20. Juni 1789, Versailles, Königreich Frankreich
Ein wenig hüftsteif bugsierte sich Henri auf Neirons Rücken. Er war nervös. Es würde sein erster Flug seit Wochen werden. Mirabeau hatte ihn gebeten, ihn zur Generalständeversammlung zu begleiten. Nun ja, vermutlich wollte er eher Neirons schlagkräftige Pfoten dabeihaben, falls es zu Keilereien kommen sollte. Der Comte war gewillt, dem König die Stirn zu bieten, sollte der es tatsächlich wagen, die Abgeordneten an einer Zusammenkunft zu hindern. Die ganze Nacht hindurch hatte er korrespondiert und Artikel geschrieben. Henri hatte kaum geschlafen, weil er beständig die Druckerpresse bedient hatte. Doch sie hatten es geschafft: Noch heute würde die Nation vom niederträchtigen Plan des Monarchen erfahren.
»Bereit, Großneffe?«, fragte Mirabeau grinsend, der ebenfalls schon auf Archimbald saß.
Henri nickte und tätschelte Neiron am Hals. »Bist du bereit, Neiron?«
»Ich bin zum Fliegen geboren, halte du dich lieber fest an meinen Ohren.«
»Das wollte ich hören. Auf geht’s, mein Freund.«
Archimbald erhob sich, nahm einige Schritte Anlauf und drückte sich kraftvoll ab. Seine mächtigen Schwingen öffneten sich und ließen die beeindruckende Kreatur schnell gen Himmel steigen.
»Los, hinterher!«, rief Henri und umfasste Neirons Ohren. Der massige Leib seines steinernen Begleiters setzte sich ebenfalls in Bewegung. Henris Bauch kribbelte, als sie den Boden verließen und die Häuserfronten an ihnen vorbeirasten, während sie höher und höher stiegen. Aus einigen Fenstern blickten ihn für den Moment eines Augenblinzelns schreckensstarre Gesichter an – man rechnete hier wohl nicht damit, beim Frühstück einen Blick auf einen Gargoyle zu erhaschen. Bald sah er nur noch Dächer unter sich. Die grelle Morgensonne ließ ihn die Augen zukneifen, aber nun wandte sich Neiron gen Westen in Richtung Versailles, sodass die Sonne ihm warm auf den Rücken schien. Sie schlossen zu Mirabeau auf. Archimbald segelte gemächlich mit ausgebreiteten Schwingen. Henri beneidete den Adligen um seine Flugfähigkeiten. Ohne sich festzuhalten, saß er auf dem Gargoyle, als wäre der sein Schreibtischsessel.
»Wenn einen solcherlei Dinge betrüben, gibt es nur eins: üben, üben, üben« , gab Neiron zum Besten.
»Ich hoffe, dass wir bald die Möglichkeit dafür haben, ohne fürchten zu müssen, dass man uns verhaftet – oder Schlimmeres.« Noch immer ging Henri das Schicksal des Gargoyles von Catias Familie nicht aus dem Kopf. Zerstört. Er tätschelte Neirons Hals.
Ein greller Pfiff lenkte Henris Aufmerksamkeit zurück zu Mirabeau.
Der Adlige zeigte nach unten.
Überall auf den Feldern und Wegen, die Paris wie ein unregelmäßiges Schachbrett umschlossen, waren Soldatengruppen, aufgeschlagene Zelte, Kutschen und sogar Kanonenbatterien zu sehen. Catia hat die Wahrheit gesagt. Wie viele sind das denn? Der König meint es ernst und wir fliegen direkt in die Höhle des Löwen.
Mirabeau vollführte eine unflätige Geste in Richtung der Soldaten.
Er wird sich davon nicht aufhalten lassen, dachte Henri grimmig lächelnd.
Plötzlich ging ein Ruck durch Neirons Leib. Henri schaffte es gerade noch, sich festzuhalten. In einer fließenden Bewegung drehte der geflügelte Wasserspeier zur Seite ab. Aus den Augenwinkeln nahm Henri wahr, dass Archimbald dies auch tat. Was ist los?
»Der König verlässt sich nicht auf Blut und Fleisch allein. Eure echten Gegner sind aus Stein.«
»Wie meinst du das?« Etwas schoss mit großer Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Ein Gargoyle. Weitere passierten sie. Henri schaffte es nicht, sie zu zählen, schätzte aber, dass es mindestens ein halbes Dutzend waren. Ein Schatten legte sich plötzlich auf ihn und Neiron. Henri legte den Kopf in den Nacken. An den dicken Narben, die sich über den steinernen Leib zogen, und der eisenbewehrten Schwanzspitze erkannte Henri, um wen es sich bei dem riesenhaften Gargoyle handelte. Das ist der Gargoyle von Baron Ailly, dem Anführer der Chimères-Wächter.
»Gawain. Nenn die Gargoyles stets beim Namen, besonders wenn sie drohen, dir zu schaden« , mahnte Neiron.
Henri blickte sich nach Mirabeau um, doch er konnte seinen Freund und Mentor wegen Neirons waghalsiger Flugmanöver nicht entdecken. Wo ist er? Der Comte war die entscheidende Stimme gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass sich der erste Stand mit dem dritten zur Nationalversammlung zusammengetan hatte. Waren sie zu nachlässig? Zu sicher, dass sich der König an die von ihm selbst aufgestellten Regeln hielt? Wir waren dumm, so öffentlich nach Versailles zurückzukehren, obwohl wir von den Gefahren wussten.
»Deine Sorgen ehren dich, Henri, doch es geht hier auch um unser Schicksal, vergiss das nie« , warnte ihn Neiron.
Als Henri sich wieder auf Baron Ailly konzentrierte, musste er feststellen, dass dieser nun direkt neben ihm und Neiron flog. Das Gesicht des königlichen Pagen war hinter einer purpurnen Maske verborgen. Nur seine dunklen Augen blickten daraus hervor und fixierten Henri. Locker hielt er sich an einem silberfarbenen Geschirr fest. In der anderen Hand hielt er einen der Onyxspieße. Kampfeslustig wies er damit auf Henri.
Er weiß es , war der sich sicher. Er weiß, dass ich illegitim bin.
Gawains Maul begann grünlich zu leuchten.
Er will uns angreifen!
Neiron legte die Flügel an und stürzte in die Tiefe.
Keinen Augenblick zu früh. Im nächsten Moment schoss ein armdicker grüner Strahl über sie hinweg. Henri spürte die Hitze des Angriffs am Rücken.
Neiron schoss auf den Boden zu. Eine Gruppe Bauern, die auf einem Feld arbeiteten, lief panisch vor ihnen davon. Für sie musste das Luftgefecht wie eine lebendig gewordene Beschreibung von Höllenkräften wirken.
Henri krallte sich mit Händen und Beinen fest, um nicht herunterzufallen. So ein Geschirr muss ich mir auch mal besorgen. Unter Aufbietung aller Kräfte schaffte er es, sich umzudrehen.
Der Baron und Gawain folgten ihnen in einem ebenso rasanten Sturzflug. Lauernd hielt der Chimères-Wächter seinen Spieß erhoben.
»Neiron!«, schrie Henri panisch. »Zieh hoch!« Der Boden war keine zwanzig Schritte mehr unter ihnen.
Sein Gargoyle ignorierte ihn und verharrte im Sturzflug.
Zehn Schritte.
»Nein!« Henri hätte am liebsten die Augen geschlossen, wagte es aber nicht. Mittlerweile war der Boden so nah, dass er die Weizenhalme auf dem Feld erkennen konnte. Es würde höchstens noch einen Atemzug dauern, bis sie dort zerschmetterten.
Neiron breitete mit einem Mal seine angelegten Schwingen aus. Luft blähte sie auf und in einer eleganten Kurve zog er so knapp über das Feld, dass seine Krallen die Ähren des jungen Getreides streiften.
»Verdammt, mach das nie wieder!« Hektisch keuchend blickte sich Henri nach dem Baron um. Leider gelang ihm ebenfalls das waghalsige Flugmanöver.
Verflucht , ärgerte Henri sich.
Neiron stieg mit kräftigen Flügelschlägen steil in die Luft, um den Vorsprung vor ihrem Verfolger zu halten.
Die Welt unter Henri verkleinerte sich zu Spielzeuggröße. Doch sein Gargoyle schlug weiter mit den Schwingen. Unaufhörlich stiegen sie höher. Aus der milden Wärme des Sommertags wurde eine unangenehme Kälte. Gebäude und Felder waren nur noch schemenhaft auszumachen. Plötzlich versank die Welt in einem nebelgrauen Schleier. Henri sah kaum noch seine eigenen Hände. »Sind wir in einer Wolke?«
»Kann man seinen Gegner nicht besiegen oder vor ihm fliehen, sollte man sich lieber mal verziehen.« Neiron flog segelnd kleine Kreise.
Gute Idee. Henri wischte sich einen Tropfen Wasser unter der Nase weg. Seinen Körper überzog inzwischen ein feuchter Film. Er lauschte intensiv, um ihren Gegner zu entdecken. »Kannst du ihn hören?«
Die Antwort auf diese Frage erübrigte sich, als sich ein höhnisches Lachen seinen Weg in ihr Versteck bahnte. »Kommt schon raus, ihr Feiglinge. Das hat doch gerade so viel Spaß gemacht.«
Henri hielt den Atem an. Der Baron und sein Gargoyle mussten ganz in der Nähe sein.
Ein intensives Grün erhellte mit einem Mal die Wolke. Henri konnte den Strahl jedoch nicht genauer ausmachen. Gawain musste ihn auf gut Glück in die Wolken geschossen haben.
»Jetzt kommt schon. Ein kleiner Übungskampf hat noch keinem Chimères-Reiter geschadet. Mich würde ja sehr interessieren, wer Euch ausgebildet hat. Der Wolkentrick ist nicht schlecht, wenn auch feige. Und ich hatte Euch ja davor gewarnt, die Stadt und Mirabeau zu verlassen, also jammert nicht.«
Wieder durchzuckte ein grüner Blitz die graue Welt, in der sie sich verbargen.
Er will uns heraustreiben , war sich Henri sicher. Vermutlich lauerte ihnen der Baron außerhalb der Wolke auf.
Henri streckte sich, um besser sehen zu können – und dann entdeckte er sie. Der Baron schwebte einem dunklen Schatten gleich langsam unter ihnen hinweg. Die Wolke löst sich auf. Die Sommersonne musste mittlerweile fast im Zenit stehen und machte mit allem kurzen Prozess, was ihren Strahlen im Weg stand.
»Soll ich sie angreifen? Gib mir einfach ein Zeichen.«
Henri musste kein voll ausgebildeter Chimères-Reiter sein, um zu erkennen, dass die Gelegenheit günstig war. Sie konnten sich in diesem Moment auf den Baron stürzen wie ein Adler auf eine Feldmaus. Und dem König damit einen Anlass bieten, den Comte aus dem Verkehr zu ziehen. »Nein«, flüsterte er. »Wir bleiben, wo wir sind.«
»Feigheit«, höhnte der Baron. »Das ist auch der Grund, warum diese sogenannte Nationalversammlung scheitern wird. Niemand aus diesem verweichlichten Haufen ist Manns genug, seinen großen Worten auch echte Taten folgen zu lassen. Das beweist Ihr gerade aufs Eindeutigste. Der König wird begeistert sein, wenn ich ihm berichte, dass er Euch und Euresgleichen nicht mehr fürchten muss als ein Staubkorn auf seinem Mantel.« Höhnisch lachend drehte er mit seinem Gargoyle ab.
Henri ärgerte sich über diese Worte, dennoch schaffte er es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Zähne klapperten vor Kälte, als sie es endlich wagten, den Schutz der merklich kleiner gewordenen Wolke hinter sich zu lassen. »Bitte geh schnell tiefer, ich kann mich kaum noch halten, meine Finger sind so klamm.« Neiron tat ihm den Gefallen. Wohlig umspielte die Wärme des Sommertags Henris Körper. »Das tut gut.«
»Unser Gegner ist verschwunden und dreht jetzt anderswo seine Runden« , stellte der Neiron fest.
Ungläubig sah Henri sich um. »Was sollte das? Wenn er gewusst hätte, wer wir sind, hätte er uns nie so schnell vom Haken gelassen«, wunderte sich Henri.
»Henri!«, ertönte aus weiter Ferne ein angstvoller Schrei. Mirabeau.
Archimbald hielt schnell auf sie zu.
»Da seid ihr ja. Geht es euch gut?« Die Frage bezog sich offensichtlich auf Henri und Neiron gleichermaßen und war mit echter Sorge gestellt.
»Ja«, antwortete Henri, den die Sorge seines Mentors rührte. Dennoch bin ich eine Last für ihn.
Neiron und Archimbald berührten einander kurz mit den Flügelspitzen.
»Was ist passiert?«, fragte Mirabeau atemlos und wischte sich mit einem Tuch Schweiß von der Stirn.
»Baron Ailly und sein Gargoyle haben uns angegriffen. Es wird nur noch eine Frage der Zeit sein, bis er herausgefunden hat, wer ich wirklich bin. Ich bin zu einer Last für Euch und Eure gerechte Sache geworden.« Traurigkeit überkam Henri. Er würde Paris und damit Mirabeau verlassen müssen. Ich werde Catia nie wiedersehen.
»Dieser elende Bastard«, knurrte Mirabeau. »Uns haben seine Lakaien ebenfalls attackiert.«
»Euch auch?«, fragte Henri verwirrt. »Wollten sie Euch etwa töten?«
»Ach was«, entfuhr es Mirabeau. »Ihr überschätzt dieses elende Wiesel. Nein, dieses Spielchen hatte einzig den Zweck, uns aufzuhalten, damit wir zu spät zur Sitzung der Nationalversammlung kommen.« Er sah hoch zur Sonne. »Gut, dass meine Kollegen und ich schon mit so etwas gerechnet haben. Wir haben besprochen, dass niemand geht, bevor alle anwesend sind. Komm, wir müssen uns eilen. Versailles wartet.«
»Da seid Ihr ja, mein Freund«, begrüßte sie ein schwarz gekleideter Abgeordneter des dritten Standes mit einem besorgten Lächeln.
»Es war keine ganz einfache Anreise, mein lieber Guillotin.«
»Wem sagt Ihr das. Meine Kutsche wurde auf dem Weg hierher vier Mal angehalten und durchsucht. Meine Arzttasche ist mir gleich bei der ersten Wegsperre abhandengekommen. Die medizinischen Instrumente darin wurden als gefährliche Waffen konfisziert.« Er lächelte matt. »Es wäre also besser, wenn sich heute hier niemand verletzt. Aber ich werte diese übertriebene Wachsamkeit dennoch als gutes Zeichen, denn der König scheint Angst vor der Nationalversammlung zu haben. Er nimmt uns ernst.«
»So kann man es auch sehen. Kommt, lasst uns zum Sitzungssaal gehen. Die anderen warten sicher schon.« Mirabeau zeigte auf Henri. »Mein Großneffe und sein geflügelter Freund werden uns begleiten.«
Der Arzt nickte Henri zu. »Wir brauchen jeden Schutz, den wir bekommen können. Danke.«
Als sie den Bereich des Schlosses erreicht hatten, in dem die Generalstände üblicherweise tagten, hatte sich vor den Türen eine aufgeregte Menschenmenge versammelt. Ein Großteil von ihnen war in das Schwarz der Vertreter des dritten Standes gekleidet, aber Henri sah auch zahlreiche purpurne Roben und sogar einige adlige Abgeordnete.
Das ist also die Nationalversammlung, die unser König so sehr fürchtet.
»Was ist hier los?«, fuhr Mirabeau dazwischen.
»Die Türen sind verschlossen«, antwortete ihm ein älterer Geistlicher mit entrüstetem Gesichtsausdruck.
»Der König will verhindern, dass die Nationalversammlung zusammenkommt. Allein die Schikanen auf dem Weg hierher waren schon ungeheuerlich«, entgegnete ein schlanker Adliger, den Henri als Herzog von Orléans erkannte, den Cousin des Königs.
Dass der mächtige Mann sich für die Sache der Nationalversammlung einsetzte, beeindruckte Henri. Diese Herren sprechen wirklich für ganz Frankreich.
»Deine Catia würde etwas anderes sagen, ich sehe hier nämlich nirgendwo Weibchen tagen.«
»Uns auszusperren, ist gegen jedes Recht«, kam es aus der Menge.
Unzufriedenes Gemurmel brandete auf. Irgendjemand schlug wütend mit den Fäusten gegen das verschlossene Tor.
»Ich kann euch nur zustimmen, meine Freunde«, übernahm wieder Mirabeau das Reden. »Und wir werden uns das nicht gefallen lassen. Wir sind die Stimme des Volkes und ein Volk kann man nicht zum Schweigen bringen.«
»Tenez, tenez – hört, hört«, skandierte die Menge.
»Ihr seid die Nationalversammlung, egal, was Seine Majestät davon hält. Dazu braucht es kein bestimmtes Gebäude und ...«
»Der Tagungssaal ist auf Befehl des Königs geschlossen. Es sind unaufschiebbare Handwerksarbeiten zu erledigen. Ihr werdet informiert, sobald der Versammlungsort wieder benutzbar ist«, erklang die barsche Stimme von Baron Ailly. Der purpurfarben gekleidete Kommandant der Chimères-Wächter grinste Henri höhnisch an. Hinter seinem Rücken bauten sich eine kleine Kompanie von einem guten Dutzend Bewaffneten auf sowie zwei weitere Reiter mit ihren Gargoyles. »Daher muss ich die Herren bitten zu gehen. Der König duldet die werten Abgeordneten nur während der Sitzungszeiten der Ständeversammlung in seiner Nähe und der seines Schlosses.«
»Das ist ungeheuerlich«, begehrte der Herzog von Orléans auf.
»Ungeheuerlich ist es, zu glauben, dass jemand anderes die Stimme Frankreichs sein könnte als unser verehrter König. Gerade Ihr solltet das wissen, Herzog.« Der Baron winkte über die Schultern und seine Untergebenen rückten vor.
»Wir sind gewählte Abgeordnete!«, regte sich Protest in der Menge.
»Wir werden nicht gehen.«
Neiron spürte die brodelnde Stimmung. Sein Steinschwanz schwang aufgeregt hin und her. Funkelnd fixierte er Gawain.
Archimbald schien kampfeslustiger zu sein. Lauernd fletschte er die Zähne.
Panisch machten die Menschen den Steinkreaturen Platz. Selbst einige der normalen Schweizergardisten schienen Angst vor ihnen zu haben. Einzig die maskierten Chimères-Wächter blieben unbeweglich auf ihren Posten. Die Sonne spiegelte sich in den schwarzen Spitzen ihrer Spieße wider.
»Ist es Zeit zum Kämpfen oder Zeit zu gehen? Du musst es mir sagen, ich kann es nicht verstehen« , fragte Neiron Henri.
Der war allerdings auch von der Situation überfordert. »Ich weiß es nicht. Wir sollten ja für den Schutz der Abgeordneten sorgen. Sag Archimbald, er soll Mirabeau fragen, was zu tun ist.«
Ein Augenblinzeln später blickte der Comte ihn an und schüttelte unmerklich den Kopf, dann zeigte er nach oben.
Henri sah hinauf und erstarrte für einen Augenblick. Das hier ist tödlicher Ernst. Der König hatte seine mächtigsten Waffen geschickt, um den zu erwartenden Aufruhr zu beenden. Die Six saßen pechschwarzen, überdimensionierten Krähen gleich auf den Dachfirsten der sie umgebenden Palastgebäude.
»Dieser Kampf ist aussichtslos. Wir sind klein und sie sind groß«, sprach Neiron das Offensichtliche aus. Ihm schien nicht mal im Angesicht der Gefahr sein Talent fürs Reimen abhandenzukommen.
»Wir weichen nur unter Protest«, rief Mirabeau energisch, der die Situation offensichtlich genauso einschätzte. »Bestellt Louis dies.«
Der Baron schenkte ihm sein arrogant-meckerndes Lachen. »Oh, das werde ich, Comte. Verlasst Euch darauf.«
»Folgt mir, meine Herren, wir werden unseren Forderungen anders Gehör verschaffen«, rief Mirabeau mit vor Zorn bebender Stimme.
Wütend murmelnd setzte sich die Menge in Bewegung und folgte ihm.
Henri lief Schulter an Schulter mit seinem Mentor. Ist dies das Ende? Das Ende all unserer Hoffnungen auf ein normales Leben?
Der Arzt Guillotin schloss zu ihnen auf. »Wir dürfen nicht einknicken. Verlassen wir jetzt das Schloss, ist die Nationalversammlung tot, das muss Euch doch klar sein, Comte.«
»Natürlich ist mir das klar«, knurrte Mirabeau ungehalten. »Aber Euch muss doch klar sein, dass jede Art von Widerstand zu Blutvergießen geführt hätte. Der König hat die Six geschickt. Greifen sie an, würde selbst Euer Arzttäschchen nicht mehr helfen.«
Der Mediziner riss die Augen auf.
»Das ist seine ultimative Waffe. Die letzte Verteidigungslinie des Hauses Bourbon. Einzig der amtierende Monarch ist in der Lage, sechs Gargoyles gleichzeitig zu befehligen.«
»Bedeutet dies, dass Louis in der Nähe ist? Ein Dutzend Schritte sind ja nicht besonders viel«, unterbrach Henri seinen Mentor mit einer Frage.
»Er wäre nicht unser König, wenn er sich an die gleichen Regeln wie wir Normalsterblichen halten müsste. Niemand weiß es genau, aber die Six agieren vollkommen unabhängig vom physischen Standort des Königs. Einige Wissenschaftler mutmaßen, dass dies funktioniert, weil das ganze Reich wie ein von Gott errichtetes Haus ist, das dieser auf den jeweiligen König übertragen hat. Ob dies nun stimmt oder nicht, ist egal, aber das ist jene Macht, die Louis XVI. zum unumstrittenen Herrscher über Frankreich macht. Und er weiß ganz genau um die Bedeutung der Nationalversammlung und der Gefahr, die davon für seine Regentschaft ausgeht. Das ist nun klar, aber was wäre erreicht, wenn diese Bestien uns alle töten?«
»Frankreich würde brennen«, war sich Guillotin sicher. »Sämtliche Schlösser und Herrenhäuser würden in Rauch aufgehen, die Straßen vom Volkszorn beben.«
»Vielleicht«, lenkte der Comte ein, »aber wer würde diesen gerechten Zorn kanalisieren? Wer die Massen anführen? Mit uns wäre die Hoffnung auf ein besseres Frankreich unter den Krallen der Six zermalmt worden. Am Ende eines schrecklichen Blutvergießens würde das Volk wieder unter die Knute gepresst und nichts hätte sich geändert.«
»Genau deswegen dürfen wir nicht so einfach aufgeben.« Wütend schlug sich der Mediziner in die Faust.
Höhnisches Lachen erklang hinter ihnen. Henri drehte sich um. Wenig überraschend waren es Baron Ailly und seine Getreuen, die sich einen Spaß daraus machten, die geschlagenen Vertreter der Nationalversammlung aufzuziehen.
»Das ist das neue Frankreich. Seht sie euch nur an, geprügelte Hunde hätten mehr Stolz.«
Erneutes Lachen.
Das machte Henri wütend und an der roten Gesichtsfarbe erkannte er, dass es Mirabeau nicht anders erging.
Die Schlosswachen und Chimères-Wächter machten sich nicht einmal die Mühe, ihnen zu folgen, so überzeugt waren sie vom endgültigen Misserfolg der Nationalversammlung und ihrer Vertreter.
»Nein«, zischte Guillotin, »so darf es nicht enden. Scheitern wir heute, wird das Königreich für ein weiteres Jahrhundert in Dämmerschlaf fallen und der dritte Stand unterdrückt werden. Millionen verlassen sich auf uns.«
Die Gruppe bog um ein unscheinbares Gebäude, vor dem sich eine große Rasenfläche ausdehnte.
»Hier«, rief der Arzt aufgeregt. »Wir werden hier tagen.« Er zeigte auf die offen stehende Tür des schmucklosen Kastenbaus.
»Das ist die Salle du Jeu de Paume«, begann Mirabeau irritiert. »Wollt Ihr Euch im Ballhaus ertüchtigen?«
»Nein, das ist viel mehr als nur eine Ertüchtigungshalle. Das Gebäude gehört zum Schloss Versailles«, raunte Guillotin.
Mirabeau suchte kurz Henris Blick. Aufgeregt tätschelte er Archimbald zwischen den steinernen Ohren. »Ihr habt vollkommen recht, mein Freund. Noch sind wir im Zentrum der Macht. Folgt uns, Freunde. Wir sind die Stimme des Volkes, und das Volk kann man nicht aussperren«, rief der Comte aufgeregt in die Menge. Mit langen Schritten ging er auf die offene Doppelflügeltür zu.
Henri und Neiron blieben an seiner Seite. Das Ballhaus war ein schlichter Zweckbau, der nach altem Schweiß roch. Es bestand aus einem riesenhaften Saal mit großen Fenstern an beiden Seiten.
»Normalerweise wird hier Jeu de Paume gespielt«, erklärte Mirabeau. »Ein Spiel, bei dem man Bälle mit einem Schläger über ein Netz schlägt. Erinnert mich ein bisschen an unsere Situation.« Der Comte grinste wölfisch. »Jetzt sind wir am Schlag. Schauen wir mal, ob der König an den Ball kommt.«
Die wogende Menge kam im Saal zum Stehen.
Henri sah in viele euphorische, aber auch ratlose Gesichter.
»Und nun, mein guter Mirabeau?«, fragte eine schlanke Gestalt, die an ihren zackigen Bewegungen als Militär zu erkennen war. Seine Kleidung wies den Mann darüber hinaus als Adligen aus.
»Marquis de La Fayette«, begrüßte Mirabeau ihn. »Ich freue mich, dass Ihr Euch entschieden habt, Euch unserer Sache anzuschließen.«
Henri kannte den Namen. La Fayette war ein Held aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Er hatte im Namen Frankreichs erfolgreich auf der Seite der Siedlerrebellen gekämpft und geholfen, England in der Neuen Welt zu besiegen. In den Vereinigten Staaten von Amerika war er ein Nationalheld. Wahrscheinlich hat er dort von der Freiheit gekostet und ist süchtig nach ihr geworden. Es beeindruckte Henri, dass dieser einflussreiche Mann sich ebenfalls der Sache der Nationalversammlung verschrieben hatte.
Mirabeau erhob die Stimme: »Wir werden hierbleiben, bis der König auf unsere Forderungen eingeht.« Alle Augen hefteten sich auf ihn. »Meine lieben Mitstreiter, lasst uns schwören, uns niemals zu trennen, bis der Staat eine Verfassung hat.«