, der einem seiner Gargoyles die Hand auf den Rücken gelegt hatte und entrückt über die ihm untergebene Menge ins Nirgendwo sah. Einer der Wasserspeier schien Henris Blick jedoch zu spüren und erwiderte ihn stechend. Henri verschlug es den Atem, als er direkt in die Augen des Wesens blickte: Sie waren blutrot.

In dem großen Vorsaal trafen sie wieder auf die Vertreter des ersten und zweiten Standes.

»Wie geht es jetzt weiter?«, raunte Henri Mirabeau zu. Wenn er den Mann schon nicht loswurde, konnte er sich mit ihm genauso gut auch unterhalten und ein wenig mehr darüber herausfinden, wo er hineingestolpert war.

»Wie schon, auch die Angehörigen des dritten Stands erweisen dem König die Ehre.« Mirabeau saugte an seinen Zähnen. »Obwohl ich mir nicht so sicher bin, dass sie das ebenfalls als Ehre empfinden werden.«

Beinahe im selben Moment tauchte der König samt seinen Gargoyles im Saal auf und nahm auf einem purpurfarben gepolsterten, goldumrahmten Thron Platz.

Wieder kündigte der Herold seine Anwesenheit an. Doch das folgende Prozedere unterschied sich gänzlich von dem, das Henri gerade erlebt hatte. Die schwarz gekleideten Vertreter des dritten Standes mussten einzeln am König vorbeidefilieren. Auf Höhe des Throns hatten die Männer demütig das Knie zu beugen.

Henri betrachtete die Mienen der bürgerlichen Abgeordneten. Die meisten kamen mit grimmigem Gesichtsausdruck dieser Unterwerfungsgeste nach. Echte Ehrerbietung erkannte er kaum.

»Die Generalständeversammlung war niemals als Zusammenkunft unter Gleichen vorgesehen. Der König und die anderen Stände wollen dem dritten Stand vielmehr seinen ihm zustehenden Platz verdeutlichen und für alle Zeiten zementieren«, flüsterte ihm Mirabeau verschwörerisch ins Ohr.

Henri kam aus dem Staunen nicht heraus. Wie konnte es sein, dass ein Adliger sich dauernd so lästerlich über den König und seinen Hof äußerte?

Triumphierende Trompetenstöße erklangen.

»Und weiter geht das Theater«, murmelte Mirabeau.

Riesige Flügeltüren zum Hof wurden geöffnet. Henri erblickte in Samtgewänder aus Purpur gekleidete Herolde auf weißen Pferden, die in silberne Trompeten bliesen. Zwischen ihnen erkannte Henri Soldaten der berühmten Schweizergarde, die in altertümliche und aufgeplusterte Uniformen gekleidet waren, die wohl an die große Vergangenheit des Hauses Bourbon erinnern sollten.

In einer Prozession verließen die Abgeordneten das Schloss. »Der dritte Stand muss vorausgehen, damit zwischen ihm und dem König, der den Festumzug beschließt, die größtmögliche Entfernung beibehalten wird«, erklärte Mirabeau Henri die Zeremonie. Eine weitere Demütigung der einfachen Abgeordneten. Anschließend folgten die anderen Ständevertreter.

Henri drehte sich um und sah, dass der König in einen Purpurmantel gehüllt einen herrlichen Schimmel bestieg, um seinen Untergebenen standesgemäß zu folgen. Die Prozession hielt gemessenen Schrittes und weiter streng nach Ständen getrennt auf die Hofkapelle zu. Henris Herz schlug ein wenig schneller, als er die Saint-Louis-Kirche betrachtete. Wie gern hätte er jetzt einfach einen Stein bearbeitet oder mit Perceval über den Geiz der Kirchenoberen disputiert. Dieses Leben ist ja wohl vorbei.

Neiron holte Henri aus diesen trüben Gedanken. Der Gargoyle stupste ihn mit der Nase an.

Nicht so schlimm. Ich habe jetzt ja einen lebenden Stein, um den ich mich kümmern kann , übte Henri sich in Galgenhumor und streichelte den Wasserspeier.

»Ich kümmere mich um dich und nicht umgekehrt, ich dachte, das hättest du längst bemerkt.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Henri.

Mirabeau bemerkte es und lächelte väterlich. »Glaubt mir, es wird besser, mit ihnen zu reden. Mein Archimbald und ich, wir verstehen uns inzwischen sogar ohne Worte.« Zärtlich tätschelte der Adlige seinem neben ihm schreitenden Gargoyle die Flanke.

»Ja«, gab Henri zu, »manchmal verwirrt Neiron mich, aber vielleicht sollte man so manches, was er sagt, auch einfach ignorieren.« Er kicherte.

Mirabeau erhob tadelnd seinen Zeigefinger. »Davon würde ich in jedem Fall abraten. Ein Gargoyle spricht nie ohne Grund. Seine Worte sind immer bedeutsam.«

Bevor Henri darüber nachdenken konnte, hatten sie den Eingang der Schlosskirche erreicht. Bewaffnete Schweizergardisten flankierten das Portal.

»Euren Namen bitte, edler Herr«, fragte einer der Wächter, der an seinem scharlachroten Rock mit blauen Aufschlägen als Offizier zu erkennen war, soeben den hochgeschossenen Adligen vor Henri.

Eine Woge der Übelkeit überkam Henri. Sie kontrollieren uns, bevor wir hineindürfen. Hektisch drehte er sich auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser bedrohlichen Situation um. An Flucht war nicht zu denken. Er war gefangen zwischen Schweizergardisten, Dutzenden Adligen und deren Gargoyles.

»Euren Namen bitte, edler Herr«, wandte der Soldat sich nun direkt an ihn.

Ich bin Henri Fournier. Steinmetzgeselle aus Notre-Dame , wäre die Wahrheit gewesen – und damit seines und Neirons Todesurteil.