2. Mai 1789, die Seine zwischen Rouen und Paris
Ein durchdringender Geruch nach altem Fisch und Algen zog in Catias Nase. Endlich! Sie hatte gefühlte Ewigkeiten gebraucht, um im Gassengewirr von Rouen den riesigen Hafen zu finden. Inzwischen hatte die Sonne beinahe ihren Tiefststand erreicht und tauchte die Welt in ein verwunschenes Violett. Feuchte Luft stieg vom Fluss auf, die sie frösteln ließ. Möwen schrien und hielten in der Takelage der Kähne Ausschau nach Schlafplätzen. Die Stadt war ein bedeutendes Zentrum des Überseehandels mit den Kolonien – besonders Brasilien –, obwohl die besten Jahre dieses Geschäfts längst hinter Frankreich und damit auch Rouen lagen. Dennoch waren etwa zwei Dutzend Frachtschiffe an den Kaianlagen vertäut. Schlafenden Riesen gleich, dümpelten sie im seichten Wasser der Seine.
Während anderswo in Rouen die Lichter hinter den Fenstern angingen und man sich nach einem langen Tagwerk auf die wohlverdiente Ruhe vorbereitete, war hier die Arbeit längst nicht zu Ende. Fässer wurden von Bord gerollt und im Gegenzug dafür Kisten im Bug verstaut. Netze im Schein von Öllampen geflickt. Decks unter dem Absingen zotiger Matrosenlieder geschrubbt. Unschlüssig schaute Catia sich um. Welches der Schiffe sollte sie auswählen? Ich will nicht versehentlich eines Morgens von einem Papagei geweckt werden, weil der Kahn über den Atlantik geschippert ist.
Eine Gruppe offensichtlich Betrunkener wankte an ihr vorbei. Die Männer hatten einander untergehakt und hielten in den freien Händen halb volle Flaschen.
Die werden sich morgen früh sicher nicht mehr an mich erinnern. Catia nahm all ihren Mut zusammen und sprach sie an. »Guten Abend, könnten die Herren mir vielleicht mitteilen, welches der Schiffe demnächst nach Paris fahren wird?«
Abrupt blieben die Männer stehen. Der größte von ihnen, ein schwarzhaariger Hüne, dessen eigentlich schönes Gesicht von einer wulstigen Narbe entstellt wurde, blickte sich affektiert über die Schulter. »Herren, welche Herren?«
Seine Kameraden fielen in sein heiseres Lachen ein.
Du bist nicht länger die Tochter eines Chevaliers, vergiss das nicht , schalt sich Catia. Hier verstand man nur die Sprache der Gosse. »Könnt ihr Blödmänner mir sagen, welcher der Pötte nach Paris schippert, oder seid ihr selbst dafür zu dumm?«, probierte sie es in dem Idiom, das sie von Bastien und dessen Freunden gelernt hatte.
Dem Schwarzhaarigen schien das zu gefallen. Er grinste frech und zwinkerte ihr zu. »Du hast ganz schön Feuer im Hintern, Mädchen, das muss man dir lassen.«
»Schade, dass sie so hässlich ist«, lallte sein Begleiter und nahm einen langen Schluck aus seiner Flasche. Rum, dem scharfen Geruch nach zu urteilen. »Die kann man sich nicht mal schön saufen.«
Im ersten Moment traf Catia dieser Vorwurf, doch dann begriff sie, dass ihr momentanes Aussehen der beste Schutzschild war, den sie sich nur wünschen konnte. Sie hatte vor, sich an Bord eines nur von Männern bevölkerten Schiffs zu schleichen.
»Mir ist übel«, klagte der dritte Matrose plötzlich. Kaum ausgesprochen, übergab er sich auch schon. Mit einem unappetitlichen Klatschen breitete sich eine gelbliche Lache auf dem Pflaster aus, in der noch die Reste des Abendessens jenes wenig trinkfesten Matrosen schwammen.
»So hässlich ist das Mädchen nun auch wieder nicht«, frotzelte der Schwarzhaarige lachend und klopfte seinem Begleiter mitfühlend auf die Schulter. An Catia gewandt sagte er: »Die Terrine dahinten will bei Sonnenaufgang den Fluss hoch nach Paris. Versuch da dein Glück. Der Schiffer ist nicht sonderlich wählerisch, so munkelt man.« Er zwinkerte ihr zu, tippte sich an seinen nicht vorhandenen Hut und kümmerte sich um seinen Freund, den es erneut überkam.
Catia machte, dass sie von den Betrunkenen wegkam. Im schummerigen Licht des vergehenden Tages suchte sie nach dem Schiff. Angestrengt las sie die Namen an den Rümpfen der flachen Frachtkähne und großen Überseesegler, doch nirgendwo konnte sie den Schriftzug Terrine entdecken. »Diese Conards haben mir einen Bären aufgebunden«, fluchte sie ungeniert und trat wütend einen Stein in die Seine. Ein abgehacktes Grunzen ließ sie erschrocken innehalten. Sind die Kerle mir etwa gefolgt? Panisch drehte sie sich um, konnte aber niemanden in ihrer Nähe entdecken.
Wieder das Grunzen.
Das kommt vom Wasser. Vorsichtig blickte sie über die Kaimauer und entdeckte drei Schritt unter sich einen kleinen Kahn. Der offene Einmaster war voller Kisten, deren Formen sich unter einer grauen Plane abzeichneten. Ein Mann schlief schnarchend neben dem Ruder. Um ihn herum lagen etliche leere Flaschen. Das mit dem saufenden Seemann ist offensichtlich doch nicht nur ein Klischee. Catias Blick huschte zu dem ungelenk an den Bug gepinselten Namen dieses Gefährts. Er bestätigte ihre Befürchtung: Terrine . »Wohl eher ein Schüsselchen«, murmelte sie. Dennoch ihre beste Gelegenheit, um so schnell wie möglich nach Paris und damit zu Mirabeau zu kommen. Je länger sie wartete, desto schwerer würde es werden, die Mörder ihres Vaters und Magalis zu überführen. Darüber hinaus standen vor den großen Frachtschiffen überall Wachen.
Du bist nicht länger Papas kleine Prinzessin. Catia holte tief Luft und stieß sie prustend wieder aus. Dass der Kerl schläft, ist meine beste Chance. Sie würde die Nacht auf dem Schiff verbringen müssen. Alles andere wäre zu gefährlich. Niemand konnte vorhersagen, wann der betrunkene Schiffer erwachte. »Für euch, Vater und Magali!« Zaghaft setzte sie einen Fuß auf die Strickleiter, die an der Kaimauer herunter zur Terrine führte. Die Leiter schwankte bedrohlich hin und her, als Catia ihre Füße daraufsetzte. Mit viel Pech falle ich dem besoffenen Schiffskapitän direkt in die Arme. Dennoch schaffte sie es. So leise wie möglich ließ sie sich an Bord des Kahns gleiten, dabei immer die Augen auf den schnarchenden Schiffsführer gerichtet.
Der Mann blieb gefangen im Reich der Träume. Einzig ein schnarrender Furz entwich ihm.
Catia schlüpfte unter die Plane, machte sich klein und robbte zu einer freien Stelle zwischen zwei Kisten. Hier findet mich niemand , war sie sich sicher. Sie würde die ganze Nacht wach bleiben, um auf etwaige Gefahren reagieren zu können. »Die ganze Nacht«, murmelte sie und gähnte. »Die ganze Nacht ...« Im selben Moment fielen ihr die Augen zu.
Ein stetes Prasseln ließ Catia hochschrecken. Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, wo sie sich befand. Ich bin eingeschlafen , ärgerte sie sich. Vorsichtig versuchte sie, sich zu strecken. Ein Ding der Unmöglichkeit. Die Lücke, die sie sich als Lager auserkoren hatte, war zu eng. Jeder Knochen im Körper tat ihr weh. Schmerzend verlangten ihre Gelenke nach Bewegung. Sie versuchte, sich auf die andere Seite zu drehen, um ihre Schulter zu entlasten. Ganz vorsichtig ... Ein Ächzen ließ sie innehalten. Es kam von den Schiffsplanken. Wir fahren bereits.
Vorsichtig lugte sie durch ein Loch in der Plane nach draußen. Regen schlug auf das sie schützende Verdeck ein. Unscharf erkannte sie einen träge dahinziehenden, grünbraunen Uferstreifen. Auf geht’s nach Paris. Das erste Mal seit den schrecklichen Ereignissen überkam sie so etwas wie Hoffnung. Das Gefühl, ihrer Rache näher zu kommen, beflügelte Catia geradezu. Sie hatte keine Ahnung, wie lange man mit dem Schiff von Rouen in die Hauptstadt brauchte, aber sie war bereit, jede Entbehrung auf sich zu nehmen. Leider sah ihr knurrender Magen dies gänzlich anders. Bist du wohl still! , schimpfte sie. Ihr Magen gab einstweilen Ruhe, dafür überkam sie brennender Durst. Wie lange habe ich nur geschlafen? Es fühlte sich wie eine Folter an, dass unter ihr Wasser gurgelte und über ihr Regen herabfiel, sie selbst aber keine Möglichkeit hatte zu trinken. Sei stark, Catia!
»Quand un bateau rentre en carène.
Comme çui-là qu’ vous voyez là-bas ... «, dröhnte plötzlich eine erstaunlich melodische Stimme an ihr Ohr.
Les Calfats , erkannte Catia das berühmte Seemannslied und summte es im Geiste mit. Das half ihr, den Gedanken an Wasser zu verdrängen. Frisches, kühles Wasser ... Ein Ploppen und ein darauffolgendes »Ahh!« quälten Catia nur noch mehr. Der Schiffer musste eine Flasche entkorkt haben und sich ein Schlückchen genehmigen. Ich schaffe das! Für dich, Papa. Für dich, Magali.
»C’est ma bordée, mon équipage,
C’est tous calfats, c’est tous calfats!«
Mit dem Gesang ihres unfreiwilligen Helfers im Ohr schlief sie wieder ein.
Als sie wieder erwachte, war das Prasseln über Catias Kopf verstummt. Der Regen hatte aufgehört. Catia Hals fühlte sich inzwischen an, als wäre er mit Schmirgelpapier ausgekleidet. Ihre spröden Lippen schmerzten bei jeder Bewegung. Sie wagte kaum, ihre Spucke herunterzuschlucken, um jedes bisschen Flüssigkeit aufzusparen.
Ein plötzlicher Ruck ging durch das Boot.
»Bordel de merde!«, fluchte der Schiffer.
Am liebsten hätte Catia das Gleiche geschrien. Irgendetwas zerrte an der sie verbergenden Plane. Es wurde heller. Das gewachste Segeltuch hatte sich von den ersten Kisten gelöst. Licht strömte herein wie das Gift einer Schlange in eine Wunde. Immer mehr der Transportbehältnisse wurden aufgedeckt. Catia versuchte sich zwischen zwei hinter ihr stehende Kisten zu zwängen, aber es war aussichtslos: Mit einem leisen Rauschen verschwand die Plane über ihrem Kopf. Knuddelige Schäfchenwolken an einem blassblauen Himmel ersetzten das graue Tuch.
Der Schiffer hatte sie noch nicht bemerkt. Mit aller Kraft zerrte er an der Plane, die sich in einem über den Fluss ragenden Ast verfangen hatte. Ein aussichtsloser Kampf. Der Kahn, immer noch unter vollem Segel, fuhr einfach weiter und riss ihm das Tuch aus den Händen. Gierig griff der dunkelgraue Fluss danach und verschlang es. »Verdammter Mist«, jaulte der Schiffer.
Catia konnte nur wenig Mitleid für den Mann aufbringen. Vermutlich hatte er im Suff das Steuerruder losgelassen und so war es zu diesem Unglück gekommen. Er hat nur seine Plane verloren. Ich hingegen ... Sie beschloss, in die Offensive zu gehen, mit der einzigen Möglichkeit, die ihr noch blieb – lügen. »Ich werde Euch in Paris den Verlust ersetzen, wenn Ihr gestattet.«
Mit ungläubig aufgerissenen Augen stierte der Flussschiffer sie an.
Catia stellte sich so aufrecht hin, wie es ihr möglich war. Mit erhobenem Kopf rief sie bewusst laut: »Mein Name ist Catia Freiin d’Argenton, ich bin die Tochter des Chevaliers Rousel d’Argenton. Diebe haben mich in Rouen überfallen. Ich habe während der Attacke das Bewusstsein verloren und bin eben erst auf Eurem prachtvollen Schiff aufgewacht. Ein glücklicher Zufall hat mich in Eure rettenden Arme gebracht. Ich ...« Sie musste die Tränen, die aus ihren Augen quollen, gar nicht erzwingen. In den letzten Tagen hatte sie so viel Schreckliches erlebt, dass sie bis an ihr Ende jederzeit in der Lage sein würde zu weinen. Wann auch immer dieses Ende sein wird. Krampfhaft hielt sie sich an einer der mit Holzkohle beschrifteten Kisten fest.
»Ich ... Ihr ... ähm.« Dem Flussschiffer hatte es die Sprache verschlagen.
Sie schluchzte herzzerreißend.
»Weint doch nicht, gutes Kind.« Er reichte Catia ein fleckiges Tuch.
Sie war sich nicht zu fein, den vor Schmutz stehenden Lappen zu nehmen und die Tränen in ihrem Gesicht damit zu trocknen. »Habt Dank, guter Mann.«
»Ich fahre nach Paris, kann Euch aber auch in Les Andelys von Bord lassen, wenn Ihr wünscht. Das ist der nächste Hafen auf der Strecke.«
»Bitte nicht! Ich fürchte, dass die Strauchdiebe meine Spur auch bis dorthin verfolgen werden. Wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich Euch gern bis nach Paris begleiten. Dort wird es mir auch möglich sein, für meine Fahrt angemessen zu bezahlen. Meine Familie hat dort ein Anwesen und würde sich sehr erkenntlich zeigen, wenn Ihr mir diesen kleinen Gefallen erweist. Ich werde Euch auch nicht im Weg sein. Versprochen.«
»Tja …« Skeptisch sah sie der Schiffer an und zwirbelte seinen angegrauten ungepflegten Bart. »Ich verlange ... ähm ... fünf Livres, wenn ich Euch den ganzen Weg mitnehmen soll. Immerhin nehme ich ein beträchtliches Risiko auf mich. Wenn die Räuber Euch auf meinem Kahn entdecken, ergeht es mir vermutlich ebenfalls schlecht.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ein Held bin ich leider nicht, ma bonne dame.«
Den brauche ich auch gar nicht, nur jemanden, der dumm genug ist, eine sogenannte werte Dame umsonst nach Paris zu bringen. Fünf Silberstücke waren eine horrende Summe dafür, dass der Mann ohnehin nach Paris fuhr, zumal es ein Ding der Unmöglichkeit war, dass die vorgeblichen Diebe ein fahrendes Schiff stellen konnten. Gieriger kleiner Bastard. Catia würde ihn genau damit übertölpeln. »Fünf Livres? Das kommt auf gar keinen Fall infrage!« Bestimmt wedelte sie mit ihrem dreckigen Zeigefinger.
Augenblicklich lief der Schiffer vor Zorn rot an. Seine hervorquellenden Lippen zitterten wütend. »Wenn das so ist, dann kannst du dich sofort verp...«
»Ihr seid viel zu bescheiden«, übertönte Catia seine Tirade. »Ich werde meinem Vater sagen, dass er Euch zehn Livres zahlen soll, immerhin seid Ihr mein Retter und Schutzengel in höchster Not.« Gespielt bescheiden schlug sie die Augen nieder. »Darauf bestehe ich!«
Ihr Plan ging auf. Ein Lächeln ging über das Gesicht des Schiffers. »Wer bin ich, das Angebot einer edlen Dame abzuschlagen. Abgemacht!«
Catia wollte schon mit ihm auf das erfolgreiche Geschäft einschlagen, aber sie erinnerte sich rechtzeitig ihrer Rolle als überhebliche Adlige. Ein kurzes Nicken musste dem einfachen Schiffer genügen.
»Also gut ...«
»Freiin«, half sie ihm mit dem ihr zustehenden Titel auf die Sprünge.
»Freiin!« Er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, als würde er beim Sprechen dessen Bedeutung ergründen – oder dessen Wert. »Seid Ihr Euch sicher, dass ich nicht den nächsten Hafen ansteuern soll, damit Ihr Euch wenigstens waschen und standesgemäß kleiden könnt?«
»Nein, das will nicht. Ich hatte genau dies doch auch schon zum Ausdruck gebracht, Monsieur ...« Sie blickte ihn fragend an.
Demütig zog er seinen speckigen blauen Schifferhut vom Kopf. Schwarzgraue Haare quollen darunter hervor. »Matteo Dubois. Matteo, wenn es Euch beliebt, Freiin.«
»Nun wohl, Matteo, ich will mit dir«, sie wechselte in die Anrede, die einem Angehörigen des dritten Standes zustand, »aus zwei Gründen direkt nach Paris reisen. Erstens fürchte ich, dass die Männer, die mir aufgelauert haben und denen ich nur durch viel Glück entfliehen konnte, Kontakte in andere Häfen haben. Es handelt sich um jene Art von Räubern, die sehr gut vernetzt sind«, deutete sie eine Fehde unter Adligen an, über deren angeblich blutige und sexuelle Ausschweifungen oft im einfachen Volk getratscht wurde. »Wenn du verstehst, was ich meine.«
»Natürlich, natürlich ...«
»Außerdem möchte ich dich augenblicklich bezahlen, wenn meine Füße wieder festen Boden spüren. Ich habe nicht gern Schulden beim niederen Volk. Umständehalber ist mir das augenblicklich leider nur in Paris möglich, wenn du verstehst.«
»Natürlich, natürlich ... Wenn das so ist, dann willkommen an Bord der Terrine . Fühlt Euch wie zu Hause, Freiin.«
»Danke.« Catia musste an sich halten, um nicht vor Erleichterung laut auszupusten. »Wenn das so ist, wäre ich dankbar für einen Schluck Wasser.«
»Natürlich, natürlich ...« Er kramte in einer offenen Kiste neben dem Steuer und holte einen prallen Lederschlauch hervor. »Randvoll«, grinste er sie an. »Ich trinke lieber Wein.«
Es kostete Catia viel Kraft, Matteo das Gefäß nicht aus der Hand zu reißen. Nachdem aber die ersten Tropfen ihren Mund benetzt hatten, verlor sie ihre Contenance und schüttete das Wasser in sich hinein.
Der Schiffer grinste sie anschließend verschwörerisch an. »So geht es mir auch manchmal, wenn ich in der Nacht zuvor zu viel getrunken habe.«
Catia hatte nicht die Kraft, den Mann auf sein ungebührliches Verhalten hinzuweisen. Erschöpft ließ sie sich auf einer der vielen Kisten nieder. »Was ist da drin?«, entfuhr ihr eine Frage.
»Ich liefere geheime Zutaten für die Porzellanmanufaktur in Sèvres«, raunte er ihr verschwörerisch zu.
»Dann fährst du gar nicht bis nach Paris?«
»Jetzt schon!« Er schenkte Catia ein Grinsen, das sie an einen alten Rüden erinnerte, der es geschafft hat, ein längst vergessenes Kunststückchen zu bewerkstelligen, und anschließend auf eine Belohnung wartet.
»Merci!« Weil sie nicht wusste, was sie mit dem Mann weiter besprechen sollte, starrte sie stattdessen auf das Ufer. Dunkler Rauch stieg dort auf. Eine Baumreihe verhinderte, dass sie genauer erkennen konnte, was dort gerade den Flammen zum Opfer fiel.
»Ein weiteres Herrenhaus, denke ich mal«, schien Matteo ihre Gedanken zu lesen. »Wahrscheinlich ist es wirklich eine gute Idee von Euch, erst in Paris an Land zu gehen. Die Gegend«, er nahm einen Schluck aus einer seiner Weinflaschen, »was sag ich, das ganze Königreich ist mittlerweile gefährlich für Euresgleichen geworden. Der Pöbel erhebt sich gegen seine rechtmäßigen Herren.« Nach einem schnellen Blick auf Catia verbesserte er sich: »… und Herrinnen. Frankreich ist in Aufruhr. Viele wollen die alte Ordnung nicht mehr. Die sogenannten Aufklärer haben ihnen einen Floh ins Ohr gesetzt. Die Wahlen zur Generalständeversammlung haben diese Verrückten nur noch in ihren weltfremden Ansichten bestärkt.« Er verbeugte sich im Sitzen. »Eine Schande, wenn Ihr mich fragt. Wann hätte es das je gegeben, dass ein Volk seinen Herrscher selbst bestimmt.« Vielsagend tippte er sich an die Stirn und lenkte mit der anderen Hand die Terrine geschickt um einen im Wasser treibenden Baumstamm herum. »Mich erinnert das Ganze an die Mehlaufstände von vor einigen Jahren.« Er spuckte ungeniert ins Wasser.
»Mehlaufstände?« Fragend legte Catia ihre Stirn in Falten.
»Ja, man nannte es auch den Mehlkrieg. Das muss im Frühjahr vor ... mhh ... vierzehn Jahren gewesen sein, wenn ich mich nicht täusche. Genau wie voriges Jahr hatte es auch damals eine furchtbare Missernte gegeben. Die Vorräte gingen zu Ende und die neue Ernte war noch nicht mal ausgebracht. Dazu hatten viele Bauern im Winter ihr Saatgut gegessen, um nicht zu verhungern. Die Brotpreise haben sich innerhalb von Wochen vervielfacht und wurden für die meisten Menschen unbezahlbar. In Beaumont-sur-Oise ging es schließlich los. Die Meute forderte gerechtere Preise und stürmte in ihrem Zorn schließlich den Getreidemarkt.« Er schenkte Catia sein braunzahniges Lächeln. »Natürlich rollten dabei auch die Köpfe einiger feister Händler, die sich besonders schamlos an der Not bereichert hatten.«
Catia konnte nichts Amüsantes daran finden, dass Menschen zu Tode gekommen waren, aber sie hatte nicht vor, den Mann zu unterbrechen. Die Parallelen zur Gegenwart, die er ihr gerade aufzeigte, waren hochinteressant.
»Schnell breiteten sich die Aufstände bis in die Vororte von Paris aus. Ich bin damals schon die Strecke zwischen Rouen und Sèvres gefahren und konnte alles von meiner Terrine aus beobachten. Der König musste eingreifen, das war sogar einem einfachen Mann wie mir sonnenklar. Und das hat er auch gemacht. Hat eine ganze Armee gegen die Hungerleider in Stellung gebracht. Mehr als fünfundzwanzigtausend Soldaten, so erzählte man sich hinterher. Schnell beruhigte sich die Lage. Seitdem legt die Krone wieder den Brotpreis fest. Wucherer haben keine Chance mehr, mit dem Hunger Gewinn zu erwirtschaften. Ein Hoch auf unseren König, Louis XVI.« Er schwenkte die Weinflasche gen Himmel. »Damals blieb alles beim Alten, und das wird es diesmal auch. Ein paar Heißsporne werden ihre Köpfe verlieren, mehr passiert nicht, und das ist auch gut so, wenn Ihr mich fragt. Gott hat drei Stände vorgesehen und jedem Menschen seinen Platz zugewiesen. Es ist nicht an uns Sterblichen, an Gottes großem Plan etwas zu ändern.«
Catia kam nicht umhin, den Mann um sein simples Denken zu beneiden. Doch war es wirklich so einfach? Sie musste an den Tod ihres Vaters und die Ermordung Magalis denken. Beide wären noch am Leben, wenn sich die Mörder an den ihnen zugewiesenen Platz gehalten hätten. Der dritte Stand ist Tieren ähnlicher als Menschen. Die Welt würde ins Chaos rutschen, wenn man diesen Menschen mehr Macht in die Hände gäbe. – Sind es Bestien oder macht ein System, das Bastiens unschuldigem Vater die Freiheit nimmt, die Menschen dazu? , fragte eine skeptische Stimme in Catias Kopf.
Ein schwerer Seufzer entwich ihr. Die Welt war schlicht viel zu kompliziert.
Der Schiffer deutete ihren inneren Zweikampf falsch. »Ihr müsst vollkommen erschöpft sein nach dem, was Euch zugestoßen ist. Hier!« Er hielt ihr eine Decke hin, die voller Katzenhaare war. »Sucht Euch ein Plätzchen zum Ausruhen.« Er blickte mit zusammengekniffenen Augen nach oben. »Es sollte heute nicht mehr regnen. Morgen erreichen wir Paris.«
»Ähm ...«
»Keine Sorge.« Matteo zwinkerte ihr zu. »Ich mag ein wenig zu viel trinken, aber ich bin ein guter Bootsführer. Noch nie bin ich auf Grund gelaufen oder gekentert. Ich bringe Euch sicher nach Paris. Versprochen!«
Was habe ich für eine Wahl ? Catia nickte, nahm die Decke und rollte sich zwischen zwei großen Kisten zusammen. Nach wenigen Atemzügen war sie eingeschlafen.
Ein heiseres Kichern holte Catia aus ihren Albträumen. Verwirrt blinzelte sie gegen die Umklammerung des Schlafs an. Sie blickte in das flackernde Licht einer Laterne. Wie lange habe ich geschlafen? Die Welt um sie herum war in Dunkelheit getaucht. Eine unangenehme Feuchtigkeit stieg von der gurgelnden Seine auf und ließ sie frösteln.
»Bonjour, votre altesse«, begrüßte sie Matteo spöttisch. »Wünsche, wohl geruht zu haben, Eure Hoheit.« Seine Augen glänzten im Schein einer am Heck baumelnden Stablaterne vor Trunkenheit.
Mehr als einmal hatte Catia erlebt, dass der Alkohol Menschen vollkommen veränderte. Er konnte aus Lämmern Wölfe machen und umgekehrt.
»Es lebt sich nicht schlecht auf Kosten anderer, nicht?« Mit verkniffenem Gesicht nahm er einen weiteren Schluck aus seiner Flasche. »Leer! Verfluchter Mist. Mit Euch ist das Unglück an Bord meiner armen Terrine gekommen. Erst habe ich meine Plane verloren, und dann geht mir auch noch der Wein aus.«
Das liegt nicht an mir, sondern daran, dass du ein Trinker bist , lag Catia auf der Zunge. Obwohl sie sich über das Verhalten des Schiffers ärgerte, war ihr klar, dass sie ihn nicht reizen durfte. Die Terrine blieb ihre einzige Möglichkeit, nach Paris zu kommen. Wie sie ihn dann übertölpelte, um von Bord fliehen zu können, würde sie sich überlegen, wenn es so weit war. Jetzt musste sie erstmal die Wogen glätten. »Bitte entschuldige, wenn ich etwas falsch gemacht haben sollte. Ich war noch nie auf solch einem Schiff. Mein Vater, der Chevalier«, sie betonte den Titel ausdrücklich, »hat mich bisher nur mit der Kutsche nach Paris mitgenommen.«
»Der Chevalier ...«, knurrte Matteo.
Er entsinnt sich seines Rangs und der zehn Livres , hoffte Catia.
»... Euer angeblicher Vater. Ein Mann, der seine Tochter in Lumpen herumlaufen lässt.«
»Ich habe dir doch ...«
»Du hast eine Menge Märchen erzählt«, übertönte er sie. »Das habe ich jetzt verstanden. In vino veritas, wie die alten Römer sagten.« Sehnsüchtig blicke er zu den Flaschen, die zwischen seinen Füßen hin und her rollten. Als er Catia wieder in die Augen sah, lag etwas Lauerndes in dem bisher so trägen Blick. »Aber ich bin dir nicht böse, ma petite. «
Das ließ Catia frösteln. Normalerweise würde es niemand aus dem dritten Stand wagen, eine adlige Frau als Kleine zu titulieren. Nun hatte sie allen Schutz verloren. Mit zitternden Knien stand sie auf.
»Wir alle machen manchmal schwere Zeiten durch«, redete Matteo weiter, als wäre sie gar nicht da. »Ich selbst kann davon ein Lied singen. Nicht immer ging es mir so gut wie jetzt. Herr über ein eigenes Schiff, davon träumen viele.«
»Ja, das ist sehr beeindruckend«, murmelte Catia. Ihr Herz schlug bis zum Hals.
»Aber – man ist auch sehr einsam als Schiffer. Es ist ein unstetes Leben, das keine Frau gern teilt.« Sein Blick wanderte langsam an Catias Körper herunter.
Das war ihr so unangenehm, dass sie versuchte, sich mit ihren Händen und Armen zu bedecken.
»Doch nun ist mir eine Wassernixe ins Netz gegangen. Ach, was sage ich«, er kicherte, »eher ins Netz gesprungen.« Er leckte sich über die Lippen.
»Dafür sind ich und mein Vater, der Ritter des mächtigen Saint-Louis-Ordens, außerordentlich dankbar. Meine Familie ist im In- und Exportgeschäft. Sicher wird mein Vater dich neben den zehn Livres mit vielen Aufträgen belohnen, wenn du mich sicher zu ihm zurückbringst. Tüchtige Leute wie dich kann jeder gebrauchen.«
»Ja, so könnte es sein. Oder du bist eine kleine Lügnerin, die glaubt, als blinder Passagier auf meine Kosten in die Hauptstadt reisen zu können.« Er stand ebenfalls auf und ließ das Ruder los. »Ich glaube eher an das Zweite und fordere hiermit meine Heuer.«
»Ich habe kein Geld, wie du sehr gut weißt.«
»Man kann seine Schulden auch auf andere Weise begleichen.« Benebelt vom Alkohol kam er auf Catia zugewankt. »Ich werde auch versuchen, mich wie ein Adliger zu benehmen, wenn dir das besser gefällt.« Er lachte gehässig.
Hilfesuchend blickte sich Catia um. Nichts in ihrer Nähe konnte ihr gegen den aufdringlichen Schiffer helfen. Da rollte eine der Weinflaschen zu ihr herüber. Blitzschnell ergriff Catia das Gefäß und hielt es dem Schiffer drohend entgegen. »Keinen Schritt weiter!«
»Willst du mich etwa mit einer Weinpulle erschlagen?«, höhnte er.
»Ja!« Catia holte aus.
Es war ein schlechter Schlag. Trotz seines Zustands wich Matteo problemlos aus. Die Flasche zerschellte klirrend an einer der Kisten, sodass Catia nur den abgesplitterten Flaschenhals in der Hand behielt.
»Das hättest du nicht machen sollen, elende Schlampe«, schrie der Bootsführer wütend. »Jetzt werde ich dich so behandeln, wie es eine Hure wie du verdient. Das verspreche ich dir!«
Ängstlich wich Catia vor ihm zurück, bis sie die Reling in ihrem Rücken spürte. »Lass mich in Ruhe«, schrie sie. »Halt an und lass mich von Bord gehen, dann werde ich meinem Vater nichts von deinem furchtbaren Verhalten sagen.«
Er grinste gehässig. »Ich glaube, dass es diesen sogenannten Vater gar nicht gibt.« Mit diesen Worten sprang er auf Catia zu.
Wie recht er hat. Catia holte mit dem abgebrochenen Flaschenhals aus.
Im nächsten Moment geschah so viel gleichzeitig, dass Catia kaum begriff, was passierte. Als Erstes roch sie Matteos schalen, alkoholgeschwängerten Atem, dann spürte sie seine groben Hände an ihren Schultern. Gleichzeitig kam sie durch diesen Stoß gefährlich ins Schwanken. Panisch versuchte sie, den drohenden Fall in die dunklen Fluten der Seine aufzuhalten, indem sie mit den Armen ruderte.
»Du mieses Miststück«, keuchte Matteo. Der Druck seiner Arme ließ nach. Mit fassungslosem Gesichtsausdruck legte er die Hände auf seinen Hals.
Zu Catias Verwunderung quoll daraus etwas Dunkles hervor. Blut. Sie sah auf die abgesplitterte Flasche, die sie immer noch in der Hand hielt. Auch sie war voller Blut. Angewidert ließ sie sie zu Boden fallen.
Matteo brach röchelnd zusammen. Ganze Bäche an Blut ergossen sich aus seinem aufgerissenen Hals.
»Das wollte ich nicht«, hauchte Catia.
»Elende Adlige«, stöhnte der Schiffer, dann ergriff ein Zittern seinen Körper. Blutiger Schaum quoll aus seinem Mund.
Catia beugte sich zu ihm hinunter. »Es tut mir leid. Ich ...«
Ein langes Ächzen entwich Matteos Mund. Gefolgt von erdrückender Stille. Er hatte aufgehört zu atmen.
Ich habe ihn getötet.
Im gleichen Moment erschütterte ein Stoß die Terrine , der Catia auf die Knie zwang. Das Schiff war unkontrolliert an das felsige Ufer getrieben. Das Krachen brechenden Holzes verriet Catia, das dies dem Frachtkahn nicht gut bekommen war. Wasser sickerte durch die Planken.
Ich muss hier weg.
»Was war das?«, erklang eine Stimme von der höher gelegenen Uferböschung.
»Ich weiß nicht. Hörte sich so an, als wäre ein Kahn gegen den Steinwall gefahren.«
»Lass uns nachsehen, vielleicht braucht jemand Hilfe.«
Für ein Augenblinzeln lagen Catia die Worte »Ich brauche Hilfe« auf den Lippen, dann überkam sie eine furchtbare Erkenntnis. Ich bin eine Mörderin auf einem Schiff, auf dem ich nichts zu suchen habe. Eine Frau ohne Familie und Namen. Vorsichtig kroch sie durch das seichte Wasser ans Ufer. Die Felsen waren algenbewachsen und tückisch glatt, doch sie schaffte es, festen Boden zu erreichen. Keuchend hielt sie einen Moment inne, um wieder zu Atem zu kommen.
Ein gefährlicher Fehler. Zahlreiche tanzende Laternen schälten sich aus der Dunkelheit über ihr.
Catia presste sich so eng an den Boden, als wollte sie damit verschmelzen.
»Tatsächlich. Einer der Frachtkähne ist aufgelaufen.«
»Ist das etwa die Terrine ? Matteo, bist du das?«
Catia kroch die Uferböschung hinauf. Die dahinterliegende Straße war von stacheligen Büschen begrenzt. Jeden Schmerz ignorierend, zwängte sie sich hinein und blickte zurück. Die Männer mit den Laternen hatten die Terrine inzwischen erreicht.
»Matteo? Nein! Er ist tot. Die Kehle zerfetzt!«
»Meurtre – Mord!« Vielstimmig wurde der Ruf weitergegeben.
So leise es ihr möglich war, kroch Catia durch die Hecke auf die Straße. Sie wusste, dass sie, um Paris zu erreichen, immer flussaufwärts laufen musste. So schnell ihre Füße sie trugen, rannte sie los. Jetzt bin ich nicht länger eine Adlige, der man Unrecht getan hat, sondern eine Mörderin.