2. Mai 1789, Versailles, Regierungssitz, Königreich Frankreich
»Euren Namen!« Die Stimme des Palastwächters hatte einen strengen Unterton angenommen. Wie von selbst legten sich seine weißbehandschuhten Finger um den langen Sauspieß, den er lässig an seine Schulter gelehnt hatte.
Neiron drängte sich beschützend zwischen den Schweizergardisten und Henri.
»Zu fliehen können wir versuchen, doch dann werden uns die Six verfluchen.«
Henri versuchte, nicht darüber nachzudenken, was die sechs Onyx-Gargoyles mit Neiron anstellen würden – und mit ihm selbst. Dennoch brachte er nicht mehr als ein Stammeln hervor: »Ich ... mhh ... mein Name wäre dann ...«
Der Gardist warf weiteren seiner überall postierten Kameraden einen kurzen Blick zu. Vier von ihnen näherten sich daraufhin Henri.
Hinter ihm erhob sich unzufriedenes Gemurmel. Adlige waren es offensichtlich nicht gewöhnt, dass man sie warten ließ.
Weitere Wachen erschienen. Plötzlich strotzte die Szenerie nur so vor rotblauen Uniformen. Gleichzeitig wurde es einsam um Henri. Die ihn umgebenden Abgeordneten wichen vor Henri zurück.
»Ganz recht – Euer Name wäre?«, knurrte der Offizier. Es war deutlich zu hören, dass er die Frage zum letzten Mal stellte, bevor er in die Sprache der Gewalt wechselte.
Henri blickte zu Neiron. Der Gargoyle antwortete ihm mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken. Er war bereit zu kämpfen.
Henri schluckte trocken und ballte die Fäuste. Blut und Stein.
»Stein und Blut.« Neiron duckte sich lauernd, bereit zum Angriff.
Der Offizier registrierte die aggressive Geste und senkte langsam seinen Spieß. Henri erkannte, dass die Spitze nicht aus silberfarbenem Eisen bestand, sondern pechschwarz war. Granit , war er sich sicher. Schwarzer dazu. Einer der härtesten Steine der Welt. Ideal, um weichen Sandstein zu schneiden. Oder zu zerstören. Der Mann und seine Untergebenen sahen offensichtlich nicht ihn, sondern Neiron als ihren Hauptgegner an. Es zerriss Henri schier das Herz, dass der Gargoyle seinetwegen leiden würde. Es wäre für alle besser gewesen, wenn ich mir bei dem Sturz vom Südturm einfach den Hals gebrochen hätte.
»Comte de Mirabeau«, erklang plötzlich eine tiefe Stimme. Für einen Moment schien es so, als würden diese Worte die Szenerie gefrieren lassen. Alles und jeder hielt für einen Augenblick inne.
Leider hatte dieser Moment der Hoffnung nur für einen kurzen Moment Bestand.
»Euch habe ich nicht gefragt, Comte. Dieser junge Bur…«
»Ich weiß«, unterbrach Mirabeau selbstbewusst den Soldaten.
Fragende Stirnfalten zeichneten sich im Gesicht des Offiziers ab.
»Ich wollte dem jungen Herrn nur helfen. Es ist sein erster Auftritt bei Hof. Sicher verzeiht Ihr ihm seine Aufregung«, redete Mirabeau, als würde er mit dem Bewaffneten übers Wetter plaudern.
»Mhh ...«, brummte der Gardist unsicher, »... wie lautet denn nun sein Name?«
Der pockennarbige Adlige ließ ein Kichern erklingen. »Das habe ich doch bereits gesagt: Comte de Mirabeau.« Er nickte Henri zu. »Mein Großneffe. Er ist sehr interessiert an den Belangen des Reichs und ich habe ihn mitgenommen, damit er etwas lernen kann. Frankreichs Hoffnung liegt doch auf der jungen Generation.« Leutselig zwinkerte der Adlige dem Soldaten zu.
Neiron trat Henri unauffällig, dafür umso schmerzhafter, mit seiner steinernen Tatze auf den Fuß. Ein Weckruf genau zur rechten Zeit. »Ähm ... genau, Großonkel.« An den Wachposten gewandt: »Bitte entschuldigt, dass mich meine Aufgeregtheit übermannte.«
Der Gardist schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln. »Kein Problem, Comte, wir alle haben irgendwann unseren ersten Tag. Fähnrich«, rief er über die Schulter.
Ein rotwangiger junger Mann, etwa in Henris Alter, trat neben ihn und nahm Haltung an.
»Bringt die Herrschaften bitte an ihre Plätze.« An Neiron und den Gargoyle Mirabeaus gewandt, rief er freundlich: »Ihr kennt eure Plätze ja ohnehin schon.«
Daraufhin breiteten die Wasserspeier die Schwingen aus und glitten hinauf zu den Türmen der Hofkirche. Schnell verlor Henri Neiron aus dem Blick.
Auch Mirabeau folgte seinem steinernen Beschützer mit den Augen. »Ich sage es nur ungern, aber manchmal finde ich es doch ganz schön, ein wenig Abstand zu haben. Welch ein Glück, dass dies in Kirchen möglich ist. Stein vom Stein, Ihr wisst schon.« Wieder zwinkerte er vertraulich.
Obwohl Henri aus den Worten des Adligen nicht recht schlau wurde, verstand er an Neirons Verhalten dennoch, was er ihm damit sagen wollte. Das Ziehen und Drängen, das er gespürt hatte, als er in den Katakomben vor dem Gargoyle davongelaufen war, blieb aus. Offenbar war es in Kirchen möglich, dass sich Mensch und Wasserspeier mehr als ein paar Schritte voneinander entfernten. Stein vom Stein , ließ sich Henri durch den Kopf gehen. Er wusste so wenig über das wahre Wesen der Gargoyles. Doch im Augenblick hatte er andere Probleme. »Merci«, raunte er seinem Retter zu und gestattete sich ein erleichtertes Schnaufen.
»Kein Problem«, entgegnete der grinsend.
Sie betraten die nach Art einer Basilika gebaute Schlosskirche. Der Boden war mit wertvollem buntem Marmor ausgelegt, wie Henri augenblicklich registrierte. Der Kirchenraum selbst war zweistöckig. Das Untergeschoss unterteilten schneeweiße, korinthische Säulen arkadenförmig. Nichts im Vergleich zu Notre-Dame, aber dennoch beeindruckend.
Mirabeau schien zu bemerken, dass Henri sich umsah. »Dort oben«, er zeigte auf die vergoldete Balustrade über ihren Köpfen, »sitzen einzig die königliche Familie und ihre Hofschranzen. Es gibt einen direkten Zugang aus dem Großen Gemach des Königs, damit niemand sich die Füße auf dem Weg zur Messe schmutzig machen muss.« Er kicherte jungenhaft.
»Hier, wenn die Herrschaften gestatten«, wies ihnen der Fähnrich ihre Plätze zu.
Henri überblickte die zahlreichen Kirchenbänke, die mehr als zur Hälfte gefüllt waren. Die schwarz gekleideten Vertreter des dritten Standes, die die Prozession hatten anführen müssen, bildeten bisher die größte Gruppe, allerdings saßen sie kreuz und quer verteilt, ohne einen einheitlichen Block zu bilden.
»Ihnen standen, anders als uns und den Pfaffen, keine festen Plätze zu«, erklärte Mirabeau ungefragt. »Sie hatten wie immer die Brotkrumen aufzupicken, die der erste und zweite Stand übrig gelassen hatten.«
Und wieder eine Demütigung. So langsam glaubte Henri, dass der König die Generalstände nicht einberufen hatte, um die drängendsten Probleme seines Reichs zu lösen, sondern um sie vielmehr zu zementieren.
»Warum habt Ihr das getan?«, raunte er Mirabeau zu, nachdem sie sich an weiteren Adligen vorbeigeschoben und auf ihre Plätze gesetzt hatten.
Der Comte nickte einigen der Anwesenden vertraulich zu. Nur wenige der Adligen erwiderten den Gruß, die meisten wandten sich sogar auffällig von Henris Retter ab.
Was haben die denn?
Mirabeau schien das nicht zu stören, zufrieden grinsend ließ er sich auf die unbequeme Bank fallen. »Wir sollten uns besser einen anderen Ort zum Sprechen suchen. Hier haben die Wände im wahrsten Sinne des Wortes Ohren.« Er blickte hoch zur Decke.
Wieder brauchte Henri einen Moment, um zu verstehen, was der Comte ihm mit diesen kryptischen Worten sagen wollte. Er betrachtete die farbenfroh gestaltete Decke, die ein Motiv aus dem Alten Testament zeigte. Erst als sich die dort vom Maler erschaffenen Monster zu bewegen begannen, begriff er: Gargoyles überwachen von dort oben das gesamte Geschehen.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis alle Abgeordneten ihre Plätze eingenommen hatten. Sie alle erhoben sich, als der König im Obergeschoss auftauchte. Die Messe konnte beginnen.
Die fistelige Stimme Christophe de Beaumonts erklang. Der Erzbischof von Paris war kein besonders mitreißender Prediger. Routiniert und furchtbar langweilig leierte er seinen Sermon herunter. Henri musste an sich halten, um während des Gottesdienstes nicht einzuschlafen.
»Könnt Ihr mir nun beantworten, warum Ihr mir geholfen habt?«, fragte Henri Mirabeau, nachdem sie die Kirche verlassen hatten und allein durch den weitläufigen Schlosspark wandelten. Die eigentliche Eröffnung der Generalständeversammlung würde erst in drei Tagen stattfinden. Der heutige Tag war nur eine Art Vorspiel gewesen.
Neiron und der Gargoyle des Adligen folgten ihnen. Neiron schien begeistert von seinem neuen Bekannten zu sein. Spielerisch versuchte er ständig, dessen langen Schwanz zu fangen.
»Mhh ...«, brummte der Adlige nichtssagend und nahm sich Zeit, seine Elfenbeinpfeife, die in Form eines Eberkopfs geschnitzt war, anzuzünden. Erst als die Luft vom Geruch nach Vanilletabak geschwängert war, antwortete er. »Nun, Ihr seid mir von Anfang an aufgefallen.«
Also war ich doch nicht so gut verkleidet, wie ich gehofft hatte.
»Nicht etwa wegen Eures Äußeren«, berichtigte ihn Mirabeau unbewusst, »sondern eher wegen Eures Verhaltens.« Er blies genüsslich Rauch aus. »Freundlichkeit und Respekt gegenüber Dienern und anderen Angehörigen des dritten Standes machen einen Adligen immer zu etwas Besonderem.« Er klopfte sich an seine große Knubbelnase. »Und verdächtig.«
»Ich ...«
Ein lautes Brummen unterbrach Henri.
Er und Mirabeau drehten sich gleichzeitig in die Richtung des Geräuschs um. Henri konnte kaum glauben, was er sah: Neiron hielt den Schwanz von Mirabeaus Gargoyle im Maul. Der versuchte sich zu befreien, schaffte es aber nicht, den agileren Angreifer mit seinen eigenen Zähnen zu erwischen. Neiron sprang beständig von links nach rechts. Dieses Spiel bereitete ihm offensichtlich diebischen Spaß.
»Was machst du da?«, rief Henri entsetzt.
Neiron schien ihn nicht zu hören. Vielmehr setzte er sein Spiel fort und wich erneut der Tatze des größeren Wasserspeiers aus.
»Ähm ... Aus!«, versuchte es Henri auf einem anderen Weg.
Mirabeau entwich ein schallendes Lachen. »Ihr habt wahrlich noch viel über Gargoyles zu lernen. Leider hören sie nicht auf Kommandos wie Hunde.« Konzentriert blickte er zu seinem Wasserspeier.
Er spricht im Geiste mit ihm , war sich Henri sicher.
Mirabeaus Gargoyle gab ein beleidigtes Brummen von sich, unterließ aber augenblicklich jeden Versuch, sich von Neiron zu befreien. Stattdessen setzte er sich auf sein Hinterteil, so gut es mit eingeklemmtem Schwanz ging, und erstarrte geradezu. Hätte Henri es nicht besser gewusst, so hätte er ihn in diesem Moment für eine der vielen Statuen des Schlossparks gehalten.
»Soll ich meinem auch sagen, dass er ...«
»Wartet!«, flüsterte der Comte.
Unsicher, was von ihm erwartet wurde, betrachtete Henri die skurrile Szenerie. Nach einem kurzen Augenblick passierte etwas, womit er nicht gerechnet hätte. Neiron entließ den Schwanz aus seinem Maul und setzte sich genauso reglos auf sein Hinterteil wie sein Spielkamerad.
»Très bien!«, lobte Mirabeau und kraulte seinen Wasserspeier zwischen den Ohren.
Henri hielt es bei Neiron ebenso.
»Stein und Stein«, erklärte der Adlige. »Gargoyles sind Schwarmwesen, die Verbindungen zu ihresgleichen sind fast so stark wie zu dem an sie gebundenen Menschen. Sie gegeneinander kämpfen zu lassen, ist eines der schändlichsten Verbrechen, die man ihnen antun kann.«
Meinetwegen musste Neiron dies schon tun und sogar töten.
»Wir können nur hoffen, dass sie sich nicht eines Tages ganz von uns abwenden und zusammentun. Sie könnten einen Sturm entfesseln, der die gesamte Menschheit hinwegfegt.«
Henri durchlief ein kalter Schauer. Unwillkürlich musste er an seinen Vater denken. Er wusste, was Wasserspeier einem Menschen antun konnten.
»Es tut mir leid, doch das war lange vor meiner Zeit. Jetzt stehe ich zu deinem Schutz bereit.« Neiron spürte seinen Schmerz und versuchte, ihn zu lindern.
Mit einem Kopfnicken erweckte Mirabeau seinen Gargoyle aus der Starre.
Neiron blickte Henri fragend aus seinen grün leuchtenden Augen an.
»Lauf schon, aber sei freundlich zu ihm. Wir wollen unseren Retter nicht erzürnen. Ich muss erst herausbekommen, was von ihm zu halten ist«, flüsterte Henri ihm ins Ohr.
Einem verspielten Welpen gleich, erwachte Neiron zum Leben und klebte augenblicklich wieder an der Seite des älteren Gargoyles. Dessen Schwanz ignorierte er nun, dafür schien er es jetzt auf die Ohren des größeren Wasserspeiers abgesehen zu haben.
Augenrollend und schmunzelnd wandte sich Mirabeau an Henri. »Die Chimères sind außergewöhnliche Wesen. Schnell kann man sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Es ist eine Schande, dass diese besondere Beziehung nicht allen Menschen offensteht. Nun ja«, der Comte lächelte Henri an, »Eure Verbindung zeigt ja, dass auch Angehörige des dritten Standes von einem Gargoyle akzeptiert werden. Von wegen nur blaues Blut.« Er schnaubte verächtlich. »Und dennoch«, er sah Henri direkt in die Augen, »Ihr müsst etwas Außergewöhnliches an Euch haben, dass er Euch erwählt hat. Der erste Nichtadlige in der Geschichte von Blut und Stein.«
Henri akzeptierte, dass er endgültig entlarvt war. Es abzustreiten hätte bedeutet, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. »Woher wusstet Ihr es?«
»Nun«, der Adlige hob grinsend einen Finger, »erstens, Euer respektvolles und demütiges Benehmen den Dienern und Gardisten gegenüber. Zweitens, Euer Umgang mit Eurem Gargoyle. Er ist von einer Ebenbürtigkeit gekennzeichnet, die ich so bisher nur selten gesehen habe. Die meisten von uns sehen auch in ihren Gargoyles nicht mehr als steinerne Diener. Darüber hinaus wisst Ihr offensichtlich wenig über den Umgang mit den Wasserspeiern.« Er begann die Pfeife an seiner Schuhsohle auszuklopfen und hob einen dritten Finger. »Und drittens habe ich gestern Abend von merkwürdigen Ereignissen gehört, die sich angeblich bei der Liaison des Sohns von Marquis Le Puiset zugetragen haben sollen. Ereignisse, die so unerhört waren, dass ich sie erst nicht glauben konnte. Stellen sie doch nicht nur die Existenz des ehrwürdigen Hauses Le Puiset infrage, sondern überhaupt die Existenz der Ständeordnung.« Er verstaute die Pfeife in seiner Rocktasche und strahlte Henri an. »Ihr seid der Steinmetz, der sich in die Purpurkammer geschlichen hat, oder?«
»Nun«, begann Henri, »ganz so hat es sich nicht zugetragen.« Er fasste sich ein Herz und erzählte Mirabeau ausführlich, was ihm passiert war.
»So viel Tragisches in so kurzer Zeit. Ich bin froh, dass ich auf meinen Archimbald gehört und Euch geholfen habe. Ihr seid etwas Besonderes. Ich muss schon sagen, es gehört eine Menge Chuzpe dazu, sich hier in die Höhle der Löwen zu schleichen. Dennoch ist die Idee natürlich genial. Wer findet schon einen einzelnen Halm inmitten des Heuhaufens?«
»Wir danken Euch für Eure Hilfe.« Henri räusperte sich verlegen. Er blickte zu Neiron, der genug vom Spielen zu haben schien und eng an Mirabeaus Gargoyle gekuschelt schlief. »Die entscheidende Frage bleibt jedoch: Kann ich, können wir, darauf vertrauen, dass Ihr uns nicht verratet?«
Daraufhin tat Mirabeau etwas vollkommen Überraschendes: Er kniete sich auf den feuchten Rasen und streckte die Hand aus. Sein Gargoyle stand auf, setzte sich an die Seite des Adligen und erhob die Pfote.
»Vertrau unseren Brüdern aus Blut und Stein. Sie meinen es ehrlich. So soll es sein.«
Henri ergriff die ihm dargebotene Hand. Neiron berührte mit seiner die Tatze Archimbalds.
»Wir schwören auf Stein und Blut, Blut und Stein, dass wir Euer Geheimnis wahren werden«, rief Mirabeau mit tragender Stimme.
Diese plötzliche Förmlichkeit überwältigte Henri, daher brachte er nur ein leises »Merci« heraus.
Ächzend erhob sich der Comte und klopfte Gras und Erde von seinen Knien. »Nachdem das geklärt ist, könntet Ihr mir vielleicht Euren Namen verraten, junger Freund.«
»Henri, Henri Fournier. Und wir brauchen es nicht so förmlich zu halten. Ihr dürft mich gern duzen.«
»Nein, mein lieber Henri Fournier, das darf ich auf keinen Fall, wenn Ihr die Euch beschützende Scharade weiter aufführen wollt. Kein Adliger duzt einen anderen in der Öffentlichkeit. Es wäre fast besser, wenn ich auch noch Euren bürgerlichen Namen vergäße.«
»Tja …« Henri kratzte sich ungeniert unter der Perücke, die furchtbar juckte. »Dann bleibe ich wohl erst einmal adlig.«
»Dazu würde ich dringend raten«, raunte Mirabeau. »Der Sohn des Marquis wird nichts unversucht lassen, um Eurer habhaft zu werden, um den Tod seines Vaters und den Diebstahl seines Gargoyles zu rächen.« Er deutete auf Henris Arm. »Das Mal kennzeichnet Euch ein Leben lang. Ihr seid nirgendwo sicher. Mit dem jungen Marquis habt Ihr Euch eines der mächtigsten Adelshäuser des Königreichs zum Feind gemacht. Der Arm der Familie reicht weit, beinahe um die ganze Welt. Sie besitzt riesige Landgüter in Übersee.«
Henri wurde flau bei diesen Aussichten. »Selbst in diesen Kleidern und mit meinem Gargoyle habt Ihr mich augenblicklich erkannt. Ich werde es vermutlich niemals schaffen, einen Adligen überzeugend zu spielen.«
»Doch, das schafft Ihr. Ihr braucht nur einen guten Lehrer.« Der Comte lächelte Henri väterlich an.
»Meint ... meint ... Ihr ... etwa Euch?«
Mirabeau deutete eine kleine Verbeugung an. »Falls Ihr und Euer steinerner Freund mögt, nehme ich Euch gern in meine Familie und mein Haus auf.«
Henri blickte zu Neiron. Sein Gargoyle war wieder wach, hatte die Vorderpfoten eingeknickt und lauerte mit erhobenem Hinterteil vor Mirabeaus Wasserspeier, als würde er ihn jeden Moment anspringen wollen – was einen Augenblick später auch geschah. Spielerisch wich der ältere Wasserspeier Neiron aus, sodass dieser in einem Blumenbeet landete und es verwüstete. Dennoch ließ Neiron sich nicht von dieser Niederlage abhalten. Er schüttelte die Erde ab und versuchte eine weitere Attacke.
»Er hätte, glaube ich, nichts dagegen«, murmelte Henri. Lauter und direkt an Mirabeau gewandt, sagte er: »Und ich auch nicht. Gern nehmen wir Euren Rat und Euren Schutz an, Comte.«
Der Adlige strahlte über das ganze Gesicht. »Das freut mich. Dann kommt, kehren wir zurück in mein Haus nach Paris. Ihr beiden habt eine Menge zu lernen, auch übereinander.«