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Journal des États-Généraux

6. Mai 1789, Paris, Königreich Frankreich

»Guten Morgen, Herr Großonkel«, begrüßte Henri Mirabeau frotzelnd. Sie hatten sich angewöhnt, einander so zu behandeln, als wären sie tatsächlich miteinander verwandt. Dennoch waren sie übereingekommen, dass es für Henri sicherer war, Mirabeaus herrschaftliches Pariser Stadthaus nur in Ausnahmefällen zu verlassen. Bisher hatten sich Henri und Neiron an diese selbst gewählte Gefangenschaft gehalten.

»Wie kann dieser Morgen gut sein?«, nuschelte Mirabeau und rückte seine safranrote Nachthaube zurecht.

»Ein langer Tag gestern in Versailles?«

Der Adlige nickte brummend, strich seinen purpurnen, mit stilisierten Butterblumen verzierten Morgenrock glatt und ließ sich auf einen der gepolsterten Stühle des kleinen Salons fallen. Henri hatte diesen bereits mollig warm beheizt und auch etliche andere Hausarbeiten erledigt. Da Mirabeau überraschenderweise keine Hausangestellten hatte – er fand, dass sich diese Art der Unterdrückung nicht schicke und außerdem viel zu teuer sei –, fand er es nur recht und billig, dem Mann zu helfen. Zumal Mirabeau ein ausgesprochener Langschläfer und Henri es gewohnt war, mit der Sonne aufzustehen.

»Einen Tee?«, versuchte er seinen Gastgeber aufzumuntern.

»Ja.« Der Adlige streckte die Füße aus, die in edlen, aber abgelaufenen Pantoffeln steckten. »Und zieht Eure Perücke auf! Ihr habt eine Rolle zu spielen.«

»Sie kratzt so elend«, jammerte Henri.

»Dann rasiert Euch den Kopf, so wie jeder vernünftige Mann. Was unser König tut, kann doch auch für einen Steinmetz nicht unwürdig sein.«

Henri grauste bei der Vorstellung. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass sämtliche Männer, die er mit Perücke sah, darunter einen blanken Schädel hatten. Es ging das Gerücht, dass die gehobene Männerwelt diese elende Mode dem Sonnenkönig Louis XIV. zu verdanken hätte, dem nach einer Pockenerkrankung sämtliche Haare ausgefallen waren.

Auch Mirabeau hielt sich daran und rasierte täglich seinen Schädel. Trug er keine Perücke, bedeckte er den Kopf mit einer Haube. Alles andere galt als äußerst unschicklich. Niemand zeigte seinen kahlen Schädel in der Öffentlichkeit. Gleichzeitig konnte man keine Perücke über längere Zeit tragen, wenn sich darunter noch echte Haare befanden. Henri fühlte sich dann immer so, als würden Tausende kleine Käfer über seine Kopfhaut krabbeln, und alles in ihm schrie danach, sich die falsche Haarpracht vom Kopf zu reißen. Allein die Vorstellung, wie Louis XVI. ohne das künstliche Haar aussehen würde, kam Henri absurd vor. Er wäre dann gar kein richtiger König mehr.

»Ich habe mich noch nicht mal richtig an die engen Kniehosen und diese breithüftigen Fräcke gewöhnt.« Er strich über seinen schieferblauen Frack, dessen Schöße mit Fischgräten aufgestellt und dazu noch gepolstert waren, so wie es der neusten Mode entsprach. »Ich bin Euch dankbar für die viele neue Kleidung, aber ständig stoße ich etwas mit dem Hintern um. Und diese komischen Schuhe, da ...«

»Wolltet Ihr mir nicht einen Tee holen?«, knurrte Mirabeau.

Henri stellte seinem neuen Freund einen dampfenden Becher vor die Nase. Mirabeau hatte ihn tags zuvor in der Küche in die Geheimnisse des Teekochens eingeweiht. Der Adlige hatte eine Vorliebe für teuren Karawanentee, der angeblich besser schmeckte als derjenige, der in muffigen Laderäumen von Schiffen aus den Kolonien nach Frankreich transportiert wurde. Henri konnte nicht bestätigen, dass an dieser Behauptung etwas dran war. Ihm schmeckte das bittere schwarze Gebräu nicht, ob es nun in Schiffsbäuchen oder auf Kamelrücken hierhergekommen war.

Dankend nickte Mirabeau und pustete in den dampfenden Tee. »Es war gestern ein langer Tag in der Generalständeversammlung. Finanzminister Neckers Eröffnungsrede hat ganze drei Stunden gedauert.« Er schnaubte belustigt. »Natürlich hat er nicht die ganze Zeit selbst geredet. Das durfte einer seiner Gehilfen erledigen. Der hat Kolonnen an Zahlen vorgetragen, die uns Abgeordneten die prekäre Finanzlage des Königreichs darlegen sollten. Ganz am Ende hat er uns dann in Person beschworen, einer neuen Anleihe von achtzig Millionen zuzustimmen. Als ob da nicht längst alle schon geschlafen hätten. Der König und Necker halten sich für schlau. Sie versuchen, uns Abgeordneten vorzugaukeln, dass es bei der Ständeversammlung nur um Geld und den Finanzhaushalt gehen würde.« Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch. Ein Schluck Tee platschte aus seinem Becher auf die glänzende Eichenholzplatte.

»Nie hatten sie vor, über eine Reform des Ständesystems zu diskutieren. Wir sollen uns als Retter des bankrotten Staats fühlen und ihnen eine Stimme für mehr Schulden und Steuern geben, damit sie am Ende auf uns zeigen können, wenn das Geld in ein paar Jahren wieder nicht ausreicht oder es zu neuen Protesten kommt. Der König hatte nichts anderes im Sinn, als er auf Neckers Initiative die Stände zusammenrief, das habe ich nun endgültig verstanden.« Mirabeau nahm einen Schluck Tee und verzog die Lippen, weil er so heiß war. »Ich habe dem König gestern offiziell den Vorschlag gemacht, dass die Versammlung nach Köpfen und nicht nach Ständen über mögliche Vorschläge abstimmen sollte.«

»Und?«

»Was denkt Ihr wohl?« Er trank einen weiteren Schluck Tee. »Der dritte Stand war geschlossen auf meiner Seite.«

»Der erste und der zweite nicht?«, riet Henri.

»Mon dieu, selbstverständlich nicht. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie deren feine Vertreter Zeter und Mordio geschrien haben. Dieser Vorschlag würde an den Grundfesten der göttlichen Ordnung rütteln, gar das Königtum selbst infrage stellen.« Er winkte ab. »Der übliche Unsinn, wenn man nicht offen aussprechen will, dass diese Farce von einer Generalständeversammlung nur dazu dient, dem dritten Stand noch mehr Steuern abzupressen und ansonsten alles beim Alten zu lassen.«

»So ganz kann man den Kirchenleuten und Adligen nicht verdenken, dass sie den komfortablen Ast, auf dem sie sitzen, nicht unter ihrem eigenen Hintern wegsägen wollen«, spielte Henri den Advocatus Diaboli. »Wer würde schon freiwillig dafürstimmen, Steuern zu zahlen oder Privilegien aufzugeben?« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Erstaunt blickte Mirabeau ihn aus seinen blutunterlaufenen Augen an. »Da brat mir doch einer ’nen Storch. Aus Euch habe ich aber schnell einen echten Adligen gemacht. Einen Gargoyle, schicke Kleidung und falsches Haar, mehr braucht es wohl nicht. Dabei wären Änderungen am starren Ständesystem gerade für Euch und Neiron von besonderem Belang.«

»Warum?«, fragte Henri irritiert. Er fand die Ständeordnung ebenfalls ungerecht, aber er hatte seinen Platz gefunden und ihn akzeptiert. Niemals hatte er etwas anderes als ein Steinmetz sein wollen.

»Nun«, begann Mirabeau, »wie stellt Ihr Euch denn Euer weiteres Leben vor, wenn weiterhin die Regel gilt, dass sich nur Angehörige des zweiten Standes mit einem Gargoyle verbinden dürfen?«

»Ich ...« Henri spürte, wie er errötete. Es war ihm peinlich, dass er nicht selbst darauf gekommen war. Gleichzeitig kam in ihm das erste Mal seit Tagen so etwas wie echte Hoffnung auf. Vielleicht können Neiron und ich ja schon bald ein Leben außerhalb dieses Verstecks führen.

Mirabeau schien seine Gedanken lesen zu können. »Ihr seht also, Politik ist nicht nur eine abstrakte Sache, sondern betrifft jeden. Egal, ob man sich nun dafür interessiert oder nicht.«

Über ihren Köpfen rumpelte es leise.

Ein väterliches Grinsen legte sich auf Mirabeaus pockennarbiges Gesicht. »Euer Neiron ist geradezu vernarrt in meinen Archimbald.« Seitdem sie in Mirabeaus Haus waren, folgte Henris Gargoyle Mirabeaus Wasserspeier auf Schritt und Tritt. Darüber hinaus forderte er ihn ununterbrochen zum Spielen auf.

»Entschuldigt!«

»Ihr braucht Euch nicht für Euren Gargoyle zu entschuldigen. Er tut nur das, was seiner Natur entspricht. Im Spiel mit meinem guten alten Archimbald lernt er, was es bedeutet, ein lebender Wasserspeier zu sein. Archimbald ist ein guter Lehrer.« Beruhigend zwinkerte er Henri zu. »Ihr beiden macht das gut! Glaubt mir.«

»Danke.« Mit zusammengekniffenen Augen blickte Henri hinauf zur holzvertäfelten Decke. Jetzt herrschte im Obergeschoss wieder Stille.

»Wie kommt Ihr denn mit Euren Studien voran? Nennt mir doch bitte einmal die hierarchischen Adelsränge des Reichs. Angefangen beim König.«

»Ähm ...« Gleich nach seiner Ankunft hatte Mirabeau Henri einen Stapel staubiger Wälzer aus seiner riesigen Bibliothek in die Hand gedrückt und gesagt: »Lest das und lernt!«

»Nun?«, bohrte er ungeduldig nach.

»Also, ganz an der Spitze steht natürlich Gott«, schwafelte Henri tapfer drauflos.

Mirabeau zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch.

Henri ignorierte das. »Und danach kommt Seine Majestät Louis XVI. aus dem Haus Bourbon und dann ...« Er schielte zur Decke. Jetzt würde er sich über ein wenig Krawall von den Gargoyles als Ablenkung freuen. Natürlich blieb alles still. »Es gibt auf jeden Fall noch Comtes wie Euch.« Unsinnigerweise verbeugte er sich vor Mirabeau. »Ähm ...«

»Henri, wenn Ihr in meiner Welt überleben wollt, ist es wichtig, dass Ihr solcherlei wisst. Also nochmal: Auf den König folgt der Duc, dem untergeordnet ist der Marquis, dann darf sich meinesgleichen als Comte einreihen. Der Vicomte wiederum steht eine Stufe tiefer, aber über dem Baron. Der Chevalier ist ein relativ niedriger Adelsrang, steht aber noch über dem Seigneur. Merkt Euch das!«

»Duc, Marquis ...«, murmelte Henri, um sich die vielen schwierigen Begriffe besser zu merken. »Kam der Vicomte jetzt vor oder nach dem Baron?«

Mirabeau schlug sich gespielt gegen die Stirn. »Wechseln wir lieber das Fachgebiet und schauen wir mal, wie gut Ihr Eure zweite Lebensversicherung mittlerweile kennt.«

Jetzt begaben sie sich auf ein Terrain, für das Henri sich deutlich mehr interessierte. Unter den vielen Büchern des Comte war auch ein Foliant mit dem vielsagenden Namen Des relations et des soins des chimères gewesen. Ein Buch über den Umgang mit und die Pflege der Chimären – das hatte Henri in seiner ersten Nacht unter Mirabeaus Dach regelrecht verschlungen.

»Wo werden ausnahmslos alle Gargoyles zum Leben erweckt?«

»Notre-Dame«, schoss es aus Henri heraus. »Sämtliche ungebundenen Gargoyles leben dort, bis sie sich mit einem Menschen verbinden. Diese Verbindung ist die Voraussetzung, dass sie die Mauern des Gotteshauses verlassen können.«

»Wie verbinden sich ein Mensch und eine Chimäre?«

»Durch Blut und Stein.«

»Genauer!«, forderte Mirabeau.

»Benetzt ein Mensch den Steinkörper eines ungebundenen Gargoyles, werden diese zu einer Einheit. Jener Vorgang ist nur einmalig möglich und unumkehrbar.«

»Woran wird diese Verbindung sichtbar?«, bohrte der Adlige weiter.

»Bei Menschen an der sogenannten Steinhaut. Sie taucht an jener Stelle auf, die bei der Liaison Blut gab. Meistens ist es die Hand.« Neugierig betrachtete er Mirabeau, dessen Hände keinerlei graue Verfärbungen aufwiesen.

Der bemerkte seinen Blick und zog die Nachthaube von seinem nackten Schädel. Sein kompletter Hinterkopf war grau. »Ich bin ganz dankbar für Perücken.«

Erstaunt riss Henri die Augen auf. »Wie …?«

»Eine lange Geschichte«, lenkte der Comte ab. »Sagt mir lieber, wie es sich umgekehrt mit dem Wasserspeier nach der Liaison verhält.«

»Bei den Gargoyles gibt es als Gegenstück die Fleischhaut, sie bildet sich dort, wo menschliches Blut erstmals ihren steinernen Körper berührt hat. An dieser Stelle sind die Wasserspeier am verletzlichsten.«

»Wie weit können sich Mensch und Chimäre voneinander entfernen?«

»Das kommt ganz auf die Stärke der Bindung von Wasserspeier und Mensch an. Am Anfang sind es nur wenige Schritte, aber mit der Zeit kann die Entfernung größer werden. Junge Chimères-Reiter können sich nicht so weit von ihren Wasserspeiern entfernen wie erfahrenere ältere«, antwortete Henri mit stolzgeschwellter Brust. »Dabei ist es unerheblich, ob sich Mensch und Gargoyle sehen oder sich zum Beispiel Wände oder Ähnliches zwischen ihnen befinden.«

»Ausnahmen?«

»Eine Kirche. Solange sich beide in einer Kirche aufhalten, gilt die Schritt-Regelung nicht.«

»Was passiert, wenn sich Reiter und Gargoyle gegen ihren Willen zu weit voneinander entfernen?«

Henri holte tief Luft, bevor er antwortete: »Beide sterben.«

»Wer ist in der Verbindung Herr und wer Diener?«, fragte Mirabeau unerbittlich weiter.

»Niemand. Es ist eine Vereinigung unter Gleichen. Keiner kann dem anderen etwas befehlen oder ihn zu Taten zwingen. Dennoch werden beide Seiten stets einem inneren Antrieb folgen, den anderen zu beschützen.«

»Wer kann die geistigen Worte eines Gargoyles vernehmen?«

»Nur sein Reiter. Niemand sonst«, parierte Henri augenblicklich.

Zufrieden nickte der Adlige. »Sehr gut.« Er trank den letzten Rest seines inzwischen erkalteten Tees. »Eine Frage habe ich noch.«

»Ich bin bereit.« Herausfordernd streckte Henri sein Kinn vor.

»Was passiert, wenn nur einer der beiden stirbt?«

»Ich ... ähm ...« Darüber konnte Henri leider bereits aus praktischer Erfahrung berichten. »Stirbt der Mensch«, erklärte er mit leiser Stimme, »versteinert sein Gargoyle an Ort und Stelle. Der Mensch hingegen kann weiterleben, sollte sein Wasserspeier vernichtet werden, aber er wird nur noch ein Schatten seiner selbst sein. Mithin ein halber Mensch, dem das Herz gebrochen und entzweigerissen wurde. Nie wieder wird er sich mit einem anderen Gargoyle verbinden können. Sein Leben wird von Trauer und Apathie bestimmt sein.«

Mit trauriger Miene schüttelte Mirabeau den Kopf. »Passt daher gut aufeinander auf!« Er fand sein einnehmendes Lächeln wieder. »Ihr seid theoretisch ganz gut vorbereitet, um einen Chimères-Reiter zu mimen. Leider müssen wir die praktischen Übungen im Umgang mit den Wasserspeiern noch etwas verschieben.«

»Ja, leider«, seufzte Henri. Plötzlich rieb etwas Raues, Warmes an seiner Schulter. Neiron. Henri genoss das Gefühl der Nähe und Verbundenheit. Er konnte sich bereits jetzt ein Leben ohne den Wasserspeier nicht mehr vorstellen.

Mirabeau lachte. »Dass sie unsere Gedanken und Gefühle lesen können, habt Ihr Euch sicher schon gedacht. Und an ihr flüsterleises Schleichen werdet Ihr Euch auch gewöhnen.« Er tätschelte seinem Gargoyle Archimbald liebevoll den gartenbankbreiten Rücken. »So, jetzt aber genug von unseren steinernen Freunden. Los, ab mit euch.«

Neiron warf Henri einen kurzen Blick aus seinen Saphiraugen zu.

»Geh nur!«, entließ Henri ihn lächelnd.

Auf Steinpfoten schlichen die beiden lautlos aus dem Salon.

»Für mich ist es an der Zeit, das Königreich mit Neuigkeiten von der Generalständeversammlung zu versorgen. Ich vermute, Finanzminister Necker wird sich wünschen, dass er seine Rede etwas kürzer gestaltet hätte.« Mirabeau erhob sich. »Ich setze mich an den Schreibtisch. Die Worte drängen geradezu danach, aus mir herauszufließen.« Ein wölfisches Grinsen umspielte seinen Mund. Er sah Henri direkt in die Augen. »Bereitet bitte im Keller alles vor, damit das Journal des États-Généraux noch heute in Massen unters Volk gebracht werden kann.«

»Bien sûr, mon comte!«, antwortete Henri. Er hatte Gefallen gefunden an seiner neuen Aufgabe als Drucker. In Mirabeaus Keller stand eine hochmoderne Druckerpresse, mit deren Hilfe man problemlos Tausende Exemplare der kritischen Publikation seines Gastgebers in kürzester Zeit auf Papier bringen konnte.

Mirabeau prostete Henri mit einem silbernen Rotweinkelch zu. »Dank Eurer tatkräftigen Hilfe weiß nun ganz Paris von Neckers Geschwafel und der eigentlichen Taktik des Königs. Während wir hier reden, wird das Journal die Seine rauf und runter in ganz Frankreich verteilt werden. Ein Hoch auf das freie Wort.«

Henri erhob seinen Milchbecher. Rotwein schmeckte ihm noch weniger als Tee. »Ich habe zu danken. Ohne Eure Hilfe wären Neiron und ich vermutlich längst in den Händen der Staatsgewalt und ...«

»Comte de Mirabeau«, dröhnte eine tiefe Stimme, gleichzeitig donnerten schwere Schläge gegen die Haustür. »Öffnet die Tür!«

Zu früh gefreut. Henri wurde übel. Sie haben mich gefunden.

Neiron, der neben ihm gedöst hatte, erhob sich augenblicklich. Sein steinerner Begleiter hatte vor Aufregung die spitzen Ohren hochgestellt.

Archimbald hatte es ihm nachgetan und sich neben Mirabeau aufgebaut. Die Saphiraugen der Gargoyles fixierten die Tür, an die noch immer donnernd geschlagen wurde.

»Comte, öffnet, oder wir werden die Tür einschlagen!«

Was sollen wir tun?

»Ich kann weder durch Tür noch Wände sehen, daher bleiben wir am besten erstmal hier stehen.«

»Ihr bleibt hier!«, sagte Mirabeau im gleichen Moment und zog seinen lindgrünen Abendrock glatt. Nach einem kurzen Blick in den Wandspiegel schritt er auf den Hauseingang zu.

Archimbald fiel es augenscheinlich schwer, diesem Befehl Folge zu leisten. Unauffällig versuchte er, dem Adligen dicht an den Boden gedrückt zu folgen.

Mirabeau schloss jedoch die weiß lackierte Salontür hinter sich und sperrte sie damit von den Ereignissen, die sich gleich im Flur zutragen würden, aus.

»Meine Herren, was hat dieser Aufruhr zu bedeuten?«, klang Mirabeaus gedämpfte Stimme kurz darauf durch die Tür.

Im gleichen Moment erhoben sich beide Gargoyles lauernd.

»Er macht das schon«, versuchte Henri sie zu beruhigen. »Wir sollen hier warten, vergesst das nicht.«

Es schien, als würden die beiden ihn nicht hören. Unbeirrt hielten sie auf die halbrunde Salontür zu. Ihre massigen Leiber würden das Holz durchbrechen, als wäre es dünnes Seidenpapier.

»Schluss jetzt, oder ich ...« Henri verschlug es die Sprache. Die beiden Mäuler der Gargoyles hatten grünlich zu schimmern begonnen. Der Strahl. Sie bereiten sich auf einen Angriff vor. »Hört auf!«, flehte er. »Wer auch immer dort draußen sein mag, wenn ihr ihn angreift, sind wir alle verloren.«

»Nicht irgendjemand ist hier, sondern ein Weiterer wie wir« , entgegnete Neiron, ohne den Blick von der Tür zu nehmen. Dennoch schrumpfte das gefährliche Glühen in den Mäulern der Wasserspeier zu einem Glimmen zusammen.

»Wie bitte?«, flüsterte Henri. »Noch ein Gargoyle?« Der Marquis. Sie haben uns gefunden.

»Ich verbitte mir Ihre Störung und Ihr Eindringen«, erklang wieder Mirabeaus selbstbewusste, in unzähligen Gerichtsschlachten gestählte Stimme.

Das genügte Archimbald offenbar. Mit einem Satz war er bei der Tür und durchschlug sie so spielerisch mit einem Prankenhieb, als hätte er nur eine lästige Fliege vertreiben wollen.

Was sich Henri dahinter offenbarte, bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Ein in Purpur gekleideter Trupp Chimères-Wächter hatte sich in die Eingangshalle gedrängt. Sie alle trugen jene langen Spieße mit den schwarzen Granitspitzen, die Henri schon in Versailles bemerkt hatte. Zwischen den auffällig gekleideten Männern thronte ein Wasserspeier, der Archimbald in nichts nachstand, doch diesem Wesen sah man an, dass es regelmäßig kämpfte. Sein linkes Ohr war abgebrochen, einige der Rückenstacheln fehlten und den Schwanz hatte man mit schwarzen Metallplatten verkleidet, um seine ohnehin gewaltige Zerstörungskraft noch zu steigern.

Augenblicklich belauerten die drei Gargoyles einander mit stechenden Blicken. Der Schein ihrer Saphiraugen erfüllte den nur mit einer Öllampe erleuchteten Raum. Neiron imitierte dabei perfekt Archimbalds Gebaren, dennoch wollte Henri sich gar nicht vorstellen, wie der deutlich kleinere Gargoyle sich in einem Kampf mit dem Gargoyle der Chimères-Wächter schlagen würde.

Das werde ich nicht zulassen! Panisch blickte er sich um. Wohin konnten er und Neiron fliehen? Ein Durchbruch durch die Reihen der Soldaten war nahezu aussichtslos. Die Treppe rauf ins Obergeschoss , sinnierte Henri. Doch es war zu spät.

»Wer ist das?«, brüllte einer der Soldaten und richtete seinen Spieß bedrohlich auf Henri. Die anderen senkten ihre Waffen gegen Neiron.

Sie haben uns. Ängstlich öffnete Henri den Mund, begann mit »Ich ...« und schloss ihn wieder.

»Das ist mein Großneffe«, übernahm Mirabeau das Reden für ihn. »Keine Sorge, mein Junge. Es kann sich hier nur um eine Verwechslung handeln.«

»Das glaube ich nicht, Comte.« Ein in einen purpurnen Rock und pechschwarze Kniehosen gekleideter Mann trat aus dem Dunkel vor der Eingangstür hervor. An seiner Hüfte baumelte lässig ein Degen, dessen Griff mit Saphiren und schwarzen Graniten gleichermaßen besetzt war. Das Kreuz mit den acht Spitzen, das er in einem roten Band über dem Oberkörper trug, wies ihn als Angehörigen des Malteserordens aus. Henri wusste, dass diese Männer bei Hof als Pagen des Königs fungierten. Eine Stellung, die ihnen trotz ihres relativ niedrigen Adelsstands sehr viel Macht verlieh.

»Baron Ailly«, begrüßte Mirabeau den Mann mit aufgesetzter Arroganz. »Habt Ihr und Euer steinerner Bluthund Euch verlaufen? Müsstet Ihr um diese Zeit nicht die Six füttern oder den Nachttopf Seiner Majestät leeren?«

Der Mann lächelte statt einer Antwort blasiert. Dabei kräuselte sich eine lange Narbe, die sein Gesicht schräg durchschnitt und es merkwürdig asymmetrisch aussehen ließ.

Nicht nur sein Gargoyle hat offenbar Kampferfahrung , überlegte Henri.

»Ich denke mal, dass es sich nicht um eine Verwechslung handelt, verehrter Comte«, ging der Baron souverän über den Spott hinweg und begann mit hinter dem Rücken verschränkten Händen selbstgefällig die Eingangshalle zu durchschreiten, als würde er durch seinen heimischen Salon laufen. Sein Gargoyle folgte ihm. »Ich bin genau dort, wo ich sein will.«

Henri versuchte, sich möglichst klein zu machen. Noch immer hielt der Musketier seinen Spieß auf ihn gerichtet. Jetzt kommt es, gleich wird er mit dem Finger auf mich zeigen und ›Illégitime!‹ schreien. Henris linke Hand suchte Neirons Kopf, der sich lauernd neben ihn gestellt hatte.

»Genauer: wo ich sein muss!«

»Wie habe ich das zu verstehen? Was habt Ihr in meinem Haus zu suchen, noch dazu um diese nachtschlafende Zeit? Erklärt Euch, bevor ich auf den Gedanken komme, mich über Euer ungebührliches Verhalten direkt beim König zu beschweren.«

»Beim König, sagt Ihr.« Ailly tätschelte den Hals seines hässlichen Gargoyles und ließ sein schiefes Narbengrinsen aufblitzen. »Ich wäre nur allzu interessiert, was er zu dieser Beschwerde sagen würde, zumal er mich persönlich zu Euch geschickt hat, verehrter Comte.«

Mirabeau kniff die Augen zusammen und auf seiner Stirn perlten kleine Schweißtropfen.

Er hat Angst , wurde Henri klar. Wie auch nicht , wer den König und seine Six nicht fürchtet, ist ein Narr.

»Wenn es um meinen Antrag geht«, erregte sich Mirabeau augenblicklich, »ich bin ein Abgeordneter, und während der Zeit der Generalstände ...«

»Nein, nein«, unterbrach Ailly ihn, »darum geht es nicht.« Scheinbar interessiert betrachtete er eines der Stillleben in Öl, das einen Teller voller exotischer Früchte zeigte, und schob es an der linken Rahmenecke ein wenig nach oben. Noch immer falsch grinsend drehte er sich um. »Ich hasse schiefe Bilder.«

»Baron«, wies Mirabeau mit einem süffisanten Lächeln auf den zwischen ihnen herrschenden Standesunterschied hin. »Ich verlange eine Erklärung. Jetzt!«

Archimbald schlug aufgeregt mit den Flügeln. Zwei der Chimères-Wächter wurden dadurch umgestoßen.

»Entschuldigt diese dumme Angewohnheit von mir«, entgegnete Ailly. »Ich liebe Ordnung und tue alles, damit sie erhalten bleibt. Und genau aus diesem Grund bin ich hier. Moment ...« Er steckte die Hand in seinen Rock und wühlte darin herum. Kurz darauf kam ein Stück Papier zum Vorschein.

Mehr als nur ein Papier , erkannte Henri. Es ist unser Journal.

Ailly wedelte damit triumphierend vor Mirabeaus Nase herum. »Seine Majestät lässt ausrichten, dass sie gar nicht erfreut ist über die Unverschämtheiten, die Ihr hierin verbreitet.«

Mirabeau lachte laut auf. »Ja, es ist tatsächlich unverschämt, was Finanzminister Necker gestern für einen Schwachsinn von sich gegeben hat.«

»Beleidigt Ihr den Minister Seiner Majestät, beleidigt Ihr gleichsam Euren König.« Der Baron warf die Zeitschrift auf den Boden. Sofort stürzte sich sein Gargoyle darauf und zerfetzte sie. »Das hier ist eine Warnung, Comte. Ändert Euren Kurs oder Euch und Eurem Gargoyle ergeht es genauso wie Eurem Schundblatt.« Er blickte Henri das erste Mal direkt in die Augen. »Falls Ihr meinen Rat haben möchtet, junger Herr: Haltet Euch in Zukunft von Eurem Anverwandten fern. Er bewegt sich auf einem Pfad, der nur eine Richtung kennt: in den Abgrund.«

»Ich werde gemeinsam mit ihm eine Brücke darüber bauen«, entschlüpfte Henri eine erstaunlich schlagfertige Erwiderung.

Mirabeau nickte ihm dankbar lächelnd zu.

»Wie Ihr meint.« Ailly zupfte seinen Rock glatt und warf sich affektiert die gelockte Perücke über die Schulter. »Hiermit verkündige ich, dass das sogenannte Journal des États-Généraux auf Geheiß Seiner Majestät verboten ist.« Wieder sah er zu Henri. »Jedermann, der an seiner Herstellung beteiligt ist, macht sich strafbar und wird aufs Schärfste verfolgt.« Aillys Gargoyle schlug bei diesen Worten mit dem eisenbewehrten Schwanz so heftig auf den Boden, dass die marmornen Fliesen splitterten. »Komm, Gawain, wir gehen«, wies der Baron ihn an.

Endlich verschwand der Spieß aus Henris Gesicht. Bereitwillig folgten die Chimères-Wächter ihrem Befehlshaber.

Da haben wir nochmal Glück gehabt, Neiron.

»Glück wären Reformen gewesen. So bleiben wir weiterhin verfolgte Wesen.«

Betrübt blickte Henri auf die Überreste des Journals. Da hat er recht, gestand er dem Gargoyle zu. Wenn sich in Frankreich nicht grundlegend etwas verändert, werden wir niemals in Frieden leben können. Er sah zu Mirabeau. Henris Retter war blass und ließ die Schultern hängen. Es schien, als wäre alle Energie aus ihm entwichen. Unsere größte Hoffnung auf Veränderung hat der König soeben zerstört.