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Die Spionin

19. Juni 1789, Paris, Königreich Frankreich

»Sind das alle?«, fragte der glatzköpfige Kutscher, kratzte sich schmatzend ein Stück Petersilie aus den Zähnen und betrachtete es einen Augenblick, bevor er es sich wieder in den Mund steckte.

Henri überblickte die Kisten, die der breitschultrige Mann mit ihm auf seinen offenen Pferdekarren geladen hatte. »... huit, neuf, dix ...« Er drückte sich an der Wand des Wagens hoch, um besser hineinsehen zu können. »Und da ist auch schon Kiste Nummer elf. Ja, ich denke, du kannst los. Es sind alle da.«

Der Wagenführer rührte sich nicht von der Stelle, sondern rieb stattdessen Daumen und Zeigefinger aneinander. »Auch wenn ich die Botschaft, die ich befördere, gutheiße, ja sogar unterstütze, muss meine Familie essen, junger Herr.«

Dies entlockte Henri ein schiefes Lächeln. »Natürlich, guter Mann.« Er griff in seine Hosentasche und beförderte die vereinbarte Transportgebühr und ein üppiges Trinkgeld hervor.

Mit einer übertriebenen Verbeugung nahm der Mann das Geld entgegen. »Habt Dank und sendet dem Comte bitte meine ergebensten Grüße.«

Henri nickte abwesend. Er hatte sich bereits dem nächsten wartenden Kutscher zugewandt. Es galt, schnell zu sein, um die Lettres du comte de Mirabeau à ses commettants übers ganze Land zu verteilen. Henri musste schmunzeln, als er an den Abend dachte, an dem die Chimères-Wächter bei Mirabeau eingedrungen waren und ihn unter Strafandrohung dazu gezwungen hatten, sein Journal des États-Généraux einzustellen. Der schlaue Adlige hielt sich bis heute ordentlich an diesen Rechtsspruch.

Allerdings, mit den Briefen des Grafen Mirabeau an seine Mandanten hatte er drei Tage danach einfach eine neue Zeitung gegründet. Am Inhalt des Journals hatte er natürlich nichts geändert. So einfach ließ sich das vorgeblich allmächtige Herrschaftssystem des Königs überlisten. Inzwischen waren die kritischen Berichte aus dem Innern der Generalständeversammlung so erfolgreich, dass Mirabeau mit Étienne Clavière und Étienne Dumont zwei Mitarbeiter eingestellt hatte, die ihn bei seiner journalistischen Arbeit unterstützten. Henri war die Aufgabe zugefallen, die Zeitungen zu drucken und für ihren Versand im ganzen Land zu sorgen. Er war erstaunlich erfolgreich bei dieser neuen Aufgabe und hatte in kürzester Zeit ein noch größeres Vertriebsnetzwerk aufgebaut, das die Nachrichten mittlerweile überall im Königreich verteilte. Dank wohlhabender Spender aus dem Pariser Bürgertum war die Auflage der kritischen Zeitschrift bisher jeden Monat gestiegen.

»Gute Fahrt«, verabschiedete Henri den letzten Kutscher. Dieser Mann würde dafür sorgen, dass sich auch die Bürger im milden Süden und am Mittelmeer über die Ereignisse in Paris informieren konnten. Einen Moment sah er dem Eselskarren nach, der zum Hoftor hinausrollte. Ein langes Seufzen entwich ihm. Am liebsten wäre er auf den Wagen gesprungen und mit ihm durch das Land gefahren.

Neiron spürte seine Gefühlsregung augenblicklich, kam aus seinem Versteck hinter einigen großen Kisten hervor und stupste ihn mit der Nase an. »Ein Gefängnis ist nur dann das Leben, wenn wir keine Hoffnung mehr hegen.«

Traurig lächelte Henri den Wasserspeier an. »Ich weiß, aber momentan leben wir in einem echten Gefängnis. Solange sich nichts an der gesellschaftlichen Lage ändert, bleiben wir geächtet und jeder Schritt vor die Tür könnte uns zum Verhängnis werden.« Er sah dem Wesen in die grünen Augen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber ich würde wirklich gern mal wieder auf deinem Rücken sitzen und durch die Lüfte fliegen.«

Der Gargoyle öffnete seine beeindruckenden Schwingen. Etliche Stapel Papier wehten davon. »Ich bin bereit, komm, lass uns gehen, auch ich muss die Welt mal wieder von oben sehen.«

Mit gequältem Gesichtsausdruck tätschelte Henri dem Gargoyle den Schädel. »Du weißt, dass das nicht geht. Vielleicht ...«

»Bonjour«, erklang plötzlich eine junge weibliche Stimme.

»Schnell, versteck dich!«, raunte Henri Neiron zu.

»Hallo, ist hier jemand? Mir war, als hätte ich gerade Stimmen gehört.«

Verflixt , ärgerte Henri sich über seine Nachlässigkeit. Er hätte längst das Tor schließen müssen. »Moment, ich komme.« Er trat hinter den aufgestapelten Kisten hervor. Was oder besser wen er sah, ließ ihn alle Nachlässigkeit vergessen. Jetzt war er froh, dass er das Tor nicht geschlossen hatte. Vor ihm stand ein hübsches, junges Mädchen. Schüchtern lächelte sie ihn an und offenbarte dabei eine ebenmäßige Reihe strahlend weißer Zähne und die niedlichsten Grübchen, die er je gesehen hatte. Ihrem fast schon puppenhaften Gesicht verlieh ihre markante Adlernase einen verwegenen Ausdruck, der Henri an wilde Schlachten im Stroh und Floßfahrten über Stromschnellen denken ließ. Ein Mädchen zum Pferdestehlen , würde meine Mutter dazu sagen. Ihre prunkvolle Kleidung und die unverhältnismäßig hohe Perücke trübten diesen Eindruck allerdings gewaltig. Dieses Mädchen hatte vermutlich in ihrem Leben noch nie einen Stall betreten, geschweige denn irgendeine Regel verletzt. Henri musste sich zwingen, den Blick niederzuschlagen, um sie nicht anzustarren. »Wie kann ich Euch helfen?«, fragte er mit trockenem Mund und betrachtete seine staubbedeckten Stiefelspitzen.

»Seid Ihr einer der Bediensteten des Comte de Mirabeau?«

Henri blickte verwirrt auf. Sie sah ihn nun direkt aus ihren dunkelbraunen Augen an. Wunderschöne Augen. »Ja, ich bin sein Neffeiter«, verwirbelte seine Zunge die Wörter Neffe und Mitarbeiter, weil sein Kopf sich nicht schnell genug für eine Lüge entscheiden konnte.

»Oh sicher, der Neffeiter«, wiederholte sie und verzog ihre schön geschwungenen Lippen zu einem leichten Lächeln.

»Willst du dich paaren, darfst du nicht an schönen Worten sparen« , drang zu allem Überfluss auch noch Neirons Spott in seinen Kopf.

»Bist du wohl still«, knurrte er genervt.

»Entschuldigung, ich ...« Das Mädchen lief rot an. Trotz ihrer eleganten Kleidung schien sie nicht besonders selbstbewusst zu sein.

»Nein, Ihr doch nicht. Ihr dürft so viel reden, wie Ihr wollt, Mademoiselle«, versicherte Henri augenblicklich und lief mit beruhigend nach vorn gerichteten Handflächen auf sie zu.

Die Geste erfüllte nicht den erwünschten Zweck. Das Gegenteil war der Fall. Sie ging mit ängstlich geweiteten Augen rückwärts.

»Gut gemacht, würde ich sagen, das nennt man dann wohl Weibchen verjagen.«

Henri seufzte. »Bitte, habt keine Angst. Mein Name ist Henri.« Er legte die linke Hand beschwichtigend auf seine Brust. »Ich bin Comte de Mirabeaus Großneffe.«

Die Besorgnis in ihrem Gesicht schwand langsam. »Oh, dann bitte ich um Entschuldigung.« Sie betrachtete ihn einen Moment intensiv.

Henri wurde sich seiner einfachen Arbeitskleidung bewusst. Vielleicht hätte ich doch lieber ›Mitarbeiter‹ sagen sollen.

»Man sagt, Lügen haben kurze Beine, deine sind so schlecht, die haben keine.« Neiron war heute wahrlich in Höchstform.

»Ich bin manchmal gern unter einfachen Leuten, deswegen dieser gewöhnliche Aufzug«, versuchte er sie mit Großspurigkeit einzunehmen.

»Wie hochherzig von Euch«, entgegnete sie mit eiskalter Stimme. Das schöne Lächeln verschwand von ihrem Gesicht, als wäre es nie da gewesen.

»Ich kann zwar nicht viel sehen, aber was ich höre, sagt mir, ihr werdet euch nicht besonders gut verstehen.«

So gut es eben ging, versuchte Henri die Spitzen seines Gargoyles auszublenden. »Was wollt Ihr von meinem Großonkel? Vielleicht kann auch ich Euch helfen«, versuchte er stattdessen mit Hilfsbereitschaft zu punkten.

Der Versuch schlug fehl. »Das würde ich ihm lieber persönlich sagen«, ließ sie ihn abblitzen.

Ich habe es versaut , ärgerte Henri sich über sein unbeholfenes Verhalten.

»Steck den Kopf nicht in den Stein, manchmal soll es eben nicht sein« , versuchte Neiron ihn zu trösten.

Ja, so ist es wohl.

Ein spitzes Räuspern holte Henri aus seinem stummen Zwiegespräch mit Neiron.

Das Mädchen.

Er hatte sich so sehr über sich selbst geärgert, dass er sie fast vergessen hatte.

Zwischen ihren akkurat gezupften Augenbrauen hatte sich vor Ärger eine Falte gebildet. »Nun, würdet Ihr mich dann freundlicherweise zu Eurem Großonkel bringen?«

»Natürlich. Wenn Ihr mir bitte wolgen follt.«

Eine intensive Welle der Erheiterung drang von Neiron in seinen Geist.

»Ähm ...«

Henri spürte, dass er rot wurde. »Folgen wollt, meine ich natürlich.« Um weiteren Peinlichkeiten zu entgehen, drehte er sich um und stürmte ins Haupthaus. Stumm folgte sie ihm. Henri konnte ihren Blick in seinem Nacken spüren. Sie hält mich sicher für einen kompletten Idioten. Nun sag schon irgendetwas, Henri , schalt er sich selbst.

Es war Neiron, dessen Auftauchen die unangenehme Stille zwischen ihnen unterbrach.

»Hallo, wer bist du denn?«, begrüßte die Unbekannte ihn.

Danke! Henri war beeindruckt, dass sie keine Angst vor dem Wasserspeier hatte. »Das ist Neiron«, erklärte er und drehte sich um: »Mein Gargoyle«, betonte er stolz.

Sie betrachtete ihn erneut eindringlich.

Was sieht sie? , grübelte er. Einen Adligen, der sich vorgeblich wie ein Angehöriger des dritten Standes anzieht, oder einen einfachen Diener mit eigenem Wasserspeier? Ihm lief ein kalter Schauer den Rücken herunter, als er bemerkte, welch ein widersprüchliches Bild er hier gerade ablieferte – und in welche Gefahr er sich damit brachte. Warum nur hatte Neiron sich nicht im Verborgenen gehalten, wie er es ihm aufgetragen hatte?

»Ich kann Menschen besser lesen als du. Sie ist nett, trotz ihrer hässlichen Schuh’« , verteidigte sich der Wasserspeier.

Irritiert betrachtete Henri ihre mit Silberschnallen besetzten Schuhe. Eine nette Adlige, gibt es so was überhaupt?

Als sie vor Mirabeaus Büro standen, sagte Henri: »Einen Augenblick, bitte.« Er klopfte sacht an die Tür. Er wusste, dass sein Gastgeber nicht gern gestört wurde, wenn er über Rechtstexten, Artikeln, Dekreten oder was auch immer brütete.

»Entrez«, erklang es dennoch sofort durch die geschlossene Tür. Vielleicht gab sich sein Mentor bei dem warmen Wetter ja ausnahmsweise dem Müßiggang hin.

»Wartet hier«, bat Henri das unbekannte Mädchen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er noch gar nicht nach ihrem Namen gefragt hatte. »Wen darf ich meinem Großonkel melden?«

»Catia d’Argenton.«

Ein schöner Name, aber leider adlig , dachte Henri betrübt. Selbst wenn er sich beim ersten Kennenlernen weniger dumm angestellt hätte, wäre dieses Mädchen unerreichbar für ihn. Er nickte und drückte die Tür auf.

»Henri, mein Lieber«, begrüßte Mirabeau ihn gut gelaunt und blickte von dem Stapel Papiere auf, über dem er saß.

Also doch kein Müßiggang , dachte Henri schmunzelnd.

»Was verschafft mir die Ehre? Sind Euch da unten etwa die Zeitungen ausgegangen?« Der pockennarbige Adlige lachte dröhnend über seinen eigenen Scherz und steckte seine Füllfeder zurück in das Tintenfässchen.

Henri schielte auf das Glas dunklen Burgunderwein, das halb leer auf dem polierten Schreibtisch stand. Daher die gute Laune. »Es ist Besuch für Euch gekommen.«

Sofort verengten sich die Augen des Comte zu wachsamen Schlitzen. Obwohl die Obrigkeit ihn aktuell aus dem Blick gelassen hatte, war dem Adligen klar, dass sich dies jederzeit ändern konnte. »Wer ist es?«

»Eine Mademoiselle d’Argenton.«

»Sagt das doch gleich!« Leichtfüßig sprang Mirabeau hinter seinem Schreibtisch hervor und eilte zur Tür.

»Catia«, begrüßte er zu Henris Verwunderung das Mädchen freudestrahlend und hauchte ihr galant Küsse auf jede Wange. »Lasst Euch ansehen! Was seid Ihr groß geworden. Als ich Euch das letzte Mal gesehen habe, konntet Ihr kaum laufen und habt auf den Boden gepinkelt oder Schlimmeres.« Er lachte gackernd.

Jetzt war es an dem Mädchen, rot zu werden.

Henri verspürte keine Genugtuung, sondern fand sie dadurch nur noch hinreißender. Betont verdrehte er die Augen, um ihr zu signalisieren, dass sein angeblicher Großonkel eben manchmal zur Peinlichkeit neigte und sie sich deswegen nicht zu schämen brauchte.

Zu seiner Freude funktionierte es. Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln.

Henris Herz überschlug sich fast vor Freude.

»Ich bitte dich, die Contenance zu wahren, noch ist keine Zeit, um sich zu paaren« , frotzelte Neiron, stupste ihn aber gleichzeitig anerkennend mit der Schwanzspitze ans Bein.

»Kommt doch herein, mein liebes Kind. Warum so schüchtern?«

Catia deutete einen kleinen Knicks an. »Danke, dass Ihr mich empfangt, Comte.«

»Aber natürlich. Für die Tochter meines alten Freundes Rousel habe ich doch immer Zeit.« An Henri gewandt sagte er: »Catias Familie stammt von der rauen Küste der Normandie. Mein guter Archimbald und ich haben dort vor langer Zeit einige besondere Sommer verbracht. Die Flüge gemeinsam mit Catias Vater entlang der Steilküste gehören zu meinen schönsten Jugenderinnerungen. Das müssen Neiron und du irgendwann auch mal machen. Wie geht es meinem alten Studienfreund?«

»Er ist tot.«

Auf Mirabeaus Gesicht spiegelte sich echte Bestürzung. »Das ist eine äußerst betrübliche Nachricht.« Kraftlos ließ er sich auf den Rand seines Schreibtischs sinken. »Was ist passiert?«

Die Geschichte, welche die junge Adlige auf diese Frage hin erzählte, trieb Henri Tränen in die Augen. Sie hatte so viel Leid erlebt, dass ihm sein eigenes Schicksal dagegen schon profan vorkam.

Mirabeau nahm das schluchzende Mädchen in den Arm und strich ihr tröstend über den Rücken. »Es tut mir so leid. Gut, dass Ihr endlich hier seid.«

Sie löste sich von ihm und beförderte ein Tuch aus den Tiefen ihres Kleides hervor, um sich die Augen zu tupfen. »Leider kann ich nicht lange bleiben.«

»Wie meint Ihr das? Ich nehme Euch nur zu gern unter meinem Dach auf. Ich hätte Euch und Eurer Familie schon viel früher zur Seite stehen müssen. Nach dem Tod Eurer Mutter war ich Rousel kein guter Freund. Ich schäme mich deswegen zutiefst, bitte glaubt mir. Es wäre mir eine Ehre, wenn ich ein klein wenig von diesem Versagen wiedergutmachen könnte.«

»Es freut mich, das von Euch zu hören, aber ich will mich nicht länger verkriechen. Ich will mich Eurer Sache anschließen und dafür sorgen, dass der Muff der Monarchie endlich aus diesem Land weht.« Entschlossen stellte sie ihre Hände in die Hüfte.

Henri glaubte nicht, was er da hörte. Dieses Mädchen war so vielschichtig wie eine dieser rosa Zwiebeln aus der Bretagne.

Mirabeau nickte anerkennend. »Ich kann bei meiner Zeitung immer Hilfe gebrauchen.«

Hoffnung keimte in Henri auf. Jeden Tag mit Catia zusammenzuarbeiten, war eine wunderbare Aussicht.

»Nun, ich denke, ich kann Euch und Eure Sache an anderer Stelle unterstützen. Ich lebe bei einer Frau namens Mademoiselle de Morphy und ...«

Die Augen des Comte weiteten sich. »Meint Ihr etwa La Belle Morphise?« Jetzt zierte auch seine Wangen ein rosa Hauch.

»Genau die«, nahm Catia nach der Unterbrechung den Faden wieder auf. »Sie hat prominenten Zugang zum Hof und dem König selbst. Ich begleite sie überallhin. Niemand sieht mich wirklich oder glaubt vor mir Geheimnisse verbergen zu müssen.« Ein freches Grinsen schlich sich auf ihr zartes Gesicht. »Was ein Fehler ist, denn ich möchte mich anbieten, Euer Ohr in den höchsten Kreisen dieses Landes zu sein, Comte.«

»Damit wärt Ihr wirklich eine unschätzbar wertvolle Quelle! Aber warum wollt Ihr Euch in eine solche Gefahr begeben, Kind? Ihr habt genug durchgemacht und die Umstände, unter denen Euer Vater ums Leben kam ...«

»Die sind ein schreckliches Einzelschicksal und nicht mehr. Das habe ich endlich begriffen. Der Zorn der Volksmassen ist berechtigt. Der König interessiert sich nicht für ihr Schicksal. Man behandelt die Menschen ungerecht und willkürlich. Sie sind das Gegenstück zu einer riesigen Herde Schlachtvieh, das von einer kleinen Gruppe Wölfe gehalten wird. Dem Hof und der Krone geht es nur um sich selbst und nicht um Frankreich. Einzig der Erhalt ihres luxuriösen Lebensstils treibt sie an. Ich tue das nicht nur für Euch. Es ist Frankreich, dem ich damit einen Dienst erweisen will.« Stolz streckte sie ihre Brust ein wenig mehr heraus.

»Ich kann Euch in allem nur zustimmen«, war es Henri entschlüpft, bevor er es verhindern konnte. Was war dies nur für ein unglaubliches Mädchen.

Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln. »Es freut mich, das zu hören.«

Vielleicht mag sie mich doch.

»Dir muss man nur die Zähne zeigen und schon hörst du den Liebesreigen« , spöttelte Neiron träge gähnend und legte seinen Kopf wieder auf Archimbalds Bauch.

Mirabeaus Gesicht wurde plötzlich verschlossen. Er räusperte sich, bevor er sagte: »Nun gut, Mademoiselle, das sind wunderbare Aussichten, aber woher soll ich wissen, dass Ihr die seid, die Ihr vorgebt zu sein?«

Henri wollte schon protestieren, aber dann sah er ein, dass sein Mentor recht hatte. Mirabeau hatte viele Feinde und wäre nicht der erste Mann gewesen, der sich von einem schönen, jungen Gesicht in die Falle hätte locken lassen.

Die Adlige schien es ähnlich zu sehen. Angriffslustig streckte sie ihr Kinn vor und forderte: »Testet mich. Ich kann jede Frage über meinen Vater, Euren alten Freund, beantworten.«

»Dann erzählt: Wie ist Eure Mutter gestorben?« Mirabeau verlor keine Zeit.

Die Augen des Mädchens weiteten sich. Ob vor Schreck oder Empörung, vermochte Henri nicht zu sagen.

»Mein Vater wurde der Aufwiegelung verdächtigt, weil er einige junge Dichter auf sein Anwesen eingeladen hatte, die angeblich aufhetzerische Gedanken verbreiteten. Dabei waren es nur junge Aufklärer, die über eine Utopie theorisierten.« Sie holte tief Luft, bevor sie weitersprach. »Man hat die Six geschickt, um ihn zu verhaften. Meine Mutter hat sich den königlichen Gargoyles entgegengestellt und wurde dabei getötet.«

Henri hätte sie am liebsten in den Arm genommen, so sehr nahm ihn ihr Schicksal mit.

Mit betroffenem Gesichtsausdruck nickte Mirabeau. »Eine Tragödie, fürwahr, dennoch hätte jeder, der für die Mächte arbeitet, die mich bedrohen, diese Information herausfinden können.«

»Dann stellt Fragen, die nicht so allgemeingültig sind!«, gab die Adlige ungeduldig zurück.

Henri bewunderte ihre Stärke.

»Sagt mir, wer an diesem Tag ebenfalls getötet wurde und wie er hieß.«

»Der Gargoyle meines Vaters wollte meine Mutter beschützen und wurde daraufhin ebenfalls von den Six vernichtet. Er hieß Gavin …«

Neiron legte seine Schnauze an Henris Hals. Dem wurde dabei eiskalt. Vernichtung eines Gargoyles. Mittlerweile konnte er sich ein Leben ohne seinen steinernen Freund nicht mehr vorstellen.

»… und ich bin mir sicher, dass Ihr diese Information nirgendwo außerhalb meiner Familie herausfinden werdet.«

»Nein«, hauchte der Comte. »Dieses Geheimnis war Rousels Familie und seinen engsten Freunden vorbehalten. Bitte entschuldigt, dass ich an Euch gezweifelt habe, Catia. Gern nehme ich Eure Hilfe an. Dennoch bitte ich Euch, auch im Namen Eures Vaters, kein unnötiges Risiko einzugehen.«

»Natürlich.« Sie schenkte Henri einen vielsagenden Blick.

Mit der kann man mehr als nur Pferde stehlen. Louis muss aufpassen, dass sie ihm nicht sein ganzes Königreich stiehlt , dachte Henri beeindruckt.

»Ich habe schon heute Informationen, die für Euch und die Nationalversammlung von höchster Wichtigkeit sind.«

»Bitte sprecht!«, forderte Mirabeau. Vor Nervosität zupfte er an seiner Perücke, die inzwischen ziemlich schief auf seinem Kopf saß.

»Der König wird, auf Anraten von Baron de Lessart, die Autorität der Nationalversammlung nicht akzeptieren.«

»Dieses elende Wiesel«, knurrte Mirabeau. »Während all unserer Treffen tat er stets so, als hätte er Verständnis für unsere Forderungen, und darüber hinaus vermittelte er den Eindruck, konspirativ gegen seinen Vorgesetzten, den Finanzminister Necker, zu arbeiten.«

»Der Baron hat Seiner Majestät geraten, die Nationalversammlung nicht aufzulösen, um Aufstände zu vermeiden. Er schlägt vor, einfach zu verhindern, dass Ihr Euch erneut treffen könnt.«

»Dazu wird es nicht kommen!« Wütend schlug Mirabeau mit der Faust auf den Schreibtisch. Sein Weinglas begann beängstigend zu tanzen, aber es fiel nicht um. »Wir werden uns dem nicht beugen.«

Äußerlich unbeeindruckt von diesem Ausbruch, redete Catia weiter: »Ich weiß inzwischen, dass der König gewillt ist, Euren Widerstand zu brechen. Er hat Truppen um Paris zusammenziehen lassen, um seine Entschlossenheit zu demonstrieren. Zehntausende Bewaffnete stehen bereit, um jeden Aufstand blutig niederzuschlagen.« Catia wisperte jetzt. »Die Lage wird bedrohlich für jeden, der sich für die Nationalversammlung erklärt. Lebensbedrohlich. Noch könntet Ihr aus der Stadt fliehen.«

Ein süffisantes Lächeln umspielte den Mund des Adligen. »Das hätte Louis wohl gern. Wenn er zündelt, werde ich in die Flammen pusten, darauf kann er sich verlassen. Henri, bereite im Keller alles vor. Wir drucken eine Sonderausgabe!«