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Was ist der dritte Stand?

6. Mai 1789, Paris, Königreich Frankreich

Catia betrachtete apathisch ihre dreckigen Füße und die gesprungenen Nägel ihrer Zehen. Sie wusste längst nicht mehr zu sagen, wann in den letzten Tagen sie ihre Schuhe verloren hatte. Nachdem sie am Wegesrand vor Erschöpfung zusammengebrochen war, hatte sie ihr jemand gestohlen. Was hatte sie geflucht und geweint, aber die Schuhe hatte ihr das nicht zurückgebracht. Es blieb ihr daher nur eine Wahl: barfuß weiter in Richtung Paris zu laufen. Weg von dem Verbrechen, das sie auf sich geladen hatte, und hin zu der Rache, die ihr mittlerweile zum Lebensantrieb geworden war.

Sie war nicht die Einzige, die barfuß unterwegs war. Die Heerscharen zerlumpter Waisenkinder, die bettelnd durch das Land zogen, trugen ebenfalls kein Schuhwerk oder höchstens einen dreckigen Lappen um die Füße. Auch viele der erwachsenen Gestalten, die sich wie wankende Untote mit ausgezehrten Gesichtern und toten Augen in Richtung der Hauptstadt schleppten, teilten dieses Schicksal. ›Die Straße der Schuhlosen‹ hatte Catia den Weg getauft. Obwohl ›Weg der Hoffnungslosen‹ auch gut passen würde. Sie seufzte. Was ist nur aus mir geworden? Seitdem sie sich wie eine Diebin in der Nacht von Bord der Terrine gestohlen und sich in diese auf die Hauptstadt zuströmende Prozession des Elends eingereiht hatte, waren sämtliche Spuren ihres früheren Lebens getilgt worden. Ich bin jetzt nur noch Catia, die Mörderin. Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er sehen könnte, was aus mir geworden ist – falls er denn eines bekommen hat. Immer wieder ging ihr die Szene durch den Kopf, wie sie Matteo mit der abgebrochenen Flasche den Hals aufgeschlitzt hatte.

»Macht den Weg frei!«, holte Catia eine barsche Stimme aus ihren Gedanken.

Sie drehte sich um. Eine herrschaftliche weiße Kutsche, von vier prächtigen Pferden gezogen, raste auf sie zu. Der Kutscher malträtierte die Tiere ununterbrochen mit der Peitsche, um sie zu noch höherer Geschwindigkeit anzutreiben. Dass er in diesem Tempo niemandem ausweichen, geschweige denn bremsen konnte, schien ihm vollkommen egal zu sein. Catia blieb vor Schreck wie angewurzelt mitten im Weg stehen.

Die Kutsche schoss unvermindert auf sie zu. Vielleicht zwanzig Schritt trennten sie von dem großen Gefährt.

Es könnte alles so einfach sein. Catia schloss die Augen.

»Aus dem Weg, habe ich gesagt«, schrie der Fuhrknecht. Das Knallen seiner Peitsche erklang.

Vater, Mutter, Magali, ich komme.

»Kind«, schrie plötzlich eine raue Frauenstimme nah an Catias Ohr.

Im gleichen Moment packten starke Hände ihre Schultern und gaben ihr einen kräftigen Stoß.

»Waaaa ...« Schreiend landete Catia im Abwasser des Straßengrabens. Ein durchdringender Geruch nach Fäkalien und Fäulnis stieg von der unappetitlichen Brühe auf, die durch Catias Kleider auf ihre Haut sickerte.

Neben ihr donnerte die Kutsche so schnell vorbei, dass Catia den Fahrtwind auf ihrer feuchten Haut spüren konnte. Die Hufe der Pferde stoben Erde auf, die neben ihr in das Wasser klatschte. Bevor sie verstand, was passiert war, erschien ein faltiges Gesicht über ihr und fragte: »Alles in Ordnung, mein Kind?«

Catia zitterte vor Furcht und Kälte, aber sie nickte trotzdem.

»Das freut mich. Diese elenden Kutschen. Es geht heute zu wie im Taubenschlag. Die Generalständeversammlung in Versailles.« Die Frau zuckte mit den Schultern, als würde dies alles erklären. »Ich hoffe, ich habe dich nicht zu hart angepackt, aber ich hatte fast das Gefühl, dass du überfahren werden wolltest.«

Ein Klumpen Eis bildete sich in Catias Bauch.

Die Fremde hielt ihr hilfsbereit die Hand hin. »Manchmal vergesse ich, wie viel Kraft ich in den Armen habe.« Ein Lachen erklang, das sich anhörte, als würde man zwei rostige Eisen aneinanderreiben. Dennoch war es der herzlichste Ton, den Catia seit ihrer Flucht aus Argenton gehört hatte. Dankbar schlug sie ein.

Die Frau zog sie mit überraschender Leichtigkeit zurück auf die Straße. Ihre Hände fühlten sich rau und kräftig an. Sie betrachtete Catia grinsend. »Hätte schlimmer sein können. So ein bisschen mehr Dreck wird dich nicht umbringen, Kind.«

Catia wischte sich den ekelerregenden Schlamm aus den Augen. »Nein, noch schmutziger kann ich unmöglich werden.« Diese Erkenntnis fand sie mit einem Mal irrsinnig komisch. Ein Lachen drang aus ihrem Innern nach oben und brach sich erst in einem Kichern und dann schallendem Brüllen Bahn.

Ihre Retterin betrachtete sie stirnrunzelnd und zog ihr grünes Kopftuch fester. »Nur raus damit, Kind. Manchmal muss es erst schlechter werden, bevor es besser wird.«

Inzwischen hatte Catia einen Schluckauf vom Lachen und die Tränen liefen ihr das Gesicht herunter. Erneut übermannte sie das Lachen. Ich werde verrückt , war sie sich sicher. »Dann muss es bald besser werden«, presste sie hervor. »Noch schlimmer kann es unmöglich werden.«

»Sag das nicht«, warnte die Frau und schulterte ihre bis zum Rand mit Holzscheiten gefüllte Kiepe, die fast genauso groß war wie sie selbst. »Du gehst schließlich nach Paris.« Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und ging strammen Schrittes in Richtung der Stadt, vor der sie Catia eben noch gewarnt hatte.

Die blieb einen Moment unschlüssig stehen. Was konnte ihr Paris Besseres bieten als die Straße? Vengeance! Wie von selbst setzten sich ihre Füße in Bewegung. Sie würde sich rächen.

Catia passierte problemlos die äußere Steuermauer auf Höhe des Boulevard de Longchamp. Die gestrengen Blicke der Steuereintreiber streiften sie nicht einmal. Zu offensichtlich war, dass sie weder etwas zu versteuern noch irgendetwas anderes von Wert hatte. Da Catia nicht genau wusste, wohin sie wollte – sie hatte sich vorgenommen, irgendeinen Zeitungshändler nach der Adresse des Verlagshauses zu fragen –, ließ sie sich vom Strom der Reisenden ins Zentrum der Stadt tragen. Die Masse wogte in Richtung Seine, um dort in den Cours de la Reine einzubiegen. Die liebevoll angelegte Gartenpromenade blühte und grünte frühlingshaft und war voller Menschen.

Neidvoll betrachtete Catia sie. Gut gekleidete Liebespaare, die, meist mit einer Gouvernante im Schlepptau, in gemessenem Abstand zueinander flanierten und verliebte Blicke austauschten. Kinder, die mit Murmeln, Holzreifen oder Stoffpuppen spielten und einander mit roten Wangen kreischend jagten. Gesetzte Herren, die gewichtig miteinander tuschelten und regelmäßig ihre Dreispitze zum Gruß lüfteten, wenn andere ihres Schlags sie passierten.

Und dann waren da natürlich noch die berühmten Pariser Damen, von denen Catia in Büchern gelesen und in Geschichten gehört hatte. Angeblich waren die Pariserinnen die schönsten Frauen der Welt. Diejenigen, die Catia gerade betrachtete, entsprachen dem vollständig. Sie trugen farbenfrohe Kleider aus wertvollsten Stoffen, toupierte Perücken und extravagante Hüte.

Catia seufzte. Wie oft hatte sie als Kind davon geträumt, nach Paris reisen zu dürfen und Teil dieser exklusiven Gemeinschaft schöner und gebildeter Menschen zu werden. Nun bin ich hier und war nie weiter davon entfernt, dazuzugehören. All diejenigen, die den Park nutzten, um sich dort zu verlustieren, sahen durch Catia und die anderen Elenden, die sich durch die Grünanlagen schleppten, hindurch, als würden sie nicht existieren. Ich bin zu einem Schatten geworden. Auf Catias Gesicht schlich sich ein diebisches Grinsen. Schatten gebiert die mächtigsten Assassinen. Sie würde auf die Mörder ihrer Familie niederfahren wie ein Schwert aus dem Nebel.

Ein hochgewachsener junger Mann, der nach neuster Mode einen runden, hohen Hut schief auf dem Schädel trug, warf direkt vor Catia achtlos einen nur halb aufgegessenen Apfel zu Boden.

Sie zögerte keinen Moment und stürzte sich auf das Obst. Die kleinen Steinchen und Grashalme ignorierend, die daran haften geblieben waren, schlang sie ihn herunter. Sie vermochte inzwischen nicht mehr zu sagen, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte.

Beinahe noch hungriger als zuvor erreichte sie schließlich einen großen Platz, in dessen Mitte die Statue eines Reiters thronte. Ein Schild verriet ihr, dass es sich um die Place Louis XV handelte. Offensichtlich hatte der Vorgänger des jetzigen Königs sich hier ein Denkmal setzen lassen. Der Platz war voller Menschen, die sich alle einem Mann auf einem primitiven Holzpodest zuwandten.

»Wer ist das?«, fragte Catia einen schwarzhaarigen Bettlerjungen, der zwischen den Massen herumschlich, vermutlich in der Hoffnung, dass ein Almosen oder womöglich eine nachlässig verstaute Börse für ihn abfiel.

»Der?« Ungeniert popelte der Junge in der Nase und betrachtete genüsslich, was er daraus hervorgeholt hatte. »Das ist Abbé Sieyès, den kennt doch jeder. Wo kommst du denn her?«

»Danke, und jetzt verschwinde, bevor ich dem Dicken dahinten stecke, dass du ihm gerade seinen Beutel mit Gebäck aus der Tasche gefischt hast.« Inzwischen hatte sie sich an den harten Ton der Straße gewöhnt.

Der Junge streckte ihr die Zunge heraus, bevor er davonlief.

Catia sah sich nach einem Zeitungsverkäufer um, doch die vielen Leiber verhinderten, dass sie einen entdeckte. Um sie herum riefen die Menschen dem Redner aufmunternde Worte zu.

»Exactement!«

»Tenez, tenez!«

Was gab es dort wohl zu hören? Und wer war dieser Priester Sieyès, der die Massen so für sich einnehmen konnte? Ihre Ellenbogen einsetzend, drängte Catia näher an das Podest heran, auf dem der in einen schwarzen Mantel gekleidete, rotgelockte Mann stand. Mit ernstem Gesicht sprach er zur Menge. Die ersten Worte, die sie verstand, bereiteten Catia eine Gänsehaut.

»Und daher frage ich euch, meine lieben Freunde: Qu’est-ce que le Tiers-État?«

Die Menge antwortete ihm brüllend: »Der dritte Stand? Nichts ist er, rien!«

»Non!«, entgegnete Sieyès den aufgebrachten Menschen und wedelte mit dem ausgestreckten Zeigefinger. »Genau da irrt ihr.« Er machte eine Kunstpause, um seine folgenden Worte besser wirken zu lassen. »Der dritte Stand ist alles! Ihr seid alles!«

Frenetischer Jubel erklang.

»Doch was seid ihr, meine Freunde, bisher in der politischen Ordnung dieses von uns so geliebten Landes gewesen?«, setzte Sieyès sein Frage-und-Antwort-Spiel fort.

»Rien!«, antwortete ihm die Menge erwartungs- und wahrheitsgemäß.

Sieyès senkte seine Stimme. Auf dem Platz wurde es so leise, dass er seine nächste Frage flüstern konnte und ihn dennoch jeder verstand. »Was verlangt ihr also?«

»À y devenir quelque chose. – Etwas zu sein!«, brüllten die Menschen euphorisiert.

Es war noch nicht lange her, da hätte Catia mit Freuden in diese Rufe eingestimmt, aber nach den letzten Tagen sehnte sie keine Änderung der herrschenden Verhältnisse herbei. Ein besseres Leben für den dritten Stand – warum nicht? Aber dass er an der Herrschaft beteiligt werden sollte? Niemals!

Das System hat die Mörder deines Vaters hervorgebracht und nicht umgekehrt , erklang eine mahnende Stimme in ihrem Kopf.

Catia wischte dies beiseite. Sie hatte genug eigenes Leid, mit dem sie fertigzuwerden hatte.

»Ihr sagt es, meine Freunde«, lobte der charismatische Priester seine Zuhörer. »Doch was macht der König auf der Generalständeversammlung stattdessen? Er entrüstet sich, dass eure Vertreter bei seiner Rede nicht niederknien und den Hut vor ihm ziehen. Ich sage euch, Louis XVI. wollte mit dieser Zusammenkunft nie etwas an eurer Situation ändern, keine Reformen durchsetzen, die euer Leid lindern, sondern einzig die Steuern für euch erhöhen. Steuern, die schon jetzt die meisten von euch hungern lassen.« Wütend schlug er sich mit der Faust in die Hand.

»Buhh!« Die Menschen waren jetzt außer Rand und Band. Schrien, klatschten und fluchten. Viele der Männer in der Menge waren betrunken. Wut und Alkohol waren ein gefährliches Gemisch, das jederzeit explodieren konnte. Zeit zu gehen , beschloss Catia. Das hier war nicht ihr Geschäft. Sie musste Mirabeau finden und ihre Rache planen. Während sie mit gesenktem Kopf versuchte, aus der Menge zu verschwinden, stieß sie heftig mit jemandem zusammen.

»Kannst du nicht besser aufpassen, du dumme Gans?«, knurrte der Übeltäter.

Catia beschloss, den ungehobelten Burschen zu ignorieren, und ging wortlos weiter.

»He, ich hab dich was gefragt«, rief der ihr hinterher.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Die zusammengedrängte Masse an Körpern hatte sie hinter sich gelassen. Hier am Rand standen nur noch vereinzelte Zuhörer. Sie kam jetzt deutlich schneller voran. Plötzlich zog sie jemand grob an den Haaren. Ein beißender Schmerz durchzuckte ihren Hinterkopf. »Ahh!«

»Ich krieg von dir noch eine Entschuldigung, Schlampe«, schrie ihr jemand von hinten ins Ohr.

Wütend schlug Catia mit dem Ellenbogen aus.

»Uff!«

Augenblicklich ließ der Schmerz nach. Catia drehte sich um. Ihr Angreifer kniete keuchend am Boden. Ein glücklicher Zufall hatte es gewollt, dass sie mit dem Ellenbogen wohl eine seiner Nieren erwischt hatte. »Es ist wohl eher umgekehrt«, schrie sie ihn an.

»Du?« Er blickte entgeistert zu ihr empor.

Für einen Moment glaubte Catia, dass die Erde beben würde. Ihre Beine schwankten und zitterten. Das kann nicht sein. »Du?«, zischte sie den rothaarigen Anführer des Mobs an, der ihren Vater getötet hatte. »Mörder!« Sie trat ihm so heftig in die Seite, dass er stöhnend umfiel. Die Zeit meiner Rache ist jetzt!

Bevor sie erneut zutreten konnte, rief er jammernd: »Attention! Eine adlige Spionin befindet sich unter uns.« Er zeigte anklagend auf sie. »Das ist die Freiin d’Argenton, Tochter eines Chevaliers, der seine Untertanen besonders schindet. Sie ist gekommen, um uns alle zu verraten.«

Ihr verratet euch selbst, wenn ihr auf einem öffentlichen Platz so herumschreit , hätte Catia am liebsten geantwortet, aber die Worte des Mörders fanden Aufmerksamkeit. Wütende Gesichter starrten sie an.

Und der Krawallmacher schüttete weiter Öl ins Feuer. »Sie hat sich verkleidet, um unentdeckt hier rumzulaufen. Sie will uns alle ans Messer liefern. Lasst sie nicht entkommen, wenn euch euer Leben und das eurer Familien lieb ist.«

Messer wurden gezogen. Holzknüppel in offene Hände geklatscht. Gesichter zu mordlüsternen Fratzen verzogen.

»Es wird Zeit, das adlige Pack endgültig auszumerzen«, schrie der Rothaarige und grinste Catia unverschämt an. »Endgültig.«

»Nein, ich ...« Catia zeigte ihre offenen Handflächen, um zu signalisieren, dass sie unbewaffnet war.

»Sie streitet es nicht mal ab«, höhnte der Unruhestifter. »Erteilen wir ihr eine Lektion, die sie niemals vergessen wird.«

Brüllend lief die Meute auf sie zu.

Catia drehte sich um und rannte um ihr Leben. Ihre nackten Füße klatschten auf das Pflaster. Wenn ich es bis zur Seine schaffe, habe ich vielleicht eine Chance. Etwas traf sie an der Schulter und ließ sie taumeln. Ein faustgroßer Stein. Weitere Geschosse gingen links und rechts knapp neben ihr zu Boden. Sie hörte das heisere Grölen der Meute in ihrem Rücken. Meinte den Atem ihrer Verfolger zu spüren. Ich hatte nie eine Chance , begriff Catia, als sie ein zweiter Stein am Kopf traf und die Welt vor ihren Augen verschwamm.

Plötzlich hielt neben ihr eine Kutsche. Nein , erkannte Catia, das ist nicht irgendeine Kutsche . Es war jene, die sie heute Morgen fast überfahren hätte. Die Tür des edlen Gefährts schwang auf und die Silhouette einer etwa fünfzigjährigen Frau erschien, die den weitesten Reifrock trug, den Catia jemals gesehen hatte. Mit einem verwegenen Grinsen fragte die Dame: »Brauchst du Hilfe, Mädchen?«

Es wird Zeit, zu meinesgleichen zurückzukehren. Catia sprang in die offene Kutschtür.