7. Mai 1789, Paris, Rue du Faubourg Poissonnière, Königreich Frankreich
»Guten Morgen, ma petite«, holte eine rauchige Frauenstimme Catia aus ihren unruhigen Träumen. Immer wieder hatte sie im Schlaf gesehen, wie dem Schiffer Matteo das Blut aus dem aufgerissenen Hals schoss und er sie dabei anklagend ansah. Das habe ich getan. Kälte überkam sie. Unbewusst winkelte sie die Beine an.
Die Dame, die sie aus dem Schlaf gerissen hatte, sprach leise: »Hab keine Angst, mein Kind, du bist jetzt wieder unter deinesgleichen.«
Catia betrachtete ihre Retterin. Die Frau war in eine silbrig schimmernde, ausladende Contouche gekleidet. Das prunkvolle Kleid war über und über mit farbenfrohen Vögeln bestickt, die so gearbeitet waren, dass man bei jeder Bewegung des Kleids glaubte, sie würden fliegen. Obwohl Catia sich sicher war, dass niemand woanders hinschaute als auf das ungeheure Dekolletee. Die Brüste der Dame waren so eng verschnürt und nach oben gepresst, dass Catia glaubte, sie würden beim nächsten Atemzug aus dem Kleid herausspringen. Die Haare trug sie zu einem grotesk aufgetürmten Pouf à la Victoire, auf dessen Spitze sich Farne und gefärbte Straußenfedern türmten. Es erschien Catia wie ein Wunder, dass die Frau damit überhaupt noch ihren Kopf bewegen konnte. »Wo bin ich?«
»Im Bett, mein Liebes!« Die Frau lachte, was sich wie ein trockenes Rasseln anhörte.
Und in was für einem. Catia lag in einem riesigen, mit rosa Spitzenborten verzierten Himmelbett. Man hatte eine Decke über sie gelegt, die so schwer war, dass Catia meinte, davon erdrückt zu werden. Außerdem war sie viel zu warm. Hektisch mit den Beinen strampelnd, befreite sie sich davon.
»Ah, das Leben kehrt zurück«, kommentierte die Unbekannte. »Es ist vermutlich eine Weile her, dass du dich so betten konntest.«
Bevor sie antwortete, sah sich Catia um. Das Bett stand inmitten eines Zimmers, dessen Wände mit roter Stofftapete und zahlreichen Spiegeln und Bildern ausgestattet waren. Als Catia sich die Gemälde genauer anschaute, errötete sie unfreiwillig. Es waren ausnahmslos Aktdarstellungen oder Bilder nackter Paare während des Liebesspiels. So werde ich mich hoffentlich nie wieder betten.
Wieder lachte die Frau. »Bist du etwa prüde?« Sie stand auf und stellte sich neben eines der Bilder, das ein junges Mädchen nackt mit dem Bauch auf einem grünen Kanapee liegend zeigte. »Das hier mochte Seine Majestät Louis XV. besonders gern. Da bin ich aber auch noch knackig. Ich wette, du würdest ähnlich aussehen, wenn der Maler dich als Modell zur Verfügung hätte.«
Unwillkürlich zog Catia die Decke wieder hoch. »Meint Ihr den verstorbenen König?«, fragte sie vorsichtig.
Jetzt lachte die Frau wieder rasselnd. »Genau den. Ich war viele Jahre eine seiner bevorzugten Mätressen.« Sie deutete einen Knicks an. »Sicher weißt du alles über uns legendäre Nebenfrauen, oder? Das halbe Land zerreißt sich ja über uns das Maul, während die andere Hälfte gern mit uns ins Bett würde.«
Über Mätressen wusste Catia wenig bis gar nichts – der Preis einer behüteten Jugend auf dem Lande. »Leider nicht, Madame.«
»Mon dieu, was bist du doch noch für ein Küken. Eine echte Unschuld, im wahrsten Sinne des Wortes, würde ich wetten.«
Erneut errötete Catia. Bastien hätte ich meine Unschuld geopfert. Sie zwang sich, nicht länger an den Bauernjungen zu denken.
»Mach dir nichts draus, Süße. Irgendwann kommt schon der Richtige für dich. Meine Unschuld hat mir der König von Frankreich geraubt.« Ein seliges Grinsen schlich sich auf Marie-Louises Gesicht. »Dieses Bild von mir hat ihm so gut gefallen, dass er nicht anders konnte, als seinen Kammerdiener nach mir suchen zu lassen. Nachdem er mich endlich gefunden hatte, führte mich Seine Majestät in eine Welt ein, in der ich berühmt werden sollte. Vielleicht hast du ja von mir gehört, ich bin Mademoiselle de Morphy, auch La Belle Morphise genannt.« Die Frau klimperte mit den Wimpern, als wäre Catia der König, den sie verführen wollte.
»Leider noch nicht, Madame.«
Obwohl sich auf dem im Vergleich zum Gemälde deutlich gealterten Gesicht der Frau Enttäuschung abzeichnete, trällerte sie fröhlich: »Du kannst mich Marie-Louise nennen, wenn du magst. So hält es ohnehin fast jeder.«
»Gern, Madame ... ähm ... Marie-Louise.«
»Ich sehe dir an, dass du mich für das verurteilst, was ich tue oder getan habe. Doch verwechsle eine Mätresse nicht mit einer Dirne. Wir sind viel mehr als nur Geliebte des Königs. Wir stehen ihm auch mit Ratschlägen und Diensten zur Seite. Dafür werden wir ein Leben lang entlohnt und großzügig unterstützt.« Sie vollführte eine ausladende Geste, die vermutlich das gesamte Haus umfassen sollte. »Mätressen sind offizielle Nebenfrauen des Königs. Mit allen dazugehörigen Rechten und Pflichten. Allerdings gibt es auch bei uns Abstufungen. Die Maîtresse régnante wird offiziell bei Hof vorgestellt. Selbst die höchsten Adligen zollen ihr Respekt. Sie spricht sich sogar mit der Gattin des Herrschers ab, damit es nicht zu unschönen Begegnungen kommt. Jeder mächtige Mann weiß, dass solch eine Frau so nah am Ohr des Königs ist, wie er es niemals sein kann. Wenn du verstehst, was ich meine.« Sie zwinkerte Catia frivol zu. »Ich allerdings war eine petite Maîtresse. Mich hat man nie offiziell am Hof vorgestellt.« Sie seufzte und strich über ihr Selbstbildnis. »Louis wollte sich ganz für mich allein haben. Außerdem bin ich nicht von Geburt an adlig. Das bedeutete ein Leben im Schatten seiner Ehefrau und der offiziellen Mätressen. Dennoch lebte ich fast zwei Jahre im Schloss Versailles.« Sie streckte sich stolz. »Jede Nacht ist er zu mir gekommen. Seine Hoheit konnte kaum die Finger von mir lassen. Zum Dank habe ich ihm eine gesunde Tochter geschenkt, die er angehimmelt hat.« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Das gefiel seiner Maîtresse régnante gar nicht. Sie hat gegen mich intrigiert.« Zornesfalten zeichneten sich auf dem bisher so kontrollierten Gesicht der Mätresse ab. »Madame de Pompadour, dieses elende Miststück.«
Diesen Namen wiederum kannte Catia. Vermutlich kannten ihn alle.
Marie-Louise vollführte eine wegwerfende Geste. »Wie dem auch sei. Ich wurde aus dem Palast verstoßen und muss nun hier mein Dasein fristen.«
Du Ärmste. Ein Leben in einem Stadtpalast voller teurer Kleider und Möbel. Erzähl das besser nicht denen, die gestern Abend laut nach Freiheit und Gleichheit gerufen haben , dachte Catia amüsiert.
» Aber da rede ich nur von mir. Wie geht es dir, Kind?«
Vorsichtig lüftete Catia die Decke. Sie war in ein dünnes Nachthemd gekleidet und darunter nackt. »Was ist passiert?«
»Du meinst, nachdem mein Kutscher dich auf dem Weg in die Stadt fast überfahren hat und ich dich dann vor dem wütenden Pöbel gerettet habe, der dich am liebsten umgebracht hätte?«
Nachdenklich kratzte Catia sich am Hinterkopf. An diese Begebenheiten konnte sie sich noch erinnern. Auch an eine rasende Kutschfahrt durch die Stadt, danach aber verschwand alles in Dunkelheit. »Genau«, sagte sie daher nur.
»Tja, das ist eigentlich keine besonders aufregende Geschichte. Ich hatte solch ein schlechtes Gewissen, weil du durch meine Kutsche fast zu Tode gekommen bist. Was war ich überrascht und erfreut zugleich, als ich dich dann auf der Place Louis XV. wiederentdeckte. Wir haben dich im letzten Augenblick vor der mordlüsternen Meute gerettet. Kaum warst du eingestiegen, bist du in Ohnmacht gefallen und warst nicht mehr wach zu bekommen. War wohl in letzter Zeit alles ein bisschen viel für dich.« Sie schenkte Catia ein mitleidiges Lächeln.
Habe ich etwa endlich jemanden gefunden, dem ich etwas bedeute? Hoffnung kam in ihr auf.
»Der Kutscher hat dich in mein Haus geschafft, aber natürlich konnte ich es nicht zulassen, dass du in deinem Zustand in eines meiner Betten kletterst. Daher habe ich dich von meinen Mädchen waschen und parfümieren lassen, bevor du hier in den Salon rouge gebracht wurdest. Übrigens ein exakter Nachbau meines Schlafzimmers in Versailles.«
Ich wurde gegen meinen Willen nackt ausgezogen und gewaschen. Eine Welle der Scham überrollte Catia. Sie fühlte sich benutzt und schmutziger als zuvor auf der Straße.
»Schau nicht so, mein Kind. Ich habe dir einen Gefallen getan.«
Catia wollte schon zu einer wütenden Erwiderung ansetzen, da sagte die Frau etwas, das sie jedes Wort des Protests vergessen ließ.
»Was hätte dein Vater von mir gedacht, wenn ich seine kleine Catia mit dreckigen Füßen ins Bett gebracht hätte?«
Erschrocken setzte sich Catia im Bett auf. »Was wisst Ihr über meinen Vater?«
»Leider nicht viel mehr, als dass er tot ist und man sein Haus«, sie kam Catia unangenehm nahe und verströmte dabei einen aufdringlichen süßen Geruch nach Rosenwasser, »dein Haus niedergebrannt hat. So ist es doch, Freiin d’Argenton, oder irre ich?«
Gegen ihren Willen stiegen Catia Tränen in die Augen. »Woher wisst Ihr ...«
»Ich habe so meine Verbindungen. Wenig entgeht mir.« Sie strich Catia über den Kopf. Eine Geste, die vermutlich mütterlich wirken sollte, sich für Catia aber eher besitzergreifend anfühlte. »Vielleicht können du und ich uns sogar helfen.«
»Wie meint Ihr das?« Catia wischte sich mit dem Handrücken ihre Nase ab.
»Das solltest du in Zukunft lassen!«, ermahnte Marie-Louise sie. »Eine Dame putzt sich die Nase höchstens mit einem Tuch aus Seide, ansonsten läuft ihre Nase schlicht nicht. Nun, ich könnte dir dabei helfen, dass die Verbrecher, die deiner Familie dies angetan haben, gefunden und angemessen bestraft werden.«
Dafür würde ich alles tun. »Was verlangt Ihr dafür?«
»Nicht sehr viel, nur dass du dich schick anziehst, Manieren zeigst und eine angenehme Gesprächspartnerin bist. Ich will dich nämlich bei Hof einführen.«
»Warum?«
»Du bist ganz schön neugierig, über kurz oder lang wirst du es aber ohnehin herausfinden, die Tratschmäuler im Palast stehen ja niemals still und ich bin mir sicher, dass sie ihren Weg auch an dein Ohr finden werden. Ich will mit deiner Hilfe wieder zu einer Logeante werden. Du bist wahrlich das Interessanteste, was mir seit Langem untergekommen ist, und ich bin mir sicher, dass man das bei Hof ebenfalls so sehen wird.«
»Logeante?«, fragte Catia verwirrt. »Was soll das bedeuten?«
Die Mätresse kicherte. »Oh, welch glücklich kenntnisloses Leben du bisher doch geführt hast.«
Das genaue Gegenteil ist der Fall , ärgerte Catia sich. Das Wort Glück zur Umschreibung ihres Lebens zu benutzen, verbot sich geradezu. Dennoch hörte sie weiter zu. Gehen konnte sie auch noch, nachdem sie sich die Geschichte der Mätresse angehört hatte.
»Nun, das Leben am Hof des Königs ist kompliziert und von unzähligen offiziellen und inoffiziellen Regeln geprägt. Jeder Adlige, der in eine machtvolle Position kommen will, muss Louis XVI. körperlich nah sein und im besten Falle ein Amt ausüben, das diesem direkt zugutekommt. Natürlich gibt es für all die feinen Herren und Damen im Reich nicht mal annähernd genügend Positionen und Plätze an des Königs Seite, sodass sie sich in einem ständigen Machtkampf um die begehrtesten Ämter befinden.
Der erste Kampf, den man um die Gunst Seiner Majestät zu gewinnen hat, ist, dass man im Schloss Versailles leben darf. Diese Günstlinge nennt man Logeants. Natürlich gibt es auch unter diesen noch Abstufungen. Diejenigen, denen der König besonders gewogen ist, bekommen große und herrschaftlich ausgestattete Räume, andere hingegen müssen sich mit besseren Besenkammern im Schlosstrakt zufriedengeben.« Marie-Louises Stimme wurde nun sehr leise. »Jeder Marquis würde die Besenkammer auf Schloss Versailles dem herrschaftlichsten Anwesen in Paris vorziehen, weil sie Macht und Einfluss bedeutet. Und das ist tausendmal mehr wert als jede Bequemlichkeit.« Das Gesicht der Mätresse hatte sich zu einer Maske der Unzufriedenheit verzogen. Die dicken Schichten Rouge, die sie aufgetragen hatte, bröckelten unter den hervortretenden Falten. Sie schien ihre Gefühlswallungen zu bemerken und gab sich mit einem Mal betont gelassen.
»Dann gibt es noch eine zweite Gruppe von Hofschranzen. Auch sie haben Einfluss und können den König täglich sehen, aber sie dürfen nicht in Versailles nächtigen. Es sind die Galopins, die mit der Kutsche hinfahren. Ich gehöre seit meiner Verbannung dazu. Ganz wollte Louis XV. dann doch nicht auf mich verzichten.« Sie holte ein himmelblaues Seidentuch hervor und betupfte ihre Augen, obwohl Catia nicht eine Träne entdeckte. »Diese Schmach zu tilgen, treibt mich an«, näselte sie weinerlich. »Und mit deiner Hilfe könnte ich es schaffen, meinen mir zustehenden Platz einzunehmen und die Intriganten zu bestrafen.« Ein flehendes Lächeln legte sich auf ihren grellrot geschminkten Mund. »Wirst du mir helfen?«
Nichts lag Catia ferner, als dieser verwelkten Schönheit bei ihren belanglosen Hofränken zu helfen, aber die Frau war als ehemalige Geliebte eines Königs so nah am Puls der Macht, wie es nur ein Mensch sein konnte, daran gab es nichts zu rütteln. Aber sie muss wissen, dass ich mich nicht vor ihr für dumm verkaufen lasse. »Schwört mir, dass Ihr dafür sorgt, dass diejenigen, die meiner Familie all das angetan haben, bestraft werden!«, zischte Catia und umfasste hart Marie-Louises Unterarm.
»Aua!« Die Mätresse versuchte sich aus der Umklammerung zu befreien. Vergeblich. »Oh, là, là, du bist ja ein richtiger Wildfang.« Sie fixierte Catia mit ihren rehbraunen Augen. »Also gut, ich schwöre, dass ich dir mit meinen zahlreichen Kontakten in die höchsten Sicherheitskreise helfen werde, Rache zu nehmen, nachdem du mir geholfen hast, wieder eine Logeante zu werden.« Sie lächelte süffisant. »Das willst du doch: Rache. Stimmt’s?«
»Ja«, knurrte Catia, als wäre sie ein wildes Tier.
»Dann wäre das ja geklärt. Könntest du nun bitte meinen Arm loslassen? Er ist sicher schon ganz blau.«
Augenblicklich ließ Catia los. »Entschuldigt.«
»Kein Problem, und hier kommt schon deine zweite Lektion fürs Überleben am königlichen Hof: Du darfst dich niemals entschuldigen!«
»In Ordnung. Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?«
Marie-Louise lachte dröhnend. »Mehr, als du dir vorstellen kannst. Die Etikette bei Hof ist von so komplizierter Natur, dass wohl manchmal nur der König und sein Zeremonienmeister sie verstehen. Aber jetzt zieh dich erstmal an.«
Ratlos blickte sich Catia um. In dem Zimmer befand sich außer dem riesigen Bett kein weiteres Möbelstück, in dem ihre Kleider aufbewahrt werden konnten. »Ich ...«, begann sie unsicher. »Was soll ich anziehen?«
Die Mätresse klatschte in die Hände. »Ich habe da etwas für dich.«
Vier junge Mädchen in schlichten, schwarzen Wollkleidern traten ein. Sie waren bepackt mit Kleidern, Schuhschachteln, Perückenköpfen, Kisten voller Schminktiegel und Parfümflaschen sowie allerlei anderem, dem Catia nicht sofort einen Sinn zuordnen konnte.
»Was ist das alles?«
»Alles, was du benötigst, um bei Hof bestehen zu können. Kleidung ist ein Privileg, vergiss das nicht. Nur Angehörigen des Adels steht es etwa zu, Seide zu tragen.« Marie-Louise fuhr mit der Hand über ein perlmuttfarbenes Kleid, das im Schein der Morgensonne verführerisch schimmerte. »Oder Silber.« Elegant wies die Mätresse auf eines der Schuhpaare, das mit silbernen Schnallen versehen war. »Vom königlichen Pelz gar nicht zu reden, er verkörpert schon von Natur aus das Jagdprivileg des zweiten Standes.« Marie-Louise hielt Catia einen Muff aus Hermelinfell entgegen. »L’habit fait le moine, vergiss das niemals.«
Eifrig nickte Catia. Nur wer angemessen gekleidet war, wurde ernst genommen.
»Nun denn, machen wir eine Hofdame aus dir.« Marie-Louise klatschte befehlend in die Hände.
Sofort begann eines der Mädchen die Bettdecke wegzuziehen. Ein anderes schob den Träger von Catias Nachthemd herunter. Alles für meine Rache , dachte Catia grimmig.