12. bis 13. Juli 1789, Paris, Königreich Frankreich
»Ich komme«, rief Henri gehetzt und sprang die letzten drei Treppenstufen hinunter, um schneller an der Haustür zu sein. Hoffentlich ist das endlich eine weitere Nachricht von Catia.
Am Mittag hatte Catia Mirabeau durch einen Boten in einer hektisch hingekritzelten Nachricht von der aufrüttelnden Rede des Journalisten Desmoulins im Palais Royal berichtet und versichert, dass sie sich alsbald wieder melden oder womöglich vorbeikommen werde. Augenblicklich hatte der Comte mit Archimbald das Haus verlassen, um die Geschehnisse in der Stadt mit eigenen Augen zu sehen. Nach dem, was Henri in der letzten Nacht passiert war, hatte Mirabeau entschieden, dass er es unter keinen Umständen wagen durfte, das Haus zu verlassen.
»Wir sind fast am Ziel«, hatte sein Mentor ihm erklärt. »Und ich will nicht riskieren, dass man Euch und Neiron die dickköpfigen Schädel abschlägt, so kurz bevor wir Frankreich und Eure Situation zum Besseren gewendet haben.« Henri war nicht umhingekommen, Mirabeau recht zu geben. Und dennoch fühlte es sich für ihn so an, als würde sich gerade die Welt vor seiner Haustür verändern und er dabei untätig im Sessel sitzen.
Hektisch riss er die Tür auf. »Catia«, rief er freudestrahlend.
»Leider nicht«, entschuldigte sich ein rotwangiger Mann mit Halbglatze, der in mehlbestäubte weiße Kleidung gehüllt war.
»Ah, bonjour, Pierre!«
»Monsieur le Comte, ich wünsche Euch einen guten Tag. Eigentlich steht meine wöchentliche Brotlieferung ja erst morgen an, aber auf den Straßen ist so viel los, dass ich Angst habe, morgen meinen Laden nicht mehr verlassen zu können.«
»Was ist los?«, fragte Henri mit vor Aufregung trockenem Mund.
»Massen an Menschen. Normale Leute und Soldaten. Und der Himmel ist voll mit Gargoyles«, raunte Pierre verschwörerisch. »Die Menge ist in einer Art Triumphzug vom Palais Royal mit Wachsbüsten von Necker und dem Herzog von Orléans aufgebrochen. Die Büsten haben sie mit grünen Blättern bekränzt, als wären es antike Kaiser. Zumindest habe ich das gehört. Eine Menge Leute tragen gerade Blätter am Hut oder Revers. Scheint eine neue Mode zu sein.«
»Wo ist der Triumphzug jetzt?«, fragte Henri aufgeregt.
»Eine Kundin hat mir erzählt, sie hätte gehört, dass die Menge an der Place Louis XV. von Truppen des Dragonerregiments des Prinzen Lambesc auseinandergetrieben worden sei. Ein Großteil soll wohl in die Tuileriengärten geflohen sein, aber Genaues weiß ich nicht und will es auch nicht wissen. Das sind doch alles nur krakeelende junge Leute, die glauben, alles besser zu wissen. Aufruhr ist immer schlecht fürs Geschäft, so sehe ich das.«
»Ah, da sagt Ihr was!« Henri flitzte ins Haus, um den Mann zu bezahlen.
Mit einem dankbaren Nicken griff der die Münzen mit seiner dicken Hand und ließ sie unter der Kleidung verschwinden. »Grüßt mir Euren Großonkel und passt auf Euch auf, junger Herr. Der kreischende Mob ist auf Höhergeborene wie Euch nicht gut zu sprechen.« Mit einem knappen Nicken verabschiedete sich der Bäcker und schlurfte zu seinem Karren zurück.
Henri riskierte einen kurzen Blick die Straße rauf und runter. Hier war es so ruhig und langweilig wie eh und je. Dann sah er hoch zum orange verfärbten Abendhimmel. Zwei Gargoyles schossen über ihn hinweg. Kurz darauf folgte ein weiterer und dann ein Quartett. Ängstlich zog Henri sich ins Haus zurück, damit keiner der Reiter ihn zufällig entdeckte. Immerhin lag sein Konterfei auf jedem Dach der Stadt.
Ein langes Seufzen entwich ihm. Dragonerregiment. Niedergeschlagen. Aufruhr , schossen ihm die Worte seines Gesprächs mit dem Bäcker durch den Kopf. Und Catia mittendrin. Nervös lief er durch die runde Eingangshalle.
»Mach dir keine Sorgen, sie ist ein Mädchen, das auf sich aufpassen kann, dafür braucht sie keinen Mann« , versuchte ihn Neiron sowohl aufzubauen als auch aufzuziehen.
Die Nacht hatte sich über Paris gelegt. Durch die offenen Fenster strömten milde Sommerluft und immer wieder der Krach vereinzelter Schüsse aus weiter Ferne herein. In Henris Stadtviertel war es bis auf die zahlreichen Bewegungen am Himmel weiter ruhig und beschaulich. Vor ihm lag eine Scheibe des frischen Bäckerbrots, das er dick mit Butter beschmiert und mit kaltem Schweinebraten belegt hatte. Aber die in ihm tobenden Gefühle und Ängste hatten ihm den Appetit verdorben.
»Iss, du musst bei Kräften bleiben, das ist wichtig, besonders in solch harten Zeiten« , drängte ihn Neiron.
»Sei froh, dass du nicht essen musst. Ich spüre ganz genau, wie nervös du ebenfalls bist. Wenn du weiter so durchs Haus tigerst, dann haben wir bald Fransen in den Teppichen und Furchen im Parkett.«
Augenblicklich legte sich der Gargoyle hin. »Deine Sorgen sind die meinen, ich kann die Kleine auch gut leiden.«
»Ja, aber ich wüsste nicht mal, wo ich Catia suchen sollte. Von der Tatsache einmal abgesehen, dass auch Mirabeau noch immer nicht zurückgekehrt ist. Warum müssen mir alle nur immer solche Sorgen bereiten«, suhlte sich Henri für einen Moment in Selbstmitleid.
»Das ist der Liebe Preis, wie ein jeder weiß.«
Henri biss lustlos in sein Brot und sagte mit vollem Mund: »Sie könnten sich ja wenigstens mal melden, dann wäre ich beruhigt.«
Als hätte irgendeine höhere Macht Henris Wunsch erhört, klopfte es an der Tür.
»Hoffen wir, dass es nicht die Chimères-Wächter sind, sondern ein Bote. Ich wäre sogar mit dem elenden Bengel von letzter Nacht zufrieden, solange er mir Nachricht von Catia oder Mirabeau bringt.« Er rannte zur Haustür. Dabei hatte er so viel Schwung, dass einer der edlen, rotgemusterten persischen Läufer unter ihm wegrutschte. Der Teppich hätte ihn zu Fall gebracht, wenn Neiron ihn nicht blitzschnell mit dem Maul abgefangen hätte.
»Brich dir lieber nicht das Bein, sonst kannst du niemandem eine Hilfe sein.«
Henri hörte gar nicht hin, sondern riss schwungvoll die Haustür auf. Ein Schwall warmer Luft ergoss sich ins Haus. Dabei blieb es aber auch. Die Türschwelle war verwaist. »Was zum ...« Henri biss sich auf die Lippen, um nicht zu fluchen. »Du hast das Klopfen doch auch gehört, oder?«, fragte er Neiron.
»Ich kann gut hören und noch besser sehen, deshalb empfehle ich: Du solltest nicht an dieser Stelle stehen.«
»Wie bitte?« Henri schnaufte. »Diese elende Reimerei, was soll das nun wieder bedeuten?«
Neiron blickte ihn nur aus seinen handtellergroßen Augen an.
»Also gut, dann stelle ich mich eben hierhin.« Affektiert trat er einen Schritt nach links, nur um festzustellen, dass ihm etwas unter dem Schuh klebte – ein klein gefalteter Brief. »Hoppla«, sagte er und spürte, wie sein Kopf heiß wurde. »Das kann ja nun wirklich keiner ahnen, dass diese elenden Botenjungen die Nachrichten einfach vor der Tür ablegen. Stell dir nur vor, der wäre weggekommen ...«
»Zum Reden hast du später noch Zeit, lies endlich die Nachricht, ich bin für Neuigkeiten bereit.«
»Ha«, rief Henri triumphierend. »Ich wusste doch, dass du ebenso aufgeregt und neugierig bist. Also gut, dann will ich mal nicht so sein.« Hektisch entfaltete er das Schreiben. Es war ausführlicher verfasst als das erste. »Von ihr!«, rief er erleichtert. Schnell überflog er den Brief, um ihn anschließend Neiron vorzulesen.
»Lieber Comte, die Ereignisse auf den Straßen überschlagen sich. Die Bürger wollen Desmoulins Forderung, zu den Waffen zu greifen, unbedingt nachkommen. Überall in der Stadt werden die Waffengeschäfte geplündert, um sich der Truppen des Königs erwehren zu können. Ich bin mit der Menge zum Hôtel de Ville gelaufen. Wir alle haben darauf gewartet, dass die gewählten Stadträte Waffen aushändigen und Befehle erteilen, aber wir wurden enttäuscht: Auch im Rathaus lebt der alte Unterdrückergeist, gepaart mit Feigheit. Daher hat eine provisorische Munizipalität aus Wahlmännern vorläufig die Geschäfte unserer vorgeblichen Stadtväter übernommen. Sie haben beschlossen, eine Bürgerwehr aufzustellen, die während der Nacht für Ruhe sorgen soll. Ich werde hier beim Rathaus bleiben, da die Straßen zu unsicher sind. Vielleicht schaffe ich es am Morgen zurück zu Euch. Ihr solltet hier sein. Es braucht Stimmen der Vernunft, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. C.« Henri ließ den Brief sinken. »Sie bleibt heute Nacht allein da draußen.«
»Und wir bleiben hier, dann hat sie bei ihrer Rückkehr ein sicheres Quartier.«
Dauergeläut von Kirchenglocken weckte Henri am nächsten Morgen. Ihm tat der Rücken weh. Er hatte auf dem kleinen Sofa im Salon geschlafen, um mitzubekommen, wenn Mirabeau oder Catia zurückkehrten. Vergeblich. Neiron und er waren weiterhin allein. Diese Erkenntnis ließ ihn hochschnellen. »Wir müssen sie suchen. Sofort. Es muss ihnen etwas passiert sein, sonst wären sie längst wieder hier. Entweder hat man sie verhaftet oder Schlimmeres.« Er schluckte schwer.
»Ich fürchte, du könntest recht haben mit diesen Worten. Doch wo suchen wir, an welchen Orten?«
Henri strich Catias Brief glatt, mit dem in der Hand er eingeschlafen war. »Sie schreibt, dass sie am Hôtel de Ville sei. Auch Mirabeau wird von der Situation am Rathaus gehört haben und eventuell versuchen, dorthin zu gelangen. Das ist der beste und einzige Anhaltspunkt, den wir haben. Lass uns zum Rathaus gehen.«
»Auch ich mache mir Sorgen um die beiden. Doch da draußen sind wir in Gefahr, das kannst du nicht verneinen.«
Henri stand auf und ging in die Küche. Er goss sich aus einem Zinnkrug einen Becher mit verdünntem Wein voll, trank ihn in einem Zug aus und füllte ihn sogleich wieder auf. »So kann ich besser nachdenken. Ja, wir werden von der Obrigkeit wie von den Unterschichten gleichermaßen bedroht. Baron Ailly und seine Spießgesellen suchen uns, weil wir uns unrechtmäßig verbunden haben. Und jeder einfache Bürger wird in uns nur Angehörige des zweiten Standes sehen, die ihn unterdrücken.«
»Keine Frage, es ist eine verfahrene Lage.« Henri spürte deutlich Neirons innere Zerrissenheit.
Fieberhaft überlegte er, was sie tun konnten. Dabei verschlang er das längst trocken gewordene Brot, das er am Abend zuvor noch verschmäht hatte. »Das Rathaus liegt in Saint-Merri an der Place de Grève, direkt an der Seine. Wenn wir fliegen könnten, wären wir in wenigen Minuten da.«
»Der gefährlichste ist der Weg durch die Luft. Kennst du keinen durch eine unterirdische Gruft?«, machte Neiron einen Gegenvorschlag.
»Bitte keine unterirdischen Grabstätten mehr, davon habe ich für ein ganzes Leben genug. Außerdem bin ich mir sicher, dass es keinen Tunnel von irgendwo zum Rathaus gibt.« In Gedanken durchlief Henri die Straßen von Paris. »Es ist unmöglich, ungesehen dorthin zu gelangen.« Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch. Ein Ausbruch mit Folgen. Sein Becher fiel um und eine Pfütze bildete sich. Während er ein Tuch holte, um die Flüssigkeit aufzuwischen, kam ihm ein Gedanke. »Kannst du eigentlich schwimmen, Neiron?«
»Der Stein liebt nicht das Wasser und das Wasser nicht den Stein, beides bricht einander, so soll es sein.«
»Ähm ... Heißt das nun nein oder ja?«
»Nein. Wie klar muss ich denn noch sein?«
»Schwimmen fällt also genauso wie Fliegen ins Wasser«, versuchte sich Henri an einem lahmen Wortspiel. »Und laufen können wir nicht, weil wir uns nicht weit genug voneinander trennen können. Es ist zum Verzweifeln. Selbst wenn Paris in einem Feuersturm untergeht und das Königtum gleich mit ihm, sind wir dazu verdammt, hier auszuharren.« Henri fuhr sich verzweifelt durch die Haare. »Hast du nicht noch eine Idee?«
»Können wir nicht beieinanderstehen, muss einer oben und der andere unten gehen.«
Diesmal begriff Henri augenblicklich, was ihm der Gargoyle sagen wollte. »Ich gehe durch die Straßen und du läufst über die Dächer. Genial. Alle, die über dich hinwegfliegen, werden keinen verdächtigen Reiter sehen, da ich ja unten auf der Straße laufe. Und umgekehrt werden mich am Boden alle für den einfachen Bürger halten, der ich ja auch bin.« Unsicherheit überkam ihn. »Meinst du, dass unsere Verbindung bereits stark genug ist, um ein derartiges Risiko einzugehen? Wir könnten uns zu weit voneinander entfernen.«
»Unsere Verbundenheit ist stark, weil jeder den anderen mag. Ich bin mir sicher, dass ich diese Trennung für kurze Zeit ertrag.«
»Dann schaffe ich das auch.« Henri klatschte in die Hände. »Ich kleide mich mal eben um und schlüpfe in mein echtes Ich zurück.«
»Bereit?«, fragte Henri, nachdem er sich in die alten, ausgeblichenen Handwerkskleider gehüllt hatte, die er sonst an der Druckerpresse trug. Er atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Vielleicht ist heute der Tag, an dem ich mein altes Leben zurückbekomme. Er öffnete die Tür und trat auf die Straße, die immer noch von ohrenbetäubendem Glockengeläut erfüllt war.
Neiron drückte sich an ihm vorbei und gab ihm mit auf den Weg: »Unser Gang wird schwerer, als du jetzt glauben magst, daher bleibe mutig und willensstark.«
Bevor Henri nachfragen konnte, was dies bedeutete, stieß Neiron sich ab und verschwand auf einem der Hausdächer. Henri konnte ihn bald nicht mehr sehen. Dann los . Er holte tief Luft und bog nach links in Richtung des Petit Pont ein, der ihn über die Seine auf die Île de la Cité bringen würde. Auf dem von ihm gewählten kürzesten Weg zum Rathaus kamen sie gefährlich nah an Notre-Dame vorbei, aber dieses Risiko mussten sie eingehen. »Neiron, bist du da?«
Das erste Mal seit Wochen bekam er darauf keine Antwort.
»Neiron?« Henri wurde heiß und kalt zugleich. Damit hatte er nicht gerechnet. Er war davon ausgegangen, dass er weiterhin normal mit Neiron sprechen und sie einander fühlen konnten. Er suchte die Dächer nach seinem Begleiter ab. Eine schmerzhafte Einsamkeit drohte ihn zu überwältigen. Was ist, wenn er schon zu weit weg ist? Unser Ende kurz bevorsteht? Alles in ihm schrie danach, den Gargoyle zu finden. Zu sehen. Zu berühren. Schon hielt er auf die gegenüberliegende Straßenseite zu, um durch das Treppenhaus des dort befindlichen Gebäudes auf das Dach hinaufzusteigen. Dorthin, wohin Neiron geflogen war. Seine Beine bewegten sich wie von selbst. Brennender Schweiß floss ihm in die Augen. Mit zittrigen Händen stützte er sich an der Hauswand ab und tastete sich wie ein Blinder zur mondänen Eingangstür. Er dachte nicht einen Augenblick darüber nach, was Mirabeaus Nachbar dazu sagen würde, wenn ein Fremder an seine Tür klopfen würde, um aufs Dach zu gelangen. Er hatte die Hand schon zum Schlag erhoben, da kamen ihm Neirons Worte wieder in den Sinn: »Unser Gang wird schwerer, als du jetzt glauben magst, daher bleibe mutig und willensstark.«
»Das hat er also gemeint«, murmelte Henri in sich hinein und wankte langsam rückwärts, weg von der Tür. Ihm ergeht es nicht anders , war sich Henri sicher. Er schämte sich einen Augenblick seiner Schwäche. Neiron war sicher stärker als er. Er blickte hoch zu den Dächern. Für einen flüchtigen Augenblick glaubte er, dort etwas grün Leuchtendes zu sehen. Henri lächelte. Wir sind beide gleich stark – oder schwach.
Die Straßen füllten sich mit Menschen, je näher sie der Seine kamen. Henri hielt sich so dicht wie nur möglich an den Hauswänden und berührte die Steine der Häuser. Das gab ihm das Gefühl, näher bei Neiron zu sein. Er bog links von der Rue de Hurepoisc auf den Petit Pont ein. Glücklicherweise war die Brücke an beiden Seiten mit mehrstöckigen Gebäuden bebaut, sodass Neiron ihm weiter ungesehen folgen konnte. Als Henri die Brücke passiert hatte und auf den Marché Neuf hinaustrat, zwang er sich, Notre-Dame, die nun direkt vor ihm stand, anzusehen. Der Anblick des vertrauten Gebäudes schmerzte ihn. Wie gern würde er nur noch einmal durch die Kathedrale flanieren oder auf ihre Türme steigen. Ich habe ein wichtigeres Ziel. Zügig wandte er den Blick ab, überquerte mit langen Schritten die Stadtinsel und hielt auf den Glockenturm des Pont Notre-Dame zu.
Der Strom der Menschen wurde hier immer dichter. Viele trugen rote, phrygische Mützen und lange Hosen. Fast alle hatten irgendwo an der Kleidung eine Kokarde in den Pariser Stadtfarben Rot und Blau befestigt. Eine Frau hielt Henri grinsend eine davon hin.
»Danke«, sagte er und griff zu, um nicht aufzufallen. »Was bin ich Euch schuldig?«
Doch die Fremde stand schon beim Nächsten, um ihm ihr Nähhandwerk zu schenken.
Henri steckte sich die Kokarde an den Hemdkragen und drängte sich durch die wogende Menge.
Am Ende der Brücke würden sie ein Problem haben, denn der Quai Pelletier und die Rue de Gevres bildeten eine häuserlose Schneise, die Neiron mit einem kurzen Flug überwinden musste.
Schwer atmend, trat Henri auf die Freifläche und blickte nach oben.
Von Neiron keine Spur.
Komm schon! Als würde jemand mit Peitschen hinter ihm her sein, rannte er auf die Rue de la Planche-Mibray, wo sich die auf der Brücke angestaute Menge ein wenig besser verteilte. »Komm schon«, schrie er zum Himmel hinauf und bog links in die Rue de la Tannerie ein.
Endlich huschte ein dunkler Schatten über den blassblauen Himmel.
Das wurde aber auch Zeit. Henri drängte sich durch die schmale Straße, die voller Menschen war. Einen Augenblick später lag die Place de Grève vor ihm, auf der das Hôtel de Ville stand. Zumindest wusste Henri, dass es so sein musste, denn weder vom Rathaus noch dem Platz war viel zu sehen. Zehntausende Menschen drängten sich hier eng an eng und nahmen ihm die Sicht. Wie soll ich Catia hier nur finden?
»Waffen, wir brauchen Waffen«, forderte die Menge in ohrenbetäubenden Sprechchören unablässig.
Henri brauchte einen Moment, bis er verstand, dass sie diese Forderung nicht etwa in den luftleeren Raum brüllten, sondern direkt an eine Person gewandt, die auf dem Balkon des Rathauses stand. Mühsam drängte sich Henri näher an das Gebäude heran, um zu erkennen, um wen es sich handelte. Kann das Mirabeau sein? Hoffnung wallte in ihm auf. Immer rücksichtsloser kämpfte er sich durch die Menschenmasse, bis er einsehen musste, dass es kein Weiterkommen gab. Keuchend blieb er stehen, wischte sich das schweißnasse Haar aus der Stirn und wandte sich an den Nächstbesten. »Wer ist das?«
»Der?«, schrie der lange Mann über die gellenden Rufe hinweg direkt in Henris Ohr. »Das ist Jacques de Flesselles, der Propst der Pariser Kaufleute.«
Jetzt erkannte Henri das Pariser Stadtoberhaupt an seiner birnenförmigen Figur. »Was sagt er?«
Der Fremde zuckte nur mit den Schultern und begann wieder »Waffen, wir brauchen Waffen!« zu schreien.
Irritiert beobachtete Henri den Auftritt des Bürgermeisters. Warum hört ihm niemand zu?
De Flesselles versuchte die Masse mit Armwedeln zu beruhigen.
Höhnisches Gelächter antwortete ihm.
»Gestern hätten die Leute ihm hier noch aus der Hand gefressen, aber da war er zu feige, eine Entscheidung zu treffen. Erst im Angesicht unserer Masse hat er den Mut gefunden, sich uns anzuhören«, erklärte Henris neuer Bekannter ungefragt.
Genauso hat es Catia auch in ihrem Brief geschrieben. Das erinnerte Henri daran, warum er eigentlich hier war. Er sah sich um, so gut es ging, konnte die Adlige aber nirgendwo entdecken. Ständig tauchten neue Gesichter neben ihm auf. Seinen Gesprächspartner hatte die Masse bereits verschluckt und stattdessen einen rotnasigen Trinker samt Weinbrandfahne neben Henri gespült.
Plötzlich legte sich Stille über den Platz.
Verwundert sah Henri zum Rathaus. Dort standen jetzt zwei Kanonen. Ihre Läufe waren auf die Menge gerichtet. Angst schnürte Henri die Kehle zu. Was haben die vor?
Jetzt konnte man de Flesselles’ Stimme verstehen. »… die beiden und vieles andere haben wir gestern Nacht gemeinsam mit der tapferen Nationalgarde aus dem Hôtel du Garde-Meuble geholt.«
Henri war selbst nie in der Kunstsammlung des Königshauses gewesen, die man zwischen Ostern und Allerheiligen an jedem ersten Dienstag im Monat besuchen konnte. Dass dort Waffen gelagert wurden, war ihm neu.
Der Rotnasige neben Henri war da offensichtlich kenntnisreicher. Er höhnte: »Das sind silberbeschlagene Kanonen, die der König von Siam Louis XIV. anno dazumal zum Geschenk gemacht hat. Die haben nicht mehr als Altertumswert.«
Bissiges Lachen kam auf.
Das Stadtoberhaupt sprach ungerührt weiter. »Ich persönlich habe mich dafür eingesetzt, dass eurer gerechten Sache mehr Waffen zur Verfügung stehen. Noch gestern habe ich sie aus Charenton angefordert und sie sollten jeden Moment mit dem Schiff die Seine heraufkommen.«
Die Menge wandte sich dem Fluss zu.
Tatsächlich liefen gerade drei Frachtkähne in den Hafen an der Place de Grève ein.
»Seht nur, ich habe nicht zu viel versprochen.«
Die Menge – und Henri mit ihr – wogte in Richtung Seine. Einige besonders euphorische Gestalten versuchten, an Bord der Schiffe zu springen, bevor sie angelandet waren. Vier von den Springern landeten im Wasser, zwei schlugen sich an der Reling die Zähne aus, aber drei schafften es und wurden frenetisch dafür bejubelt. Sofort rissen sie die grauen Planen herunter, unter denen die Ware der Frachtschiffer verborgen war. Die Bootsmänner waren sichtlich eingeschüchtert von diesem Verhalten und der Menschenansammlung, die sie empfing. Große Kisten kamen zum Vorschein.
Ein entzücktes Raunen ging durch die Menge.
Einer der Draufgänger zog seinen Dolch aus dem Gürtel und hebelte eine Kiste auf. Triumphierend hob er den Deckel in die Luft und ließ sich dafür von der Menge beklatschen. Ohne hinzusehen, griff er theatralisch in die Kiste – und holte nur eine Handvoll Sand heraus. Mit deutlich irritiertem Gesichtsausdruck sprach er mit den Bootsleuten. Die zuckten mit den Schultern. Emsig wurden sämtliche Kisten aufgehebelt. Das Ergebnis war stets das Gleiche: Sie alle waren mit Sand gefüllt.
»Traître!« Sämtliche Blicke richteten sich auf de Flesselles.
Verräter! In deiner Haut möchte ich jetzt nicht stecken. Bei dem Gedanken spürte Henri erst, dass seine eigene merkwürdig brannte, als wäre sie mit heißem Wachs bestrichen. Er schob den Hemdsärmel hoch. Pflaumengroße Quaddeln bedeckten seinen Arm. Die Schritte-Regel , schoss es ihm durch den Kopf. Die Menschenmasse hatte ihn zu weit weg von seinem Gargoyle geschoben. Henris Blick verschwamm. Es dauerte einen Moment, bis er wieder richtig sah. Mein Körper steht an der Schwelle zum Tod.
»Buhh! Unterdrücker! Tod den Schlächtern aus Stein«, schrie die Menge mit einem Mal wie entfesselt. Tausende Fäuste wurden wütend gereckt.
Henri war augenblicklich klar, wessen Anblick die Meute so in Aufruhr versetzt hatte. Ein Blick zum Himmel bestätigte seinen Verdacht. Es war Neiron, der hektisch über der Place de Grève Schleifen flog. Ich hätte nicht in die Mitte des Platzes gehen dürfen! Das Rathaus selbst war nun zu weit entfernt, um Neiron ein sicheres Versteck bieten zu können. Das Gleiche galt für das Gebäude in Henris Rücken. Er spürte den Sog, der ihn und den Wasserspeier verband. Sie mussten einander näherkommen. In einer verzweifelten Geste streckte er die Hände gen Himmel, um Neiron ein wenig näher zu sein. Es half nichts.
Der Gargoyle setzte zum Sinkflug an. Trotz der damit verbundenen Gefahr konnte er nicht gegen seine Natur handeln.
Henri sehnte den Augenblick herbei, in dem sein Freund wieder bei ihm war, und wollte dennoch alles tun, um ihn zu verhindern.
»Seht nur, das Vieh will uns angreifen!«, keifte eine Frauenstimme.
Steine, Unrat und Stöcke wurden in Neirons Richtung geworfen. Sogar einige Pfeile und Armbrüste abgefeuert. Keines der Geschosse kam auch nur in die Nähe des Gargoyles, doch da er weiter sank, war er bald in Gefahr.
Die Menge wird ihn zerstückeln , war sich Henri sicher. Ich muss hier weg. Er versuchte, sich mit Händen und Füßen einen Weg zum Rand zu bahnen, kam aber nur quälend langsam voran. Es war, als würde er gegen eine Wand aus lebenden Körpern anrennen. Die Meute wogte ihm in ihrem Zorn entgegen, um näher zu Neiron zu gelangen.
Der flog jetzt so tief, dass man die von Henri geheilten, helleren Stellen an seinem Hals erkennen konnte. Seine Saphiraugen fixierten Henri. Die Verbindung war wiederhergestellt.
»Verschwinde von hier!« Henri lief der Schweiß inzwischen in Strömen herunter. Er wankte und seine zitternden Hände waren kaum noch unter Kontrolle zu bringen. Alles in ihm schrie danach, dem Gargoyle noch näher zu sein. Sie waren bereits zu lange getrennt.
»Dafür ist es längst zu spät. Spürst du nicht, dass dies nicht mehr geht?« , drang die gepresste Stimme des Gargoyles in Henris Gedanken. »Zu lang unsere Trennung war, ohne schnelle Berührung bleibt sie immerdar.«
Henri war übel. Die Welt drehte sich vor seinen Augen. Und ob ich es spüre. Sein Körper verfiel. »Ich laufe zurück. Hier können wir nichts mehr ausrichten.« Doch es war zu spät, die Masse hatte ihn von allen Seiten eingeschlossen.
Der Hass in den Gesichtern der Menschen war unbeschreiblich. Für sie war Neiron die Personifizierung all dessen, wogegen sie aufbegehrten.
Jetzt wurde der Wasserspeier von ersten Pfeilen und Steinen getroffen. »Tötet das gotteslästerliche Ungeheuer. Tod den Chimères!«
»Lasst mich durch«, schrie Henri. »Lasst mich durch!«
Niemand achtete auf ihn. Alle blickten zum Himmel.
Panik überflutete Henri. Er bekam keine Luft mehr. Ein Zittern durchwogte seinen Körper. »Ich brauch dich, Neiron!« Heiße Tränen rannen ihm über die Wangen und bildeten auf seinen Lippen einen salzigen Film.
»Ich komme. Vielleicht schaffe ich es, dich zu packen, und ...«
»Bringt die Netze! Bringt die Netze!«
Die Menge teilte sich einige Schritt von Henri entfernt. Ein Trupp wettergegerbter Männer in Wachskleidung kam mit Netzen und dicken Tauen in der Hand angelaufen. Es mussten Flussfischer sein. Geschickt warfen sie die Netze nach Neiron, der über der Menge kreiste. Ein erstes Netz wickelte sich um die linke Pranke des Wasserspeiers.
Neiron streifte es ab, aber weitere Netze und geschleuderte Taue folgten. Er schlug mit seinen gewaltigen Schwingen. In seinem Maul begann es bedrohlich grün zu leuchten.
Die Menge kreischte panisch und viele begannen, über alles wegzutrampeln, was sich in ihrer Nähe befand.
Er will den Strahl einsetzen , begriff Henri. In dieser Enge würde dies einem Massaker gleichkommen. »Tu das nicht. Diese Menschen sind unschuldig.«
Einige der Männer, die die Seile in den Händen hielten, wurden in die Luft gehoben oder umgerissen. Doch einem stetigen Strom aus Armen und Muskeln gleich, wurden sie augenblicklich von neuen aus der Masse ersetzt.
Immer mehr Netze und Seile wurden geworfen. Schließlich banden sie Neirons Maul. Selbst wenn er gewollt hätte, den Strahl konnte er nun nicht mehr einsetzen. Ein weiteres Seil erwischte seinen rechten Flügel und fixierte ihn, sodass Neiron Richtung Boden trudelte.
Schubsend und schreiend versuchte die Menge auseinanderzulaufen, um nicht von ihm erschlagen zu werden.
Henri stand plötzlich allein in der Mitte eines unregelmäßigen Kreises aus Körpern. Neiron kämpfte über ihm einen aussichtslosen Kampf. Henri holte tief Luft, wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ab und rief: »Komm zu mir!«