11. bis 12. Juli 1789, Paris, Königreich Frankreich
Kopfschüttelnd stieg Catia die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Was war das doch für ein merkwürdiger Abend. »Ich wusste ja nicht, dass Ihr solch ein durchsichtiges Gewand tragen würdet«, äffte sie den frechen Bengel nach. Was glaubte dieser Henri, wer er war, dass er derartige Anzüglichkeiten von sich gab? »Es ist ein wunderschönes Kleid. Ihr könnt es gut tragen, denn Ihr seid wunderschön«, murmelte sie vor sich hin. Unwillkürlich musste sie lächeln. Wie konnte jemand, der sich so dumm verhielt, gleichzeitig so charmant sein?
Er ist gekommen, weil er sich Sorgen um mich gemacht hat.
Sacht drückte sie die Klinke der Tür zu ihrer kleinen Kammer herunter und betrat in den schwülheißen Raum. Zaghaft blickte Catia aus dem runden Fenster. Bisher hatte sie sich hier oben geborgen und unbeobachtet gefühlt. Ihr Zimmer war ihr zu einem sicheren Hafen geworden, in den sie nach all den höfischen Intrigen und dem elenden Tratsch aus Versailles zurückkehrte. Hier hatte sie bisher Ruhe gefunden – zumindest so lange, bis sie die Geister der Vergangenheit einholten. Mittlerweile sah sie zwar nicht mehr jedes Mal den Tod ihres Vaters oder den Magalis, wenn sie die Augen schloss, aber im Schlaf holten sie die albtraumhaften Szenen früher oder später stets ein. Und dann war da ja noch jener Mord, den sie selbst begangen hatte. Matteos Röcheln im Todeskampf hatte sich in ihr Gedächtnis eingegraben und würde sie niemals wieder loslassen.
Seufzend lehnte sie sich aus dem Fenster und blickte in die sternenklare Nacht hinaus. Ob er da oben jetzt irgendwo fliegt? Gar erneut versucht, mich zu beobachten? Wobei, er hat versprochen, es nicht zu tun. Obwohl sie sich darüber ärgerte, dass Henri sie heimlich betrachtet hatte, war sie sich sicher, dass er der erste Mensch in Paris war, der sie nicht angelogen hatte. Wieder schlich sich ein Grinsen auf ihr Gesicht. Breit und ehrlich. Wann hatte sie zuletzt wirklich einen Grund gehabt, ihre Mundwinkel nicht hängen zu lassen? Sie schnaubte belustigt.
»Was für ein komischer Kauz Ihr doch seid, Henri Comte de Mirabeau«, vertraute sie der Nacht an. Niemals zuvor war ihr ein Adliger begegnet, der sich so wenig aristokratisch verhalten hatte wie dieser Junge. Am Versailler Hof wäre er nach wenigen Augenblicken zerfetzt und aufgefressen worden. Schon was er für Kleidung trug, und seine Perücke sah aus wie ein gerupftes Huhn – wenn er denn eine trug. »Er wirkt so normal«, sprach sie weiter mit sich selbst und ließ sich auf ihr Bett fallen. »So nett, fast, als wäre er gar kein Edelmann.«
Doch das konnte nicht sein. Der Beweis hatte ihn hinauf zu ihrem Fenster getragen. Sie dachte an seinen Gargoyle. Neiron. Die lebendigen Steinkreaturen ängstigten und faszinierten sie zugleich. Vater war einst auch mit solch einem Wesen verbunden. Nachdem sie in den letzten Wochen im königlichen Schloss täglich die Möglichkeit gehabt hatte, Männer und die mit ihnen verbundenen Wesen zu beobachten, glaubte sie den Schmerz ihres Vaters über den Verlust seines Gargoyles besser verstehen zu können. Mensch und Wasserspeier schienen so eng verbunden, dass sie eher wie eine einzige Person als wie zwei unterschiedliche Wesen wirkten. Ständig waren sie zusammen, berührten einander oder hielten stumme Zwiesprache. Der Verlust eines solchen Wesens musste sich anfühlen, als wäre ein Teil von einem selbst gestorben.
Ob ich auf Vaters Gargoyle Maël hätte reiten dürfen, wenn er nicht zerstört worden wäre? Es erschloss sich Catia nicht, warum sich die mächtigen Wesen nur mit Männern verbanden – und Adligen. Wieder musste sie an Henri denken. Ein Mann war er, das hatte sein dümmlicher Auftritt klar bewiesen. Aber ein Adliger? Er hat sich echte Sorgen um mich gemacht, ohne einen Vorteil daraus zu ziehen. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Henri. Sie gähnte und schüttelte ihr Kissen auf. Und genau deswegen mag ich ihn. Schnell pustete sie die Kerzen aus, damit die Dunkelheit diesen undenkbaren Gedanken verschluckte und ihr breites Lächeln verbarg.
»Wunderbar seht Ihr aus«, lobte Marie-Louise Catia am nächsten Morgen, als sie die Treppe hinabstieg. »Frisch wie der Frühling.«
»Danke«, hauchte Catia, ganz in der Rolle der unterwürfigen und lernbegierigen Unschuld vom Lande. Mittlerweile hasste sie es, sich ständig so herausputzen zu müssen. An manchen Tagen zog sie sich sogar mehrmals um. Die elend schweren und warmen Perücken, die Massen an Stoff und die unbequemen Schuhe, all das fühlte sich immer weniger wie ein Privileg und immer mehr wie ein Gefängnis an. Ein Gefängnis, in dem es sich ihre Gastgeberin gut eingerichtet hatte. Alles in Marie-Louises Leben drehte sich um Schönheit, Status und Besitz. Eigentlich traurig , dachte Catia und lächelte die ehemalige Mätresse an.
Trotz allem fühlte sie sich heute Morgen tatsächlich frisch und ausgeruht. Sie hatte so gut geschlafen wie seit Langem nicht mehr. Beinahe so gut wie vor der Ermordung meiner Familie. Sie brauchte einen Moment, bis sie verstand, woran dies gelegen hatte. In der letzten Nacht hatte ich keine Albträume. Vielmehr hatte sie von Gargoyles geträumt. Nein, ich habe davon geträumt, auf einem von ihnen zu fliegen – gemeinsam mit Henri. Ein angenehmes Kribbeln durchflutete ihren Bauch. Jetzt hat es dieser freche Bengel auch noch gewagt, in meine Träume einzubrechen. Unwillkürlich musste sie lächeln.
»Seid Ihr bereit für einen ganz besonderen Ausflug?«, fragte Marie-Louise im Verschwörerton und grinste übers ganze Gesicht. Selten hatte Catia sie so fröhlich gesehen.
»Fahren wir etwa nicht nach Versailles?«, fragte sie froh und ängstlich zugleich, da sie gehofft hatte, dort heute Neues für Mirabeau und die Nationalversammlung zu erfahren. Sie hatte extra ein Treffen mit Peter Viktor von Besenval, dem Freiherrn von Brunnstatt, ausgemacht. Er war der Kommandant sämtlicher französischer Truppen im Innern und hatte sein altersschwaches Auge auf sie geworfen. Die Avancen des bald Sechzigjährigen waren Catia unangenehm, aber die Informationen, über die der Militär verfügte, waren für die Nationalversammlung nicht mal mit Gold aufzuwiegen, und daher ließ sie ihn nicht gänzlich abblitzen.
Trotzdem freute sie sich, dass ihre tägliche Routine endlich durchbrochen wurde. Die ständigen Feste, Bälle und Staatsempfänge in Versailles langweilten sie inzwischen. Alles war stets vorhersehbar und eingekleidet in die Hofetikette, die über allem schwebte und herrschte. Catia beneidete den König nicht um sein Leben. In ihren Augen war er kaum selbstbestimmt, sondern befolgte brav blödsinnige Regeln, die irgendjemand vor Jahrhunderten aufgestellt hatte. Wie gern würde sie stattdessen wieder einmal in Hosen auf einem Pferderücken sitzen oder in den Getreidefeldern Argentons mit ihren Freunden Fangen spielen. Dieses Leben gibt es nicht mehr , ermahnte sie sich. Und auch nicht die Menschen, mit denen du es einst geteilt hast. Diese Erkenntnis fühlte sich an, als würden sich schwere Fesseln um ihr Herz legen. Die Melancholie brachte die Trauer zurück. Sie holte tief Luft, um äußerlich Fassung zu bewahren.
»Nein, heute machen wir mal etwas Verruchtes. Wir vergnügen uns im Palais Royal.« Marie-Louise ließ sich zu einem frechen Zwinkern samt frivolem Hüftschwung hinreißen. Dabei kam ihr voluminöser Reifrock einer blau bemalten chinesischen Vase gefährlich nahe.
Erstaunt zog Catia die Augenbrauen hoch. »Das Palais Royal?«, fragte sie ungläubig.
»Oui«, war die beiläufige Antwort der Mätresse, die sich einem Spiegel zugewandt hatte und an ihren Wimpern herumspielte.
Catia konnte es kaum glauben. Die weitläufige Palast- und Parkanlage des Palais Royal war das Vergnügungszentrum der Stadt. Der Komplex gehörte den Mitgliedern des direkt mit dem König verwandten Hauses Orléans und durfte deswegen nicht von den Stadtwachen betreten werden. Und daher hatte sich das Palais zu einer eigenen Welt innerhalb von Paris entwickelt.
Den Kern bildete hierbei die erst vor einigen Jahren errichtete Galerie de Bois, die sich hufeisenförmig um den Palastgarten zog. Dort gab es neben Wohnungen, zahlreichen Restaurants, Cafés, Läden sowie Glücksspielhäusern vor allem die Möglichkeit der freien Rede, da der Herzog von Orléans den Ideen der Aufklärung nahestand. Er nahm sogar selbst an der Nationalversammlung teil. Freigeister aus dem ganzen Land konnten daher im Palais Royal ihre Ideen unter die Leute bringen.
Das andere Gesicht dieses Vergnügungstempels war die nahe gelegene Promenade der Allée des Soupirs. In ganz Europa kannte man die Seufzerallee, da sich dort, so behauptete der Volksmund, die schönsten Mädchen Frankreichs prostituierten. Angeblich waren unter ihnen sogar Damen aus dem Hochadel. Alles in allem ein Ort, den Catia zu besuchen niemals gewagt hätte. Marie-Louise schien ihr die Überraschung anzusehen.
»Keine Angst, meine Hübsche. Ich beschütze dich in dieser Brutstätte des Lasters. Glaub mir, es gibt keine Sünde, die ich nicht kenne oder nicht bereits begangen habe. Wenn ich wollte, könnte ich vermutlich die inoffizielle Bürgermeisterin des Palais werden.« Marie-Louise lachte laut.
Catia riss die Augen auf.
»Heute will ich allerdings nur ein wenig nach der neuesten Mode in den Geschäften Ausschau halten und in einem der wunderbaren Cafés diesen sommerlichen Sonntag gemeinsam mit dir genießen.«
Catias Laune stieg. Sie freute sich über diese willkommene Abwechslung. »Was für eine reizende Idee. Gibt es denn etwas zu feiern?«
»Vielleicht …«
»Und Versailles?«, bohrte Catia nach. Ein wenig quälte sie das schlechte Gewissen, dass sie für Mirabeau keine Neuigkeiten würde besorgen können.
»Ist heute kein Ort für uns«, unterbrach Marie-Louise sie barsch. Für einen Moment wurde ihr fröhliches Gesicht zornig. Schnell hatte sie sich jedoch wieder im Griff. »Komm jetzt, die Kutsche wartet.«
Das Gefährt rumpelte durch die Straßen der Stadt. Die Hitze und der christliche Ruhetag schienen das Leben in der sonst so quirligen Metropole zum Erliegen gebracht zu haben. Nur wenige Menschen waren auf den Straßen zu sehen. Nachdenklich heftete Catia daher den Blick auf ihre Retterin. Ist es richtig, sie zu hintergehen und für Mirabeau zu spionieren?
Marie-Louise zupfte wie so oft an ihrem Ausschnitt herum, um ihn noch ein wenig besser zur Geltung zu bringen. Dennoch bemerkte sie Catias Blick. »Was ist los, Kind? Bedrückt dich etwas? Raus mit der Sprache! Es gibt nur wenige Probleme, die diese Mesdemoiselles nicht lösen könnten.« Sie umgriff ihren Busen mit beiden Händen und rüttelte lachend daran.
Das entlockte Catia ein Schmunzeln. Auf gewisse Weise muss man sie bewundern. Sie macht aus den ihr gegebenen Talenten das Bestmögliche. Von einigen missgünstigen Höflingen wusste Catia, dass Marie-Louise aus einfachsten Verhältnissen stammte, ihre Eltern angeblich sogar kriminell gewesen waren. Und jetzt geht sie bei Hof ein und aus. Der König kennt sogar ihren Namen. Um von ihren eigentlichen Gedanken abzulenken, sagte Catia: »Es geht um meine Familie. Ihr hattet mir versprochen, dafür zu sorgen, dass die Täter, die meinen Vater ermordet haben, bestraft werden.«
Ein listiges Lächeln schlich sich auf das Gesicht der Mätresse. »Und ich halte meine Versprechen. Glaub mir. Bisher hatte ich noch nicht die richtigen Mittel ...«
Den richtigen Mann im Bett, meint sie damit.
»... aber schon sehr bald wird sich alles ändern. Sehr bald! Hab Vertrauen.«
»Wie ...«, wollte Catia nachhaken, aber im selben Augenblick kam die Kutsche zum Stehen und der Kutscher rief: »Palais Royal.«
»Los geht’s«, rief Marie-Louise vergnügt und verließ beschwingt die Kutsche.
Wohl oder übel folgte Catia ihr.
Sie betraten die großzügige Schlossanlage durch ein weit offen stehendes Tor. Dahinter war nichts mehr vom verschlafenen sonntäglichen Paris zu spüren. Massen an Menschen flanierten durch den Park oder unter den Kolonnaden. Auf der großen Rasenfläche im zentral gelegenen Park zeigten Artisten ihre Künste. Die Männer und Frauen waren dabei äußerst spärlich bekleidet, wie Catia beobachtete. Es schien eher ein Lustspiel zu sein als Akrobatik.
Marie-Louise hatte dafür weder Augen noch Zeit. Sie zog Catia in Richtung der Arkadengänge der Galerie de Bois. Dort gab es die Hauptattraktionen des Palais Royal: Geschäfte mit den edelsten Kleidern, Hüten, Schuhen und Stoffen in einer Auswahl und Qualität, wie man sie so nirgendwo auf der Welt fand. »Ich bin im Paradies«, jubelte Marie-Louise und stürzte in den erstbesten Laden.
Das wird ein langer Sonntag , war sich Catia sicher und folgte ihr.
»Mir tun die Füße weh«, stöhnte Marie-Louise, nachdem sie sich am späten Nachmittag in einem kleinen Café niedergelassen hatten und auf ihre Bestellung warteten.
Mir erst. »Aber es hat sich gelohnt«, gestand Catia der Mätresse zu. Sie musste an die zahlreichen Kisten und die kleine Heerschar von Dienern denken, welche die Einkäufe bereits auf einem Karren zurück zum Haus ihrer Gastgeberin transportierten.
»Ja, das kann man wohl sagen. Was tut man nicht alles, um bei Hof wieder Ansehen zu erlangen.« Sie lachte vergnügt. »Bald schon werde ich dort all das vorführen können und ich versichere dir, den anderen werden die Augen übergehen. Ich werde wieder die Attraktion des Schlosses sein, wie zu meinen besten Zeiten. Der König wird gar nicht anders können, als mich anzuflehen, dauerhaft im Palast zu leben.«
Nicht schon wieder das Thema Logeante , dachte Catia genervt.
»Schon sehr bald wird sich mein Traum erfüllen, und dann bekommst du deine Rache«, deutete die Mätresse hintergründig an und führte mit abgespreiztem kleinem Finger ihre mit winzigen Schwalben bemalte Porzellantasse zum Mund.
Anderer Ort, gleiches Thema. Seufzend widmete sich Catia ihrem eigenen Kaffee. Erstaunlich schnell hatte sie an dem exotischen und teuren Getränk Gefallen gefunden, das sie erst in Paris kennengelernt hatte. Ich habe Mirabeau versprochen, etwas für ihn herauszufinden , erinnerte sie sich ihres Auftrags. In den Läden hatte sie nur den üblichen Tratsch vernommen, nichts, wofür sich der Comte interessieren würde. Vielleicht hatte sie hier ja mehr Glück. Sie spitzte die Ohren, um die Gespräche an den Nachbartischen des exklusiven Cafés zu belauschen.
Direkt neben ihnen saßen zwei edel gekleidete Herren, die sich angeregt unterhielten.
»... und wenn ich es Euch doch sage, man bezeichnet es auf den Straßen als aristokratisches Komplott«, führte der Jüngere von beiden gerade aus.
Sein Gegenüber lachte gehässig. »Was soll der König denn sonst tun, als die verrückten Forderungen dieser sogenannten Nationalversammlung auszubremsen? Ich sage Euch, seine Verzögerungstaktik wird diese Spinner über kurz oder lang zur Vernunft bringen. Die Monarchie hat Jahrhunderte überstanden, dieses Intermezzo der Generalständeversammlung wird nicht mit einer Silbe in den Geschichtsbüchern erwähnt werden.«
»Da seid nicht zu sicher«, beharrte der andere und trank einen Schluck Rotwein. Mit fliederblau verfärbten Zähnen sprach er weiter. »Der Volksmund behauptet inzwischen, dass Seine Majestät bewusst die Verbesserung des Lebens der armen Schichten hintertreiben würde.«
»Lächerlich.«
»Gerüchte gehen um, dass der Adel Getreide horten würde und Banden engagiert hätte, die überall im Land die Ernten vernichten, damit das Volk hungert.«
»Gerüchte ohne jede Substanz, das muss selbst ein Gossenjunge verstehen«, giftete der ältere der beiden Gesprächspartner, bevor er sich von einem Silberteller eines der raffiniert angerichteten Törtchen schnappte und in den Mund schob.
»Was jeder Gossenjunge sehen kann, sind die Truppen, die unser geliebter Herrscher um Paris hat aufmarschieren lassen«, beharrte der Jüngere. »Das fühlt sich für einige Menschen so an, als würde man ihnen ein Messer an die Kehle setzen. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass sich das Volk heimlich bewaffnet. Überall bilden sich Bürgerwehren.«
Nachdem er sich genüsslich die Creme von den Fingern geleckt hatte, entgegnete sein Gegenüber: »Diese Stümper wird unsere stolze Armee hinwegfegen, wenn sie auch nur wagen sollten, an Widerstand zu denken.«
»Sagt mir doch, mein lieber Freund, wer denn das Gros der Truppen bildet.«
»Das zu beantworten ist leicht.« Der Ältere schob das Kinn vor und zuckte mit den breiten Schultern. »Einfache Männer aus dem Volk.«
Sein Freund tippte triumphierend mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Deren Familien ebenfalls Hunger leiden. Es braucht nicht mehr viel, bis große Truppenteile zu den Aufständischen überlaufen. Glaubt mir!«
Mirabeau wird erfreut sein , dachte Catia erregt. Bevor sie weiterlauschen konnte, wurde sie unterbrochen.
»Mademoiselle, darf ich Euch noch etwas anbieten?«
»Was?« Catia ruderte mit den Armen, weil sie sich so weit zu den beiden Herren hingeneigt hatte. Knapp konnte sie sich abfangen und einen Sturz verhindern.
Das brachte ihr einen missbilligenden Blick von Marie-Louise ein.
»Möchtet Ihr noch etwas essen oder trinken?« Ein Diener in einem weißroten Frack lächelte Catia unter seiner Lockenperücke demütig an.
»Nun ...« Bedauernd schaute sie zu den beiden Herren hinüber, die sich gerade aufmachten zu gehen. »... ein Glas verdünnter Wein wäre bei der Hitze gut.« Kokett wedelte sie sich Luft mit ihrem Seidenfächer zu, so wie Marie-Louise es ihr beigebracht hatte.
»Für mich auch«, schnaufte die Mätresse. »Bei diesem Wetter kann man ja gar nicht ...«
Ein in einfache, beige-braune Kleidung gewandeter Junge mit einer roten Zipfelmütze auf dem Kopf stürmte herein. Trotz seines bescheidenen Äußeren drehte sich das gesamte Café nach ihm um. Für einen kurzen Moment legte sich eine ungewöhnliche Stille über den bisher so geschäftigen Raum, dann schrie der Junge: »Finanzminister Necker wurde vom König abgesetzt.«
»Was? Wieso? Woher weißt du das?«, kam ihm sofort eine Flut von Fragen entgegen.
Der Junge blickte überfordert zwischen den Fragestellern hin und her.
Plötzlich stand Marie-Louise auf. Ihr Anblick – und auch vermutlich der ihres Ausschnitts – zogen den Jungen in seinen Bann. »Wer wird denn sein Nachfolger?«, hauchte sie mit ihrer rauchigsten Verführerinnenstimme.
Wieso stellt sie als Erstes diese Frage? , wunderte sich Catia.
»Baron de Valdec de Lessart, Neckers bisher engster Mitarbeiter, Madame.«
Marie-Louise lächelte wissend und schnipste dem Jungen eine Silbermünze zu. »Danke für diese großartige Information.«
Im Café ertönten Diskussionen, Fragen und kritische Einlassungen. Neckar war bisher der wichtigste Minister des Königs gewesen – und der im Volk beliebteste Politiker. Mithin der führende Kopf hinter der Generalständeversammlung und damit jemand, der immerhin eine mögliche Lösung für den immensen Schuldenberg der Krone hätte aushandeln können.
Catia blickte Marie-Louise an. Sie hat es gewusst! Deswegen sind wir heute nicht in Versailles. Sie wollte den Proteststurm hier aussitzen. Der Baron war seit geraumer Zeit Marie-Louises heimlicher Liebhaber, das wusste Catia. Sie hat all das von Anfang an geplant. Mit seiner Hilfe wird sie wieder zu einer Logeante werden. Nur zu gut erinnerte sich Catia an de Lessart. Er hatte sie und ihre tragische Lebensgeschichte genutzt, um den König davon zu überzeugen, sich den Forderungen der Vertreter des dritten Standes entgegenzustellen. Und nun ist er dank mir an dem Platz, den er, nein, den die beiden hier die ganze Zeit angestrebt haben: Finanzminister Frankreichs und damit der Totengräber aller Hoffnungen auf Veränderungen.
Die Mätresse verwechselte Catias Blick mit Bewunderung. »Nun, ich habe nicht zu viel versprochen. Ich erhalte wieder den mir zustehenden Platz und Claude Antoine wird sicher auch zu gegebener Zeit die Mörder Eures Vaters bestrafen. Vorher muss er nur noch schnell diesen Spuk namens Nationalversammlung beenden.«
Zu diesem Preis will ich keine Rache mehr. Catia sah sich in dem vollgestopften Raum voller teurer Stoffe, edler Parfüme und falscher Haare um. Mit einem Ruck zog sie sich ihre Perücke vom Schädel.
»Was tust du da?«, zischte Marie-Louise.
»Was ich schon lange hätte tun sollen. Ihr habt mich gut betreut und seid eine Meisterin in dem, was Ihr tut, das will ich anerkennen. Aber nun ist es Zeit, meinen eigenen Weg zu gehen. Ihr braucht mich doch ohnehin nicht mehr.«
Ein böses Grinsen schob sich auf das Gesicht der Mätresse. »Nun, da sprichst du ein wahres Wort.« Dem verdatterten Diener, der immer noch auf die Bestellung wartete, rief sie triumphierend zu: »Eine Flasche Champagner. Heute ist ein Freudentag.«
Mit Tränen der Wut in den Augen stürmte Catia aus dem Café. Ich habe mich viel zu lange von ihr benutzen lassen. Zu ihrer Überraschung rannte sie mitten hinein in eine brodelnde Menschenmenge. Der gesamte Park war voller Menschen. Das müssen Tausende sein. Was ist hier los?
Eine durchdringende Stimme erklang. »Bürger, hört mir zu! Ich komme soeben aus Versailles. Der König hat Finanzminister Necker entlassen. Damit stirbt jede Hoffnung auf positive Veränderungen in diesem Land. Noch heute Abend werden die Söldnerheere vor den Toren der Stadt ausrücken, um uns niederzumetzeln.«
Catia streckte sich, um den Mann zu erblicken, der zwischen zwei Arkadensäulen auf einem Zaun stand. Sie fragte eine neben ihr stehende Frau: »Wer ist das?«
»Das ist Camille Desmoulins, der berühmte Journalist«, antwortete die entzückt.
»Es bleibt uns nur eine Rettung übrig«, fuhr Desmoulins fort und machte eine künstliche Pause, in welcher der Menge der Atem zu stocken schien. »Wir greifen zu den Waffen!«
Jubel brandete auf.
»Damit wir, die wir für die gute Sache eintreten, einander erkennen, mögt ihr alle als Kennzeichen ein Blatt von diesen Bäumen nehmen und wie ich an den Hut stecken.«
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die Bäume entlaubt waren. Auch Catia griff sich ein Ahornblatt und steckte es sich ans Kleid.
»Die Stunde ist gekommen, in der sich die Unterdrückten endlich von ihren Unterdrückern befreien. Daher kann es jetzt nur eine Losung geben: zu den Waffen!«
»Zu den Waffen!«, skandierte die Menge – und Catia mit ihnen.