Schilderkampf
Karen konnte fast das hämische Kichern hören, in das Kilian sicher wieder ausgebrochen war. Sein alberner Pferdeschwanz hüpfte vor Vergnügen auf und ab. Toni stand neben seinem Bruder und zog sich die Mütze etwas mehr in sein Gesicht, vermutlich um etwas entschlossener auszusehen.
Letty und Benny hatten sich als Gegengewicht für die Situation, die an eine Westernszenerie erinnerte, in der gleich alle Beteiligten ihre Revolver ziehen würden, aufgebaut.
Benny sah ganz verärgert aus. Das sonst so hübsche Gesicht wirkte verkniffen. Die Wangen hatten sich rötlich gefärbt und seine sehr kurzen Haare standen energisch zu Berge. Würde er gleich losstürmen, um seine rohe Körpergewalt zu Gunsten seiner Damen einzusetzen und das Schild eigenhändig vom gegnerischen Stand zu zerren?
Letty hingegen spielte mit einer ihrer possierlichen Haarsträhnen, die unter der dicken Kapuze hervor lugten. In ihren dunklen, samtigen Augen meinte Karen, leichten Spott zu entdecken. Vermutlich amüsierte sie sich gerade köstlich, aber als Chefin trug Karen Gerber natürlich eine andere Art von Verantwortung. Sie empfand die Situation als bedrohlich für ihr Geschäft.
„Almglüher.“ flüsterte sie, bleich vor Wut.
Okay, nun musste sie wohl handeln. Nach einer kurzen Sekunde des Sammelns ihrer Kräfte legte sie die paar Meter zwischen Almglüher und Glüheralm zurück. Furchtlos baute sie sich mit ihren 170 Zentimetern vor den Zwillingen auf. Verwirrend identisch sahen die Gesichter der Jungs aus, wobei die unterschiedliche Haargestaltung die Ähnlichkeit sogar noch betonte.
„Mister Pferdeschwanz und Mister Glatze wollen wohl den Aufstand proben. Wo ist denn euer Opa?“ schmetterte sie den beiden verächtlich entgegen.
„Der trinkt vermutlich ein gemütliches Tässchen Tee mit deiner Mama.“ war die boshafte Antwort von Kilian.
Auf den Mund gefallen war der wirklich nicht.
„Wir sind jetzt die Chefs. Opa genießt seinen Ruhestand und braut munter Fruchtwein.“ setzte Toni hinzu.
Er fummelte schon wieder an seiner Mütze. Das schien ein Tick zu sein. Karen hatte das dringende Bedürfnis, sie ihm auf den Kopf zu kleben. Am besten mit Sekundenkleber. Oder einem dicken Paketband. Das ließ sie einen Moment schmunzeln, was Kilian natürlich sofort auffiel.
„Ah, das gefällt Madame. Hey, du könntest ja ganz hübsch aussehen, wenn du nicht immer so eine muffelige Laune verbreiten würdest. Jetzt mal im Ernst: Kein Mensch wird diese Stände verwechseln. Du bist mit deinem Glühwein auf der linken Seite der Budengasse und wir mit unseren innovativen Kreationen auf der rechten Seite. Also chill mal ein bisschen.“
„Innovative Kreationen? Was soll das denn heißen?“ fragte sie nach und hätte sich in diesem Moment auf die Zunge beißen können wegen dieser Nachfrage.
Das war ja genau das, was diese Typen beabsichtigt hatten. Man sollte die Trolle nicht auch noch füttern.
„Soll ich ihnen die Knochen brechen mit ihrem Schild?“ tönte plötzlich Benny hinter ihr.
Letty und er hatten sich unauffällig in den Rücken der beiden renitenten Standbetreiber geschoben. Toni fixierte fasziniert die schöne Laetitia mit seinem Blick. Auch Kilian war die dunkelhäutige Schönheit nicht entgangen.
„Holla, nun kommt Verstärkung. Ich bin der Kilian und das ist mein Bruder Toni.“ stellte er sich artig vor und streckte sogleich seine Hand zur Begrüßung aus.
Mit Benny schlugen die Weberbrüder ein wie junge Männer es machten. Mit offenerer Handfläche klatschte man sich ab. Lettys Hand hingegen wurde vorsichtig geschüttelt. Nachdem sich alle bekannt gemacht hatten, sah das fast alles aus wie eine ganz normale Begegnung unter Nachbarn. So hatte wohl ihre Mama jahrzehntelang mit Opa Moser eine gute Gemeinschaft gebildet. Konkurrenten, aber immer fair. Konnte sie jetzt eventuell eine Wende in der bisher hitzig geführten Diskussion erzielen?
„Hört mal. Wir sind schlecht gestartet. Aber es muss doch logisch sein, dass man nicht einfach den Namen des Betriebs von gegenüber klauen und auf ein Schild pinseln kann. Benny holt es wieder runter von eurem Dach und wir schreiben einen neuen Namen drauf. Dann ist die ganze Sache erledigt und wir reichen uns friedlich nochmal die Hände. Und ich lade euch ein auf eines meiner innovativen Produkte.“ führte Karen aus.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. Warum nicht mit den Waffen einer hübschen Frau kämpfen? Soweit das eben ging in einer Regenjacke und der Kapuze über den blonden Haaren, die sonst so zierlichen Füße in dicken Stiefeln mit wasserabweisender Beschichtung und einem unförmigen, aber warmen Pullover am schlanken Körper.
Toni schien zu überlegen. Man konnte förmlich sehen, wie es in seinen Gehirnwindungen ratterte. Immer wieder sah er auch zu Letty, die ihre Augen ebenso nicht abwenden konnte. Doch schnell stellte sie heraus, wer der wahre Chef im Ring war. Noch bevor Toni auch nur ein Wort sagen konnte, schaute er zu Kilian. Der hob die Hände zu einer Abwehrgeste und legte seinerseits los.
„Auch wir sind natürlich an einer friedlichen und harmonischen Lösung interessiert. Wie wäre es damit: Toni steigt auf euer Dach und holt das Schild runter. Wir überpinseln es mit einem neuen Namen und zur Versöhnung kredenze ich euch eines unseren edlen Tröpfchen. Na, kommen wir da zu einem Agreement?“
Sie sah ihm tief in die Augen.
„Du fieser und gemeiner Mensch. Verschlagen und hinterlistig. Aber nicht dumm.“ dachte Karen bei sich und zwang sich zu noch mehr Lächeln.
„Da werden wir uns nicht einig, mein Lieber. Ich hole jetzt die Marktaufsicht und dann lassen wir das final klären. Mein Schild und den Namen gibt es seit 20 Jahren. Das spricht wohl für sich. Notfalls beauftrage ich einen Anwalt. Du wirst es noch bereuen, mein nettes Angebot ausgeschlagen zu haben.“ knurrte sie.
„Wer hat nach der Marktaufsicht verlangt?“ fragte da jemand, der sich im Rücken der verfeindeten Gruppe eingefunden hatte.
Niemand hatte die Annäherung der Herren in blauen Jacken bemerkt wegen des Wortgefechts, auf das sich alle gespannt konzentriert hatten. Karen schaute auf drei Männer, die Klemmbretter in den Händen hielten. Sie trugen dunkelblaue wattierte Jacken mit einem Namensschild, auf dem neben dem Stadtwappen von München die jeweiligen Namen prangten.
Gerade wollte sie sich wappnen, um ihr Anliegen vorzutragen, da reagierte Kilian schon.
„Oh, der Herr Wallter von der Marktaufsicht mit seinen fleißigen Assistenten. Ich soll schöne Grüße vom Opa ausrichten.“
Der so angesprochene nickte freundlich. Einer der Begleiter notierte etwas auf seinen Klemmbrett, was ihm trotz der dicken Wollhandschuhe leidlich zu gelingen schien.
„Sehr freundliche Begrüßung, das muss man auch mal sagen. Sonst freuen sich die Standbesitzer nicht so über unsere Ankunft. So, können wir die Bude mal besichtigen?“ wollte der Boss der Marktaufsicht zur Sache gehen.
Karen räusperte sich.
„Also ich würde gleich gerne mit Ihnen sprechen, Herr Wallter. Ich bin Karen Gerber und vertrete meine erkrankte Mutter an der Glüheralm in diesem Jahr. Sie hat bereits mit Ihnen telefoniert, glaube ich.“
Der Herr über die Marktaufsicht schien sich zu erinnern.
„Ach ja, der Knöchelbruch. Ich weiß Bescheid. Gute Besserung nochmal. Zu Ihnen würde ich dann auf dem Rückweg kommen. Wir machen das Reihe für Reihe.“ wollte er sie abwimmeln.
Die zwei Hilfskräfte nickten dazu. Doch Karen wollte nicht so schnell aufgeben.
„Nein, da muss ich vehement widersprechen. Es ist eine dringende Angelegenheit, die ich vortragen möchte.“
Sie legte Autorität in ihre Stimme, was ihr Gegenüber zu verunsichern schien. So war der Amtsschimmel eben. Von der gewohnten Routine abweichen stand nicht auf der Agenda. Aber sie hatte entschieden das Gefühl, sich jetzt durchsetzen zu müssen. Wenn der Glühweinstand von Kilian und Toni erstmal das Okay hatte von den Verantwortlichen, dann würde es ihr schwer fallen, sich da noch mit Protest Gehör zu verschaffen.
Der Marktaufseher schien zu kapitulieren. Mit einer genervten Geste forderte er sie zum Sprechen auf, suchte aber Blickkontakt zu den Weberzwillingen. Kilian zuckte vermeintlich ahnungslos die Schultern. Toni sagte wie immer nichts.
„Seit 20 Jahren heißt der Glühweinstand meiner Mutter Glüheralm. Nun haben die zwei Herren von gegenüber sich einfach Almglüher genannt und ein entsprechendes Schild auf ihrer Marktbude befestigt.“
An dieser Stelle wies sie nach oben, wo fast spöttisch das betreffende Firmenschild prangte. Mittlerweile hatte die Temperatur deutlich abgekühlt. Einer der Assistenten schüttelte sich in einem Frostanfall. Der andauernde Nieselregen verhärtete sie zu einer Ansammlung von harten Eiskristallen, die über kurz oder lang vermutlich auf dem kalten Boden zu einer rutschigen Schicht klumpen würden. Von wegen malerische Atmosphäre in der Adventszeit. Das fühlte sich alles eher nach Knochenbrüchen aufgrund von Blitzeis oder durchnässten Kleidern an.
Der Blick aller folgte automatisch der Handbewegung von Karen nach oben.
„Trotz meiner freundlichen Aufforderung zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen, weigern sich die beiden Herren vehement ihre Namensgebung zu überdenken. Ich fordere nun Sie, Herr Wallter auf, umgehend für das gute Recht meiner Mutter einzustehen und Taten folgen zu lassen.“
Sie erschrak selbst fast wegen ihres sehr strengen Tonfalls. Aus welchem inneren Abgrund war das denn gekommen? Es schien in ihr geschlummert zu haben und war nun angesichts der sturen Haltung ihrer Gegner, der Zwillinge, zum Ausbruch gekommen.
Herr Wallter schien unsicher, wie er reagieren sollte. Er kraulte sich den nicht vorhandenen Bart. Die Assistenten sahen bemüht angestrengt auf ihre Klemmbretter, auf denen sie aber im Moment nichts wichtiges zu notieren hatten. Kilian schmunzelte und Toni sagte immer noch kein Sterbenswort. Karen hatte schon öfter gehört, dass bei Zwillingspaaren einer der dominantere zu sein pflegte, doch so richtig live und in Farbe hatte sie das noch nicht erlebt.
„Nun, junge Frau.“ setzte der Chef der Marktaufsicht zu einer Antwort an. „Ich kann da jetzt nicht eine direkte Kopie entdecken. Wie kommen Sie denn darauf, dass das einer der Kunden verwechseln könnte. Almglüher und Glüheralm, ich bitte Sie. Alm und Glühen sind doch keine geschützten Begriffe. Da vorne ist noch ein Stand, der heißt Heiße Alm oder so. Soll ich denen auch das Schild abschrauben? Also nein, da kommen wir wirklich nicht zu einer übereinstimmenden Meinung.“
Letty schnaubte einen unnachahmlichen Laut der Empörung. Karen hingegen merkte, wie die Wut in ihr hoch stieg. Als Kind hatte sie manchmal unter Wutanfällen gelitten, wie ihr Maria Gerber öfter mal vor Augen hielt. So mancher Spielkamerad hatte ein Sandförmchen an den Kopf geworfen bekommen oder einen Schubser auf der Rutsche, wenn nicht alles nach Karens Vorstellungen lief. Eigentlich hielt sie diese Phase für überwunden, doch im Moment hätte sie gerne eines der Klemmbretter aus den Händen der devoten Begleiter auf Herrn Wallters Kopf zertrümmert.
Sie kämpfte gegen diese Gefühle und antwortete in freundlichem Ton, der ihr selbst zuckersüß vorkam: „Ist das Ihr letztes Wort zu dieser ungeheuerlichen Sache?“
Herr Wallter schien kurz zu überlegen, nickte dann aber entschlossen.
„Ihr Vortrag ist völlig lächerlich.“ brummte er.
Toni klatschte in die Hände. Kilian deutete mit einer zufriedenen Geste auf seinen Stand.
„Dann können wir ja jetzt die Endabnahme für die morgige Eröffnung machen. Ich zeige Ihnen gerne alles.“ sagte er und wollte sich schon abdrehen.
„Halt!“ rief Karen lauter als beabsichtigt. „Ich möchte offiziell Beschwerde einlegen gegen Ihre Entscheidung.“
Herr Wallter nickte einem seiner Assistenten zu, der eilig aus seiner Aktentasche ein Formular nahm und ihr triumphierend entgegen streckte.
„Sehr gerne. Hier ist der amtliche Vordruck, den Sie bitte ausfüllen und bei der Stadtverwaltung einreichen. Dann wird das von einer anderen Seite nochmal geprüft. Ich kann Ihnen allerdings wenig Hoffnung machen. Ich bin seit 33 Jahren mit solchen Querulanten wie Ihnen betraut und nie, kein einziges Mal, hatte einer von denen Erfolg. Aber bitte. Es ist Ihre freie Wahl.“
Karen wusste, wenn sie verloren hatte.