18

Sculpteur

11. Juli 1789, Paris, Königreich Frankreich

Henri wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Die Hitze in dem geräumigen Dachgeschoss, das er seit seinem Einzug bei Mirabeau bewohnte, war so drückend, dass er glaubte, sie mit Händen greifen zu können. Obwohl er nicht mehr als einen dünnen Lendenschurz trug, schwitzte er am ganzen Körper. Genervt stand er auf und lehnte sich aus dem weit offen stehenden Fenster. Das in der Dunkelheit schimmernde Paris schien ebenfalls keine Ruhe zu finden. Über das Kopfsteinpflaster der Straße rumpelte eine Kutsche. Ganz in der Nähe überzogen sich ein Mann und eine Frau mit furchtbaren Flüchen. Ein Hund bellte, woraufhin böses Katzenfauchen erklang. Flaschen klirrten. Henri gähnte. Eigentlich mochte er den Klang der Großstadt, aber heute hielt ihn alles vom Schlafen ab. Ob ich von hier ihr Haus sehen kann? Er lehnte sich gefährlich weit aus dem Fenster. Vielleicht, wenn ich noch ein bisschen ...

Mit einem Knacken brach die vom Wetter strapazierte und vom Besitzer vernachlässigte hölzerne Fensterbank unter ihm weg.

»Oh ...«, entfuhr es Henri. Er strampelte panisch mit den Beinen, aber es war zwecklos. Sein Schwerpunkt verlagerte sich unaufhaltsam in Richtung seines Oberkörpers und er kippte vornüber. Er sah sich schon zerschmettert auf dem Pflaster liegen, als ihn etwas Raues am Nacken packte und festhielt.

»Sieh dich doch vor, du toller Liebestor!« , schimpfte Neiron mit ihm und zerrte ihn zurück ins Zimmer.

»Danke.« Henri schluckte schwer. Ich bin eben fast gestorben. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Er legte sich flach auf den warmen Holzboden und atmete bewusst tief ein und aus.

»Kein Grund, sich zu sorgen, ich habe dich ja rechtzeitig geborgen« , versuchte ihn Neiron aufzumuntern.

»Zum Glück. Hab vielen Dank. Das war wirklich dumm von mir.« Henri rieb sich seinen malträtierten Nacken. Neiron hatte ihn wie eine Hundemutter am Genick gepackt. Oder wie eine Gargoyle-Mutter? Das brachte ihn zurück zu einer Frage, die ihn schon lange beschäftigte. »Neiron ...«, fragte er betont langsam und setzte sich wieder auf.

Sein geflügelter Begleiter blickte ihn fragend aus den leuchtenden Saphiraugen an.

»Werden Gargoyles geboren?«

Neiron leckte sich mit seiner hellgrauen Zunge über die Lefzen, bevor sein Blick zu dem dicken Folianten wanderte, der auf dem kleinen Nachttisch lag.

Bedauernd schüttelte Henri den Kopf. »Das Chimären-Buch. Da steht zwar viel drin, dazu aber kein Wort. Allerdings habe ich herausgefunden, dass ihr nicht fressen müsst, Steine allerdings gern zum Spaß zerkaut.« Mit gespielt strengem Gesichtsausdruck zeigte er auf die zerkratzten Wände, an denen eindeutig Bissspuren zu erkennen waren.

»Ich würde es ja bedauern, aber mir ist einfach langweilig in diesen Mauern.« Wütend schlug Neiron mit seiner dicken Krallentatze auf den Boden. Die Dielen beantworteten diese Behandlung mit einem Knarren.

»Glaub mir, ich kann dich nur zu gut verstehen, ewig hier im Haus zu hocken, zerrt auch an meinen Nerven. Doch du weißt, dass es nicht anders geht. Keiner von uns kann allein rausgehen und gemeinsam fallen wir auf wie ein bunter Hund. Da war der Ausflug nach Versailles vor einigen Wochen geradezu eine schöne Abwechslung, trotz der Gefahr, in der wir uns dort befunden haben.«

Seit dem Ballhausschwur hatte Henri Mirabeaus Anwesen nicht mehr verlassen. Die Gefahr, dass sie von den Chimères-Wächtern oder den Häschern des um seinen Gargoyle geprellten jungen Marquis entdeckt wurden, war zu groß. Zumal Mirabeaus Gegner nur auf einen Fehler von ihm warteten. Der König hatte die Nationalversammlung zwar noch immer nicht aufgelöst, blockierte aber sämtliche ihrer Beschlüsse. Es herrschte ein Patt, das beide Seiten unzufrieden machte und die notwendigen Reformen im Königreich weiter verschleppte.

Die Verdrossenheit der Bevölkerung wuchs mit jedem Tag. Ständig kam es im ganzen Land zu kleineren und größeren Aufständen, aber wirkliche Veränderungen waren nicht in Sicht. Wenn sie überhaupt jemals erreicht werden , dachte Henri resigniert.

»Du wechselst das Thema, mein lieber Neiron. Glaub nur nicht, dass ich dies nicht merken würde«, lenkte er sich von seinen trüben Gedanken und Zukunftsaussichten ab. Die Gespräche und die immer engere Vertrautheit mit Neiron waren das einzig Positive an seiner Situation. »Wie werdet ihr geboren? Weißt du, wer deine Mutter und dein Vater waren? Vermisst du sie?«, spulte er eine Kaskade von Fragen herunter.

Neiron sandte ein Gefühl der Verwirrtheit. »Geboren werden wir von Notre-Dame, dort fängt alles an. Mutter und Vater habe ich nicht, außer dem Kirchenschiff.«

»So was Ähnliches habe ich mir schon gedacht, aber wie genau werdet ihr geboren? Notre-Dame spuckt euch doch nicht einfach so aus oder meißelt euch aus überzähligen Steinen. Die Kathedrale ist ja kein Lebewesen.« Er blickte Neiron forschend in seine leuchtenden Augen. »Oder doch?«

Neiron drehte den Kopf weg. Es war deutlich zu spüren, dass ihm das Thema unangenehm war. Henri glaubte sogar, dass so etwas wie Angst in den Emotionen mitschwang, die er von dem Gargoyle spüren konnte. »In Notre-Dame werden wir gemacht, über alles andere habe ich noch nie nachgedacht.«

»Na gut, du Dickkopf. Falls ich jemals wieder die Gelegenheit habe, meine geliebte Kathedrale zu besuchen, dann werde ich es schon herausfinden. Ich kenne dort ja praktisch jeden Stein.« Henri streckte sich und gähnte ausgiebig. »Zeit zu schlafen.« Er tätschelte Neirons Hals.

Der Gargoyle genoss die Liebkosung und schmatzte zufrieden, ohne die Augen zu öffnen.

»Ich lass dich ja schon in Ruhe. Immerhin macht wenigstens einem von uns diese elende Hitze nichts aus«, seufzte Henri und schlurfte zurück ins Bett. Er war gerade dabei, sein Kissen aufzuschütteln, als das Klingeln des Türglöckchens ihn innehalten ließ.

»Wer kann das um diese Zeit wohl sein?« Er war versucht, sich erneut aus dem Fenster zu lehnen, um es herauszufinden. Aber in Anbetracht dessen, was gerade passiert war, nahm er von diesem Ansinnen Abstand.

Erneut ertönte der helle Klang der Glocke.

»Da hat es jemand wohl sehr eilig.« Ein mulmiges Gefühl überkam ihn. Sie waren allein im Haus. Mirabeau war noch unterwegs. Wenn jemand nachts Sturm klingelte, konnte das nichts Gutes bedeuten. »Kommst du mit?«

Es hätte der Frage nicht bedurft. Neiron hatte seine Furcht gespürt und tapste bereits auf der Treppe nach unten. Grinsend schlüpfte Henri in einen der alten Morgenröcke des Comte, griff die Laterne und folgte ihm. Als er am Fuß der Treppe angekommen war, schrillte das Glöckchen ein weiteres Mal.

»Ja ja«, murmelte Henri, »immer langsam mit den jungen Wasserspeiern.« Bevor er die Tür öffnete, blickte er sich um, um zu kontrollieren, ob Neiron zu sehen war. Aber der Gargoyle hatte sich längst in den Schatten des dunklen Hauses verborgen. Sacht öffnet Henri die Tür einen Spaltbreit.

»Na endlich«, stöhnte ein etwa fünfzehnjähriger Junge theatralisch, dessen mageres Gesicht und die spitz zulaufende Nase ihm einen wieselartigen Ausdruck verliehen. Er trug eine rote Zipfelmütze lässig über seinem keck darunter hervorschauenden blonden Haarschopf. Derlei Kopfbedeckungen sah man in Paris jetzt öfter. Als phrygische Mütze hatte Mirabeau diesen Kopfschmuck bezeichnet und Henri dazu irgendeine Geschichte aus der Antike erzählt, die er längst vergessen hatte. »Ich dachte schon, Ihr macht nie auf.«

»Was kann ich für dich tun?«, fragte Henri und zog irritiert die Stirn kraus.

»Ich habe hier was für Euch.« Der in einfache braune Kleidung gewandete Junge begann in den Taschen seiner fleckigen Hose herumzukramen. Wie bei den meisten einfachen Bürgern üblich war sie am Knie nicht gebunden, sondern fiel locker bis zum Fuß. Ein Sans-Culottes, fiel Henri der Begriff ein, mit dem sich einige dieser Leute in Abgrenzung zum zweiten Stand stolz bezeichneten – die ohne Kniehosen. Er beförderte ein kleines Papierviereck hervor und hielt es Henri entgegen.

»Was ist das?«, fragte der, ohne es entgegenzunehmen.

»Wonach sieht es denn aus?«, knurrte der Jüngling. »Eine Nachricht.«

»Von wem?«, bohrte Henri nach.

»Darf ich nicht sagen, steht ja aber vielleicht in dem Brief. Obwohl dir das sicher nicht viel nützen wird, du kannst vermutlich nicht lesen«, stichelte der Bengel frech grinsend. »Gib das mal besser schnell dem feinen Comte, deinem Herrn.«

Er glaubt, dass ich ein Bediensteter bin, weil ich keine Perücke trage und mein Haar nicht geschoren ist. »Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau ist mein Großonkel. Gib mir die Nachricht!« Als Henri nach dem Brief griff, riss der Junge seine Hand nach hinten.

»Ich spiele hier nicht umsonst den Boten, auch nicht für so ’nen adligen Schnösel.«

Henri stöhnte. »Bin gleich zurück!« Er drehte sich um und ging in den Salon, der an den Eingangsbereich grenzte. Dort wartete Neiron mit auf den Pfoten abgelegtem Kopf auf ihn. Seine leuchtenden Augen folgten jeder seiner Bewegungen. Henri achtete nicht darauf, sondern leuchtete nach der Kassette, die auf dem marmornen Kaminsims stand. Mirabeau hatte darin Geld deponiert, das Henri normalerweise benutzte, um die Kutscher, Papier oder die Druckerschwärze zu bezahlen. Unwirsch klappte er das Kästchen auf und klaubte eine kleine Kupfermünze daraus hervor.

»Du lebst hier aber wie die Made im Speck, was?«, erklang plötzlich die Stimme des Jungen in seinem Rücken, gefolgt von einem Pfeifen.

Er ist ins Haus gekommen , wurde Henri klar. Eiligst schloss er die Geldschatulle und ließ den Strahl seiner Lampe auf den unbotmäßigen Eindringling fallen, der grinsend in der Eingangshalle stand und sich umsah. »Was machst du hier?«, fragte er ihn mit unverhohlener Wut in der Stimme.

»Auf mein Geld warten, aber offenbar gibt es hier noch mehr zu holen als das bisschen Kupfer in deiner Hand.« Wie zufällig schob er sein schmuddeliges Hemd hoch und offenbarte einen Dolch. »Was hast du denn noch so Feines in deinem kleinen Kästchen?«

Ich habe mich die ganze Zeit vor den Häschern des Königs oder einer politischen Intrige gefürchtet – und darüber vergessen, dass ich immer noch in Paris bin. In seinem früheren Leben hatte er gewusst, welche Straßen, Parks oder Kneipen man in der Dunkelheit besser meiden sollte. Jetzt war die Dunkelheit zu ihm gekommen.

»Hier ist dein Geld.« Henri hielt ihm die Kupfermünze entgegen. »Nimm es und verschwinde.«

»Was ist, wenn ich nicht gehen will?« Der Bote schenkte ihm ein schmieriges Grinsen.

Bevor Henri etwas zu dieser Drohung sagen konnte, schlurfte Neiron gemächlich herbei und setzte sich vor ihm auf sein Hinterteil. Betont ließ er den grün leuchtenden Blick seiner Saphiraugen auf den Jungen fallen.

Augenblicklich verschwand dessen selbstgefällige Miene. Er zog sich die Mütze von den Haaren und fuhr sich aufgeregt durch die Haare. »Entschuldigt, junger Comte. Ich dachte ...«

Neiron begann sich seine linke Vorderpfote zu lecken, als würde ihn das ganze Theater nichts angehen. Henri spürte dennoch deutlich, dass er angespannt und bereit zum Kämpfen war. »Soll ich ihn packen und erschrecken oder einfach nur die Zähne blecken?«

Ängstlich wich der Bote ein Stück nach hinten. »Ich wusste ja nicht, dass einer von ihnen ...« Mit einem zitternden Finger wies er auf Neiron.

»Ich glaube, du hast schon genug getan«, flüsterte Henri ihm schmunzelnd zu.

»... Eure Kleidung und Euer Haar, Herr ... da dachte ich ...«

Ich muss mich endlich meiner Rolle angemessen kleiden , mahnte Henri sich. »Was dachtest du? Dass du mal eben einen Raub begehst, weil dir nur ein einfacher Diener die Tür geöffnet hat? Ist es das, wofür deine Mütze das Symbol sein soll? Ein Zeichen dafür, dass Recht und Ordnung aufgehoben sind und nur noch das Faustrecht regiert? Ich sollte dich sofort den Stadtwachen übergeben.«

»Bitte nicht, die sperren mich in die Kerker der Bastille. Dort soll es schrecklich zugehen. Mein Leben wäre beendet. Bitte, ich will mich auch bessern. Versprochen!«, bettelte der Straßenjunge.

Natürlich würde Henri um nichts in der Welt die Wachen rufen. Daher gab er sich großzügig. »Nun gut, aber ich warne dich. Solltest du jemals wieder ein Verbrechen begehen, werden mein Gargoyle und ich dich finden. Du wurdest von seinem Blick gestreift, damit bist du gekennzeichnet und er kann dich jederzeit wiederfinden.«

Der Junge wurde kreidebleich, seine Stimme schrill. »Ich werde von jetzt an ein rechtschaffener Bürger sein, das schwöre ich beim Leben meiner Mutter.« Er drückte Henri den Brief in die Hand.

Von Neiron kam eine Gefühlswelle der Amüsiertheit. »Freche Jungs erschrecken kannst du gut, aber verfalle nicht in Übermut.«

Henri beherzigte die Warnung und ließ den Boten vom Haken. »Geh jetzt und wage es nicht, hier noch einmal aufzutauchen.« Henri hielt ihm die Münze hin.

»Nee, die will ich nicht mehr.«

»Nimm sie«, herrschte Henri ihn an.

Der Junge grabschte sie und rannte aus dem Haus. In der Eile ließ er achtlos seine rote Mütze fallen.

Henri hob sie auf und betrachtete sie, nachdem er die Tür geschlossen und den Riegel vorgelegt hatte. Ist dies das Zeichen einer neuen Zeit? »Was für ein unangenehmer Kerl. Man kann nur hoffen, dass nicht alle, die dieses Symbol der Freiheit auf ihren Häuptern tragen, vom gleichen Schlag sind, sonst kommt Frankreich vom Regen in die Traufe, sollten Leute wie er irgendwann einmal das Sagen haben.«

Neiron gähnte. Er schien sich weder für Mützen noch Politik sonderlich zu interessieren.

Henri lächelte ihn an. »Du hast mich heute schon das zweite Mal gerettet«, bedankte er sich bei dem Wasserspeier, der sich kauend der Pflege seiner Krallen widmete und dabei einen kleinen Berg Steinstaub auf dem Teppich hinterließ. Nachdenklich drehte Henri den Brief in seinen Händen. »Wenn der so spät kommt, könnte er wichtig sein. Ob wir ihn öffnen sollten?«

»Das musst du schon selber wissen. Ich kann nicht lesen, sondern höchstens das Papier frissen … fressen …«

Das half Henri nicht weiter. »Falls es privat sein sollte, lese ich einfach nicht weiter«, versuchte er sich zu beruhigen. Kurz musste er daran denken, wie Mirabeau bei der Erwähnung der Mätresse Mademoiselle de Morphy errötet war. Der Comte verbarg mit Sicherheit Geheimnisse, in die Henri besser nicht seine Nase stecken sollte. Er entfaltete den Brief vorsichtig an jeder der vier Ecken. Ein feiner Parfümgeruch schlug ihm entgegen. Kurz glaubte er schon, einen Fehler begangen zu haben, doch dann sah er, wer den Brief unterschrieben hatte. Sein Herz begann einen Takt schneller zu schlagen. Eiligst überflog er die wenigen Zeilen.

Sehr geehrter Oheim,

es geht mir gut, vielen Dank der Nachfrage. Die Blumen habe ich bekommen und werde Euch alsbald ebenfalls welche senden. Ich bin schon gespannt, was Ihr zu diesem Bouquet sagen werdet.

Ergebene Grüße, Freiin Catia d’Argenton

PS: Grüßt Euren Großneffen von mir.

Henri hätte vor Glück aufschreien können. Trotz der kryptischen Worte verstand er, was die junge Adlige damit sagen wollte. »Es ist ein Brief von Catia. Sie macht sich morgen mal wieder auf den Weg, um Informationen zu besorgen, die Mirabeau nützlich sein könnten.« Neckisch wedelte er mit dem Brief vor Neirons dicker Nase herum. »Und sie lässt mich grüßen.« Er lachte laut auf. »Kannst du dir das vorstellen?«

»Kann ich, denn du liest es mir ja vor, aber der Bote dieses Mädchens ist ein Schlitzohr.«

»Ja, wenn ich ihr erzähle, was dieser Bengel ...« Henri hielt inne. Furcht übermannte ihn. »Neiron, was ist, wenn dieser Verbrecher auch Catia etwas angetan hat? Vielleicht braucht sie unsere Hilfe?«

Der Gargoyle schlug die Augen auf. Mystisches grünes Licht illuminierte die Eingangshalle. Henris Schatten begann an den Wänden zu tanzen. Der Wasserspeier teilte seine Sorgen. »Deine Gedanken, so schrecklich sie klingen, könnten der Wahrheit entsprechen bei diesen Dingen.«

Henri rang mit sich. Er wusste nur zu gut, in welche Gefahr er sich und den Gargoyle brachte, wenn sie das Haus verließen. Auch Mirabeau würde bestraft werden, wenn man Henri als illegitim überführte. Er hatte sich mitschuldig gemacht, weil er ihm Unterschlupf gewährt und ihn sogar nach Versailles mitgenommen hatte. Es wäre das Ende aller politischen Ambitionen und Träume seines väterlichen Freundes. Immer wieder las er den Brief: Grüßt Euren Großneffen von mir. Das gab den Ausschlag. Sie macht sich etwas aus mir! Was wäre ich für ein Mensch, wenn mich ihr Schicksal im Gegenzug kaltlassen würde. »Wir müssen nachsehen, wie es ihr geht! Ein ganz kurzer Flug über die nächtliche Stadt, und dann verkriechen wir uns wieder.« Er blickte an sich herunter. »Mach dich bereit, ich muss mich nur noch schnell als Adligen verkleiden.«

Mit der elend kratzenden Perücke auf dem Kopf trat er aus der Haustür auf die wie ausgestorben wirkende, dunkle Straße. Er atmete in tiefen Zügen die milde Sommerluft ein. »So schmeckt die Freiheit«, raunte er Neiron ins Ohr, während er sich auf seinen Rücken schwang.

»Ich kann keine Freiheit schmecken, aber ich bin froh, dass wir uns jetzt mal nicht verstecken.«

»Dann ab in die Luft mit dir, dort kann man uns am wenigsten entdecken«, fiel Henri unbewusst in die Reimerei des Gargoyles mit ein.

Amüsiert erhob sich Neiron in die Lüfte.

»Du kennst den Weg zur Freiin?«, fragte Henri Neiron.

Wortlos drehte der Gargoyle ab und flog in Richtung Seine.

»Natürlich kennst du ihn«, murmelte Henri und klopfte dem Wasserspeier anerkennend auf die Seite. Nach wenigen Augenblicken der Furcht begann er den Ausflug zu genießen. Er streckte sich, um einen Blick auf die Silhouette Notre-Dames zu erhaschen, die sich im Schein des tief stehenden, großen Sommermonds abzeichnete. Stolz und erhaben thronten die zwei Türme auf der spärlich beleuchteten Île de la Cité. Sehnsucht wallte in Henri auf. Sehnsucht nach einem Leben, das ihm einfacher und geordneter vorkam. Sehnsucht nach seiner Mutter und seinem Meister, die er seit Wochen nicht gesehen hatte. »Meinst du, wir könnten einen kleinen Umweg fliegen und ...«

»Der einzige Ort, zu dem ich nicht fliegen kann, ist Notre-Dame« , unterbrach ihn Neiron geheimnisvoll.

Bevor Henri nachfragen konnte, was dies bedeuten sollte, war der Wasserspeier bereits in den Sinkflug übergegangen und hielt auf ein kerzenbeschienenes, rundes Giebelfenster zu, hinter dessen geöffneten Flügeln sich der Schatten einer schlanken Frauengestalt abzeichnete, die ihr Haar kämmte. In Henris Bauch begann es angenehm zu kribbeln. Sie ist es.

»Soweit wir sehen, scheint es ihr gut zu gehen. Lass uns aus den bekannten Gründen mal lieber schnell verschwinden.«

Henri schlug die Warnung in den Wind. Er wollte die junge Adlige noch nicht verlassen. Seit ihrer ersten und einzigen Begegnung vor einigen Wochen malte er sich aus, wie es sein würde, sie wiederzusehen. Jetzt, da es endlich so weit war, konnte er nicht sofort wieder umkehren, egal, welche Gefahren dieses Verhalten auch bedeutete. »Flieg auf Höhe ihres Fensters.«

»Ich vermute, diese Idee ist keine gute.«

»Bitte!«

Neiron tat ihm den Gefallen.

Jetzt konnte Henri Catia richtig sehen. Mit verträumtem Gesichtsausdruck las sie in einem dicken Buch. Er hätte ewig so dasitzen und sie beobachten können.

Bei Neiron sah die Sache anders aus. Um auf einer Stelle schweben zu können, musste er in hoher Taktzahl mit den Schwingen schlagen. Das war mehr als schwierig in der engen Gasse. Und schon passierte es. Mit der Spitze seines Flügels schlug er gegen die Wand von Catias Quartier. Eine steinerne Zierrose brach ab und zersplitterte klirrend auf dem Boden.

Erschreckt blickte Catia auf – und Henri direkt in die Augen.

Der versuchte sich an einem fröhlichen Grinsen und winkte leutselig, als hätten sie sich gerade zufällig auf einem belebten Boulevard getroffen.

Diese Reaktion hatte nicht die gewünschte Wirkung.

Die junge Frau begann panisch zu kreischen.

Erst jetzt wurde Henri bewusst, dass die Adlige nur ein seidenes Nachtgewand trug, das weniger verbarg, als es offenbarte. Er wünschte sehr, die Augen niederschlagen zu können, schaffte es aber nicht, sondern starrte sie an. Sie ist wunderschön.

Wütend warf sie sich eine Decke über und zeigte mit dem Finger in Richtung Boden.

Oje, sie will mich sprechen.

Neiron schlug weiteren steinernen Zierrat von den Hauswänden. »Ich bin kein Kolibri, das war und werde ich nie!«

In den sie umgebenden Häusern wurden Fenster geöffnet und neugierig Köpfe herausgestreckt.

»Ich lande und du gehst dich erklären, bevor sich alle Nachbarn über unseren Auftritt beschweren.« Ein Anflug von Ärger und das Gefühl von Ich-habe-es-dir-doch-gesagt gingen von dem Wasserspeier aus.

Auch wenn es Henri ungemein peinlich war, wusste er, dass er um diesen Auftritt nicht herumkam, wollte er der Freiin jemals wieder unter die Augen treten.

Wackelig landete Neiron in der engen Straße. Er zerstörte dabei eine Laterne, zwei junge Platanen sowie einen Brunnen samt nackter Engelsfigur.

Weitere Fensterläden öffneten sich. Flüche durchschnitten die Stille der Nacht wie Peitschenhiebe.

»Ich beeile mich, bevor ganz Paris weiß, dass wir hier sind.« Mit vor Aufregung und schlechtem Gewissen pochendem Herzen schlich er zur Eingangstür des edlen Palais. Unschlüssig blieb er dort stehen. Anklopfen konnte er nicht, Mademoiselle de Morphy durfte schließlich nicht von seinem Besuch erfahren. Vielleicht kommt sie ja gar nicht runter, um ...

Im selben Moment wurde die Tür aufgerissen. »Wie könnt Ihr elender Stelzbock es wagen, mir nachzustellen«, zischte Catia.

»Ich wusste ja nicht, dass Ihr solch ein durchsichtiges Gewand ...«, machte sich Henris Mund selbstständig.

Aus ihren Augen schienen in diesem Moment Funken zu sprühen.

»Ihr platzt zu Recht der Kragen, wie kannst du so was Dummes sagen. Sprich die Wahrheit offen und klar. Sag ihr, darum bin ich da« , mahnte Neiron.

»Durchsichtig«, fauchte sie und zog die Decke enger um sich. »Das wird ja immer schöner.« Ihr Gesicht hatte im Schein des Kerzenleuchters, den sie wie ein Schwert vor sich ausgestreckt hielt, eine rötliche Färbung angenommen.

»Es ist ein wunderschönes Kleid. Ihr könnt es gut tragen, denn Ihr seid wunderschön und ...«

»Erst Kopf, dann Mund. Nicht Mund, dann Kopf, du dummer Tropf.«

»Verschwindet! Ich will Euch nie wiedersehen«, schnaubte Catia und machte sich daran, die Tür zu schließen.

»Bitte entschuldigt meine dummen Worte. Ich bin nur hier, weil ich in Sorge um Euch war«, brachte Henri endlich hervor.

Sie hielt in der Bewegung inne und blickte ihn durch einen handbreiten Türspalt an.

Henri nutzte den Augenblick und erzählte ihr schnell von dem diebischen Boten.

»Dann habe ich Euch in Gefahr gebracht.« Sie öffnete die Tür erneut ganz und bedachte Henri mit einem entschuldigenden Blick.

»Ach.« Er vollführte eine wegwerfende Geste. »Das war kein Problem. Ich weiß mich ja zu wehren.«

Genau in diesem Moment stupste Neiron ihn mit seiner Schwanzspitze ans Bein. »Fremde Federn stehen dir nicht gut und sie mag keinen Betrug, davon hat sie in ihrem Leben schon genug.«

»Oder um bei der Wahrheit zu bleiben, mein braver Begleiter hat mitgeholfen, ihn zu vertreiben.«

Neiron setzte seine Steintatze auf Henris Fuß.

Das fühlte sich an, als wäre der unter einen Mühlstein geraten. »Aua. Na gut, Neiron hat den frechen Bengel ganz allein vertrieben.«

Catia lächelte. Sie sah dem Gargoyle direkt in die Augen. Zögerlich streckte sie ihm den Handrücken entgegen.

Der Wasserspeier schnupperte daran und senkte dann den steinernen Schädel.

»Ihr dürft ihn gern anfassen«, übersetzte Henri diese Geste.

Zögerlich kam die Adlige dieser Aufforderung nach. »Danke, dass du Henri gerettet hast.«

»Ein schlaues Weibchen, das muss ich schon sagen, falls sie sich mit dir paart, darfst du nicht klagen.«

»Ähm ...« Nach wie vor verwirrten Henri diese merkwürdigen Gespräche mit Neiron in seinem Kopf und einem echten Menschen gegenüber. Dazu noch die Aussicht, sich mit Catia zu paaren, wie es Neiron ausdrückte. Immer wieder musste er an das durchsichtige Kleid denken.

»Hat er einen Namen?«, fragte Catia, die nun jede Scheu verloren hatte und Neiron an seiner liebsten Stelle zwischen den Ohren kraulte. Der Wasserspeier hatte seinen Schädel wohlig schräg gelegt.

Durchsichtiges Kleid. Durchsichtiges Kleid. Ein für Catia unmerklicher, aber durchaus kräftiger Hieb von Neirons Schwanz auf sein Hinterteil brachte Henri zur Vernunft. »Kleiron ... ähm ... Neiron.«

»Neiron, was für ein schöner Name«, lobte die Adlige.

»Wann hört ihr da unten endlich mit dem Geschnatter auf?«, keifte eine schrille Frauenstimme. »Das ist ja schlimmer als in Pigalle.«

»Es ist wohl besser, wenn ihr beiden jetzt geht.« Catia tätschelte Neiron ein letztes Mal, stand auf und beugte sich zu Henri herüber. »Danke, dass Ihr Euch Sorgen um mich gemacht habt.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Wagt es aber nicht, mich jemals wieder heimlich mithilfe Eures Gargoyles zu beobachten.« Warnend hielt sie Henri ihren Zeigefinger vors Gesicht.

»Nein, das werde ich nicht. Versprochen.« Henri glaubte, in diesem Moment ohne Neiron fliegen zu können. »Dennoch hoffe ich, dass Ihr bald wieder in Gefahr geratet, damit wir uns wiedersehen können.«

Irritiert verzog die Adlige ihr Gesicht.

Neiron biss in seinen Hosenboden, um ihn wegzuziehen.

Kopfschüttelnd schloss Catia die Tür.

»Was bin ich nur für ein Idiot«, ärgerte Henri sich, während er auf Neirons Rücken kletterte.

»Das passiert jedem bei der ersten Balz, wenigstens bekamst du keinen Biss in den Hals.«

»Was?«

Neiron antwortete nicht, sondern nahm stattdessen Anlauf und stieg in die Nacht hinauf. Tief flog er über die Häuser der schlafenden Metropole. Während Henri sich noch über sich selbst ärgerte, fielen ihm lauter kleine Metallplatten auf, die auf vielen Dächern lagen. Was ist das nun wieder für eine verrückte Mode? , wunderte er sich. Hatte er bereits einen wichtigen architektonischen Entwicklungsschritt verpasst, seitdem er die Bauhütte Notre-Dames hinter sich gelassen hatte? Plötzlich schimmerte eine der merkwürdigen Tafeln grünlich. Komisch. Eine weitere tauchte auf dem Nachbardach auf und auch diese blinkte für einen Augenblick grün. »Weißt du, was das ist?«, wandte er sich an Neiron.

»Das Signum meinesgleichen, nur mit den Augen eines Gargoyles sieht man diese Zeichen.«

»Etwa so was wie die Gargoyle-Post?«

»Ich kann dazu nichts sagen, besser ist es, die Platten zu befragen.«

Sie landeten auf einem Flachdach, auf dem besonders viele lagen. Henri rutschte von Neiron herunter und griff eine der handtellergroßen Platten. »Komisch.« Er drehte und wendete das von der sommerlichen Hitze warme Metall. »Nichts als dunkles, glattes Eisen. Vielleicht haben wir uns getäuscht. Hier steht gar nichts drauf.«

Neiron kam auf ihn zu. In dem Moment, als der Lichtstrahl seiner Augen auf die Platte fiel, begann sie zu leuchten. Buchstaben und eine Zeichnung kristallisierten sich heraus. Henri stockte der Atem:

Recherche de criminels!

Darunter war eine erstaunlich gute Zeichnung seines Gesichts in das Metall geätzt worden.

Henri Fournier (Steinmetz) hat sich des größten nur möglichen Verbrechens schuldig gemacht und sich iIlegitim eines Gargoyles bemächtigt sowie einen Marquis getötet. Seine Ergreifung – nur tot – und die Zerstörung seines unrechtmäßigen Chimères werden mit 10 000 Goldstücken belohnt.

Baron Ailly, Hauptmann der Chimères-Wache

»Die wollen uns umbringen. Ich werde wie ein Verbrecher gesucht! Sämtliche Reiter der Stadt sind vermutlich hinter uns her.« Henri blickte in die mondbeschienene Nacht. Jetzt kam es ihm so vor, als würde der Himmel vor Bewegung flirren. Sie waren nicht die Einzigen, die im Schutz der Dunkelheit über die Dächer der Stadt flogen. »Es war töricht, das Haus zu verlassen. Komm, lass uns gehen, bevor ...« Ein starker Luftzug ließ ihn innehalten.

Ein fremder Wasserspeier landete flügelschlagend wenige Schritte von ihnen entfernt auf dem Dach. Auf seinem Rücken saß ein grinsender, gut aussehender junger Mann. Er trug einen mit roten Federn geschmückten Dreispitz auf dem Kopf, den eine schulterlange Lockenperücke bedeckte. Seine Beine steckten in roten Strumpfhosen und knöchelhohen Wildlederstiefeln. Trotz der Wärme trug er einen blauen Wettermantel mit goldenen Beschlägen und ausufernden weißen Armaufschlägen aus Spitze. »Was macht Ihr denn hier, Reiter? Geht es Euch gut?«, fragte er mit ehrlicher Sorge in der Stimme und sprang leichtfüßig vom Rücken seines Gargoyles.

Henri versuchte die Aufregung in seiner Stimme zu verbergen. »Danke, wir brauchten nur eine kleine Rast. Die Hitze, Ihr wisst schon.«

»Da sagt Ihr was«, entgegnete der fremde Adlige und zog einen Lederschlauch unter seiner Weste hervor. Er nahm ein paar große Schlucke, bevor er weitersprach. »Der elende Pöbel scheint in diesen Sommernächten wie toll. Es sind so viele Aufstände, dass man kaum mit dem Niederschlagen hinterherkommt. Wie ein Waldbrand, der sich immer wieder von selbst anfacht, egal wie viele Bäume oder Köpfe man auch schlägt.« Er lachte über seinen makabren Witz. In diesem Moment wirkte sein feines Gesicht nicht mehr besonders attraktiv. »Aber das kennt Ihr ja sicherlich ebenfalls.«

Henri nickte nur vage. Er war froh, bisher nichts dergleichen erlebt zu haben. Der Tod des Marquis Le Puiset nagte noch immer an seinem Gewissen, nie wieder wollte er den Tod eines Menschen verantworten.

»Aber wo bleiben meine Manieren? Darf ich Euch einen Schluck Wein anbieten? Ein feiner Tropfen von der Loire. Allererste Güte, das kann ich Euch garantieren.«

»Nein, vielen Dank. Ich muss jetzt aufbrechen«, schlug Henri das Angebot eilig aus. Er wollte keinen Augenblick länger mit diesem menschenverachtenden Aufschneider verbringen.

Das Gesicht seines Gegenübers trübte sich ein. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass man ihm etwas abschlug. »Wie war nochmal Euer Name, Reiter?«

»Ich habe ihn Euch gar nicht gesagt«, war es Henri entschlüpft, bevor er seinen Mund daran hindern konnte.

»Nun, dann sage ich Euch meinen.« Der Chimères-Reiter streckte stolz die nicht besonders beeindruckende Brust hervor. »Ich bin der Herzog La Caraman. Meines Zeichens Pair de France und Euch gegenüber damit weisungsbefugt. Ich verlange, dass Ihr mir Euren Namen sagt.« Zur Untermauerung seiner Worte legte er die Hand an seinen mit Brillanten verzierten Degengriff.

»Ich ... nun ... ich bin der Großneffe von ...«

Der Blick des Herzogs fiel auf die Metallplatte, die Henri immer noch in der Hand hielt. Schnell zählte er eins und eins zusammen. »Ihr seid es«, hauchte er. Er zögerte keinen Augenblick. »Octave, Angriff! Das sind die gesuchten Illégitimes!«

Der Gargoyle des Adligen reagierte sofort, öffnete sein Maul und schoss den Strahl auf Henri ab.

Der hatte keine Chance, dem überraschenden Angriff auszuweichen. Der grüne Blitz schoss ihm direkt in den Bauch. »Ahh!«, schrie er eher ängstlich denn schmerzerfüllt. Komisch, hat er mich doch nicht getroffen? Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Er hatte sich keinen Schritt bewegt und der Gargoyle saß ihm direkt gegenüber. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er ängstlich auf seinen Körper. Außer einem großen Fleck Steinmehl war dort nichts zu sehen. Kein Blut. Keine Wunde. Sofort ergriff ihn die Sorge um Neiron, der direkt neben ihm stand. »Geht es dir gut?«

»Einen Angriff mit dem Strahl zu überleben, ist nichts mehr als ein Wunder, ich war schon eingestellt auf Versteinerung und schlimmsten Kummer.«

»Wie kann das sein?«, schrie der Herzog seine Verwirrung heraus. »Octave, töte seinen Wasserspeier!«

Ein weiterer Strahl schoss aus dem Maul des Gargoyles.

Henri hob blitzschnell die Hand, um den Angriff abzuwehren. Der grüne Strahl brach daran wie Wasser an einem Felsen. Henri spürte nur ein leichtes Kribbeln und den Geruch nach Verbranntem und Alkohol. Eine kleine Steinstaubwolke stieg auf und der tödlich intendierte Angriff war im wahrsten Sinne des Wortes verpufft.

Der Herzog zog seinen Degen. »Octave, du hast auch noch Klauen und Zähne. Zerfetzen wir diese Verräter.«

Henri wich vor diesen Waffen zurück.

Der fremde Gargoyle machte einen Satz nach vorn und hieb noch im Flug mit der Pranke.

Henri schaffte es, sich darunter wegzuducken, aber Neiron trafen die Krallen am Hals und Hinterkopf. Unbarmherzig rissen sie eine riesige klaffende Wunde. Augenblicklich quoll das an Mörtel erinnernde Blut des Wasserspeiers aus der Verletzung hervor.

Neiron schwankte und riss das Maul zu einem stummen Schrei auf.

Henri spürte seinen Schmerz deutlich. »Nein!«, brüllte er.

»Weiter so, Octave«, stachelte der Herzog seinen Gargoyle an und hielt den Degen auf Henri gerichtet.

Das Wesen hätte diesen Auftrag nicht gebraucht. Augenblicklich wendete es und attackierte Neiron von hinten, der es nicht schaffte, sich schnell genug umzudrehen. Allerdings machte er einen Satz nach vorn, sodass Octave seinen Rücken verfehlte und stattdessen nur das hintere Ende seines Schwanzes erwischte. Der Wasserspeier biss in seiner Raserei so kräftig hinein, dass er ein armlanges Stück davon abtrennte.

Neiron, nun wenigstens befreit von dem Angreifer, wendete und versuchte, sich zu wehren. Er sprang auf Octave zu, doch die Attacke war übereilt. Sein Prankenschlag ging fehl. Der im Kampf offensichtlich erfahrenere Octave wich geschickt aus und ging sofort zum Gegenangriff über. Er nutzte die nun entblößte Flanke Neirons, schoss nach vorn und schlug seine Zähne in die Kehle von Henris Gargoyle. Eine lebensgefährliche Attacke.

»Hör auf damit!«, brüllte Henri. Neirons Panik und Wut ließen ihn kaum einen klaren Gedanken fassen. Wie kann ich ihm helfen?

Der Herzog lachte gehässig. »Sehr gut, Octave, damit haben wir uns mal eben zehntausend Goldstücke verdient und dem Reich einen großen Dienst erwiesen. Der König wird uns dankbar sein.«

Neiron blickte Henri flehentlich an. Zum Sprechen oder gar zum Reimen hatte er keine Kraft mehr, das spürte Henri deutlich. Seine leuchtenden Augen flackerten wie eine Kerze im Wind, während er gefesselt in Octaves Maul hing. Der wartete offenbar nur noch auf den Befehl seines Reiters, um seine Kiefer ganz zu schließen. Henri glaubte, die Qualen des Wasserspeiers körperlich zu spüren. »Lass ihn in Ruhe!«, schrie er Octave an und rannte blindlings auf ihn zu. In vollem Lauf krachte er mit ausgestreckten Händen gegen den wütenden Leib aus Stein.

Henri trieb der Mut der Verzweiflung. Was sollte er gegen das zentnerschwere Wesen schon ausrichten? Stattdessen passierte etwas, womit er niemals gerechnet hätte: An der Stelle, an der seine Hände den bösartigen Gargoyle berührt hatten, platzte dessen Steinhaut mit einem lauten Knacken auf. Steinstaub stob auf. Wie kann das sein?

Sofort entließ Octave Neiron aus seinem lebensgefährlichen Biss und sein mit Gargoyle-Blut besudeltes Maul schoss auf Henri zu.

Henri glaubte in diesem Moment, den Zorn und die Schmerzen der mit dem Herzog verbundenen Kreatur zu spüren. Das ist unmöglich. Mein Geist spielt mir einen Streich. Er hob abwehrend die Hände. Eine Szene, die lächerlich aussehen musste, als würde man versuchen, eine rollende Kutsche mit bloßen Händen aufzuhalten.

Dennoch wirkte sie. Octave zögerte, ihn anzugreifen.

Was würde wohl passieren, wenn ich meine Hand in seinen Schlund stecke oder auf seine Augen lege? , sinnierte Henri.

»Was ist los, du feiges Vieh?«, keifte der Herzog. »Du hast diese Versager doch schon fast besiegt. Gib ihnen den Todesstoß.«

Henri ging auf Octave zu, seine Hände wie schlagbereite Waffen vor sich ausgestreckt. »Ich will dir nicht wehtun, werde es aber, wenn du nicht von Neiron und mir ablässt.«

»Wage es nicht, zurückzuweichen, du elender Steinhaufen!«, kreischte der junge Adlige außer sich vor Wut.

Beständig zwischen Henri und seinem Reiter hin- und herblickend, ging der Gargoyle rückwärts. Es war offensichtlich, dass er mit sich rang.

Henri war jetzt wieder auf Neirons Höhe. Erschüttert betrachtete er dessen Wunden. Sein steinerner Freund lag bewegungslos und mit geschlossenen Augen auf dem Dach. Neiron, wie geht es dir?

Von dem Wasserspeier kam keine Reaktion.

Henri traten Tränen in die Augen. Er spürte, dass das Lebenslicht seines Freundes schwächer und schwächer wurde.

»Octave, ich schwöre, dass ich dich eigenhändig zu Staub zermalme, wenn du diese schändlichen Verbrecher jetzt nicht zur Strecke bringst«, zeterte der Herzog weiter.

»Nein«, hauchte Henri und blickte dem Gargoyle in die leuchtenden Augen. Der duckte sich lauernd. »Du musst das nicht tun, Octave.«

»Nun mach schon«, brüllte der Herzog wie von Sinnen. Seine Stimme war schrill, wie die eines wütenden Kindes.

Der Gargoyle beugte sich schließlich seinem Reiter. Mit aufgerissenem Maul und ausgestreckten Tatzen sprang er auf Henri zu.

Warum? Tiefe Trauer überkam Henri. Auch wenn der Gargoyle mit einem Adligen verbunden war, der ihnen Böses wollte, war er eine wunderschöne Kreatur, die er zutiefst bewunderte. Sie zu verletzen, war eine Schande. Octave war jetzt über ihm. Nur noch ein Augenblinzeln, und dann würde das Wesen seine Zähne und Krallen in ihn bohren. Henri ließ sich in einer geschmeidigen Bewegung auf das Dach fallen und streckte gleichzeitig die Arme in die Luft. Er berührte den Unterleib der im Sprung befindlichen Kreatur mit seinen Fingerspitzen. Sofort gab die steinerne Haut nach. Steinstaub quoll hervor und rieselte Henri in die Augen. Er ignorierte das und bohrte seine Finger tiefer in das steinerne Fleisch und zog sie auseinander. Als würde er Papier zerreißen, zerbarst der Bauch der Kreatur. Massen an Mörtelblut brachen daraus hervor und bedeckten Henris Oberkörper. Wieder glaubte er die Qualen des fremden Wesens zu spüren.

Der Gargoyle kam aus dem Gleichgewicht, drehte ab und landete ein kleines Beben auslösend knapp neben Henri. Dachplatten zersplitterten. Einer zerfetzte Henris Wange. Er spürte den Schmerz kaum.

»Nein!«, jaulte der Herzog. »Octave, mein geliebter Octave.« Mit Tränen in den Augen stürzte der Adlige an die Seite des mit ihm verbundenen Wesens.

Henri konnte sich Mitgefühl für den Mann nicht leisten, er musste sich um Neiron kümmern. »Wie geht es dir? Kannst du fliegen?«

Neiron blieb stumm und bewegungslos.

Panisch betastete er Neirons klaffende Wunden. Beständig floss graues Blut daraus hervor – und mit ihm sickerte das Leben aus seinem Begleiter. »Nein. Bitte sag mir, was ich tun kann«, flehte er Neiron an.

Doch sein Gargoyle antwortete nicht mehr. Sein sonst so starker Atem wurde schwächer und schwächer. Das Ende schien gekommen zu sein. Henri spürte es.

»Bitte, so helft uns doch!«, schrie Henri in die Nacht hinaus. Salzige Tränen benetzten seine Lippen. Seine eben noch so machtvollen Hände zitterten vor Angst.

»Blut und Stein. Stein und Blut«, antwortete Henri jemand, von dem er es nie erwartet hätte. Er blickte in das verweinte Gesicht des Herzogs. Jetzt erst erkannte er, wie jung er war. Vierzehn, höchstens fünfzehn Jahre alt.

»Was? Wie meint Ihr das?«

Der Junge wischte sich mit dem teuren Stoff seines Mantels den Rotz von der Nase. »Das kann sie heilen. Menschliches Blut, auf eine Gargoyle-Wunde geträufelt oder umgekehrt ihres auf eine bei uns, aber ich fürchte, für unsere beiden Begleiter ist es selbst dafür zu spät. Ihre Wunden sind einfach zu groß. Der Blutverlust würde uns töten und sie dann gleichsam mit. Wäre ich doch nur an euch vorbeigeflogen, wie Octave es wollte.« Ein Schluchzen entwich ihm. Er warf sich über den Leib seines Wasserspeiers und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. »Bitte bleib bei mir.«

Henri dachte an die Nacht in den Katakomben, als er Neirons Körper mithilfe eines Gemischs aus Gips und seinem Blut geheilt hatte. Was ist, wenn damals nicht der Gips geholfen hat, sondern das Blut an meinen Händen? Noch immer zierte seine Stirn eine Narbe, die Zeugnis seines Sturzes vom Südturm und der daraus resultierenden Verletzung ablegte. »Gib mir deinen Degen«, forderte er den Herzog auf.

Der schniefte und blickte ihn aus tränenroten Augen an. »Was willst du damit?«

»Unsere Gargoyles retten.« Wenn ich es kann.

Mit zitternden Händen löste der Adlige seine wertvolle Silberwaffe und warf sie Henri vor die Füße. »Wenn du das schaffst, stehe ich für alle Zeiten in deiner Schuld.«

Das Wort eines Adligen wiegt so viel wie ein Furz , kamen ihm die Worte seines Meisters Perceval in den Sinn. »Für dich, Neiron«, murmelte Henri, legte die – vermutlich noch niemals benutzte – Klinge auf seine Handinnenfläche, machte eine Faust, drückte zu und zog die Waffe in einer schnellen Bewegung heraus. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Dunkle Blutstropfen quollen hervor. Eiligst sorgte er dafür, dass sie auf das mörtelartige Blut tropften, das Neiron in rauen Mengen verloren hatte. Anschließend durchmischte er die Masse, so wie er es mit echtem Mörtel ebenfalls getan hätte. Als er damit fertig war, schickte er ein Stoßgebet in den mondbeschienenen Himmel und klatschte dicke Brocken davon auf Neirons Wunden. Anschließend strich er sie mit den Händen glatt, damit sie sich den Konturen des sie umgebenden Steins anpassten. Als er mit seiner Arbeit zufrieden war, fragte er zögerlich: »Neiron, kannst du mich hören?«

Nur Stille antwortete ihm, obwohl die Verletzungen des Wasserspeiers vor seinen Augen heilten und neuer Stein sich an den entsprechenden Stellen bildete.

»Verflucht«, rief er zornig. »Das kannst du nicht machen! Bitte!«

»Bitte und danke. Krallen und Pranke ...«

Leise, wie der gehauchte Flügelschlag eines Schmetterlings, glaubte Henri diese Worte vernommen zu haben. Habe ich sie tatsächlich gehört oder mir nur eingebildet? »Neiron, komm bitte zu mir zurück.«

»Zurück, ein kleines Stück.«

Die Stimme wurde langsam lauter. Jetzt war sich Henri sicher, dass sie von Neiron kam.

»Dieser Bitte komm ich gern nach, du weißt doch, wie sehr ich dich mag.« Das Wunder passierte. Die Wunden schlossen sich endgültig. Aus brüchigem Stein wurde eine feste Fläche, die nur durch ihre etwas hellere Farbe von der restlichen Haut zu unterscheiden war. Einzig das bereits versteinerte Ohr blieb unverändert.

»Du bist wieder da!« Henri drückte dem Gargoyle einen Schmatzer auf die Schnauze. »Und jetzt kümmern wir uns um deinen Schwanz.«

»Das lass sein, ich bin in meiner Pein nicht allein.« Neiron öffnete die Saphiraugen und beleuchtete damit den sterbenden Octave.

»Ich weiß nicht, ob ich dort das Gleiche vollbringen kann«, sagte Henri unsicher. Dennoch stand er ächzend auf, seine verletzte Hand gegen sich gepresst. Er brauchte einen Moment, um festzustellen, dass dies unnötig war. Der Schnitt war vollständig verheilt. Blut und Stein. Stein und Blut. Henri verstand. »Hier.« Er hielt dem jungen Adligen dessen Degen hin. »Octave braucht Euer Blut. Schnell!«

Mit kreidebleichem Gesicht nickte der Herzog und zog sich die Klinge über den Unterarm. »Aua.«

»Das Blut über seines. Eilt Euch!«, befahl Henri bestimmt.

Auf Anhieb gehorchte der Junge.

»Jetzt …«

»… mische ich mein Blut mit dem Octaves und verschließe seine Wunden damit«, unterbrach ihn der Adlige. »Ich bin nicht blöd, und das, was ein einfacher Steinmetz wie Ihr kann, kann ich schon lange.« Der Herzog klatschte große Batzen des Gemischs auf Octaves klaffende Bauchwunde. Doch anders als bei Neiron schloss sich die Verletzung nicht. Stattdessen lief die Mixtur mit einem Schmatzen wieder heraus.

»Es funktioniert nicht. Warum?«, schrie La Caraman ängstlich. All sein eben noch zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein war wie weggeblasen.

Kann es sein, dass nur ich … Henri schob den Adligen zur Seite, tauchte seine Hände in das Gargoyle-Mensch-Blutgemisch und vollzog dieselbe Prozedur wie bei Neiron. Unter seinen Fingern schlossen sich Octaves Wunden augenblicklich. Neuer Stein entstand.

»Wie machst du das?«, rief der Herzog ungläubig.

»Ich ... ich weiß es nicht.« Henri strich über den Körper des fremden Wasserspeiers. Ein tiefes Schnaufen erklang. Octaves Brustkorb hob und senkte sich wieder rhythmisch. »Danke, Sculpteur« , wisperte plötzlich eine volltönende Stimme durch Henris Kopf.

Er spricht mit mir. Wie kann das sein?

»Merci«, raunte der Herzog, umarmte Henri stürmisch und lenkte ihn damit von diesem Rätsel ab. »Das vergesse ich Euch nie.«

Henri nickte, klopfte sich die Hände ab und stand auf. Er sah zu Neiron, der zaghaft probierte, ob seine Flügel wieder problemlos schlagen konnten. Es gelang ihm.

Von der Straße unter ihnen ertönten hektische Stimmen. »Dort oben muss es eine Art Kampf gegeben haben. Schauen wir nach!«

»Ich muss gehen. Am besten vergesst Ihr, dass Ihr uns jemals getroffen habt, Herzog.«

Wenig vornehm zog der Adlige die Nase hoch. »Viel Glück. Ich werde die anderen Jäger von Eurer Spur ablenken. Baron Ailly und seine Leute sind seit Wochen auf der Suche nach Euch. Die Schlinge um Euch und Euren Neiron zieht sich zu. Wenn Ihr meinen Rat wollt: Flieht aus der Stadt, solange Ihr noch könnt.«

Ein Kälteschauer der Angst durchlief Henri. Er rannte zu Neiron und kletterte auf seinen Rücken. »Du hast es gehört, wir müssen hier weg.« Er fasste Neiron bei den Ohren. »Danke für Euren Rat, Herzog.«

Der Adlige nickte stumm.

»Los geht’s«, flüsterte Henri in Neirons gesundes Ohr. »Kannst du auch mit kurzem Schwanz fliegen?«

Statt einer Antwort stürzte sich der Gargoyle vom Dach.

Henri ging trotz des waghalsigen Flugmanövers immer wieder nur ein Wort durch den Kopf. Sculpteur.