Pöbeleien
Aber bei den jungen Männern siegte das Pflichtbewusstsein über das Hochgefühl nach dem Triumph. Toni verabschiedete sich schnell von Letty und hielt sich symbolisch die Hand wie ein Telefon ans Ohr.
„Aha, Telefonnummern haben sie also auch schon ausgetauscht.“ stellte Karen fest.
Der Einzige, der nicht begeistert aussah, war Benny, denn auch dem etwas schlichteren Gemüt war die Verbundenheit zwischen Toni und Letty aufgefallen. Karen war allerdings sicher, dass sich der gutaussehende Sportler schnell anderweitig trösten würde. Notfalls mit einer Extraeinheit in der Muckibude und einem leckeren Eiweißshake.
Karen zählte wirklich die Stunden, bis zum offiziellen Ausschankende des Marktes am heutigen Tag. Sie konnte es kaum erwarten, alles genau und bis ins Detail berichtet zu bekommen. Würden die Zwillinge wirklich ihre ersehnte Bar übernehmen können? Und das auch noch in so prominenter Lage an einem der ehemaligen Stadttore?
Ihr Blick schweifte gedankenverloren über die geschmückten Bretterbuden auf dem Marienplatz. Selten hatte sie die Muse, auf die bezaubernde Umgebung zu achten. Da war die Mariensäule in der Mitte des jetzt dicht besiedelten Platzes. 1638 errichtet als man sich vor den schwedischen Truppen in Sicherheit wähnte während des dreißigjährigen Krieges, erinnerte sie sich aus ihrem Heimatkundeunterricht in der Grundschule. Dort war das alte Rathaus an der östlichen Schmalseite des berühmten Stadtzentrums. Schon in der Gotik erbaut und in den dunklen Zeiten des Zweiten Weltkriegs schwer zerstört. Gleich daneben stand der eindrucksvolle Turm des Alten Rathauses, in dem sich heutzutage ein Spielzeugmuseum befand. Was die wenigsten wussten: das war ein Neubau aus den Siebzigerjahren, als man die einstmals so belebte Neuhauserstrasse zur Fußgängerzone umwidmete. Kaum vorstellbar, dass hier bis dahin Busse, Trambahnen und ein endloser Strom an Autos durch rauschte.
Sie blickte ein bisschen wehmütig zum Turm des Alten Peters, der ältesten Kirche in der Münchner Innenstadt. Würde sie jemals wieder genug Zeit haben, den mühsamen Aufstieg zur Kirchturmspitze auf sich zu nehmen, um von dort die stille und atemberaubende Aussicht zu genießen? Eine schöne Stadt. Und sie selbst war Teil des berühmten Christkindlmarktes.
Bevor sie auch nur einen Anflug von Stolz entwickeln konnte, hörte sie ein lautes Gepöbel.
Betrunkene waren natürlich durchaus mal ein Problem gewesen in den letzten Tagen. Es waren zumeist nicht mal die Leute, die bei ihr oder Kollegen und Konkurrenten am Stand etwas zu viel konsumiert hatten, nein, es waren in der Überzahl sogenannte Vorglüher. Aus Sparsamkeitsgründen zechte man ordentlich bereits zu Hause um sich die vier oder fünf Euro für den Glühwein zu sparen. Oder einer aus der Gruppe hatte einen Flachmann dabei, um den ohnehin starken Würzwein etwas aufzupimpen mit noch mehr Hochprozentigem.
Da musste man dann eben rigoros durch greifen und nichts mehr ausschenken, wenn die Menschen sich nicht mehr benehmen konnten. Lallten, schrien, Passanten anpöbelten oder gar Streit suchten, ob nun mit anderen Besuchern oder dem Bedienungspersonal. Zum Glück waren in solchen Fällen schnell die markteigenen Sicherheitsleute oder in schlimmeren Fällen auch mal die Polizei vor Ort. Meistens ließ sich so eine Situation aber mit einigen deftigen und bestimmten Worten auflösen.
Karen beugte ihren Kopf etwas aus der Ausgabeluke, so dass sie die Stehtische genauer ins Visier nehmen konnte, die vor und neben dem Stand aufgebaut waren.
„Hey, was ist da los? Seid mal ein bisschen leiser bitte.“ unterband sie das laute Gegröle.
Aber ihre nicht besonders kräftige Stimme konnte nicht gegen die lachenden Chaoten bestehen. Zudem verschlug ihr die eisige Kälte, die sich am heutigen Tage wie ein Gittergeflecht über die Stadt gelegt hatte, auf die Stimmbänder. Nur einer der Zecher sah zu ihr herüber. Sie konnte das Gesicht nicht richtig erkennen, da er den Schal hochgezogen hatte. Aber die Augen. Hmm, irgendwas an den Augen kam ihr total bekannt vor.
Einer aus der Gruppe suchte den Augenkontakt mit ihr, als sie nochmals ihre Aufforderung zur Ruhe schrie.
„Hey, Lukas, ist das nicht deine Alte? Wow, super, das gibt Freigetränke für alle.“ brüllte der Kerl plötzlich los.
Da war Karen klar, warum ihr die Gestalt so bekannt vorkam. Ihr lieber Freund Lukas. Oder vielmehr Ex-Freund. Und das in so schlechter Gesellschaft. Sie konnte sechs oder sieben junge Männer ausmachen. Alle in dicke Anoraks gehüllt einer bekannten amerikanischen Outdoormarke. Die überdimensionalen Kapuzen waren umrahmt von Pelzkrägen, die teuer und unnötig waren. Karen hasste echten Pelz. Warum musste man niedliche und wehrlose Tiere töten, wenn man nicht in der Arktis lebte. Oder in irgendeiner russischen Einöde, wo eine solche Kleidung sicher sinnvoll war?
An den Füßen hatten alle einheitlich dicke Boots im Holzfällerstyle. Ab 300 € aufwärts. Insgesamt sahen alle wie verwöhnte Söhne aus, die hier einen auf dicke Hose machten. Karen wusste, dass Lukas nicht vom Elternhaus so verwöhnt war mit großem Reichtum. Er musste hart arbeiten, für den hier zur Schau gestellten Luxus. Anscheinend umgab er sich aber gerne mit diesen Vollpfosten. Das war ihr schon immer negativ aufgefallen. An seinen Freunden hatte sie nie viel Spaß gehabt und schwer Bezug zur Gruppe gefunden. Auch die weiblichen Begleiterinnen waren nie ihr Wetter gewesen. Natürlich hatte man sich oberflächlich unterhalten, aber wirklich warm waren die Gespräche nie geworden. Nur über Handtaschen, die neuesten Schminktrends oder die angesagte Rocklänge der nächsten Sommersaison konnte Karen nicht stundenlang plaudern. Klar, ihr gefielen auch schöne Kleider und sie trug gerne ein bisschen Farbe auf, aber sie konnte auch in Jeans und Shirt ganz glücklich sein.
Hier waren aber nur die Männer der Truppe unterwegs. Der führende Schreihals deutete immer wieder dem ausgestreckten Finger auf sie und konnte sich offensichtlich vor lauter Lustig kaum mehr auf den Beinen halten.
„Lukas, mach mal Freigetränke klar.“ krähte er schon wieder.
Was war denn das für ein Idiot? Und offensichtlich verstärkte sich seine Sozialkompetenz nicht unbedingt mit steigendem Alkoholpegel.
Zu seiner Ehrenrettung musste man sagen, dass Lukas sich zumindest etwas schamhaft gab und den Kopf versuchte in der Kapuze zu verbergen. Vermutlich, damit Karen ihn nicht gleich erkannte. Doch als sein Kumpel ihn geoutet hatte, wechselte er die Taktik. Forsch trat er unter dem Gegröle und den Anfeuerungsrufen seiner Freunde an den Tresen der Glüheralm heran. Passanten wichen mittlerweile großräumig aus, da die verbleibenden jungen Männer begannen, ihre Tassen in einer Art Trinkspiel auf den Tischplatten hin und her zu schubsen.
„Hallo Karen, schön dich zu sehen. Zehn Glühwein dürften erstmal reichen. Machst du uns die gleich?“ lallte ihr Ex-Freund und musste sich mit einer Hand an der Theke abstützen.
„Hallo Lukas. Gar nicht schön, dich zu sehen. Ausschenken darf ich dir auch nichts. Aber ich würde es auch ohne Verbot, an Alkoholisierte noch mehr Stoff abzugeben, nicht machen. Der Tonfall deiner Freunde gefällt mir nicht.“ sagte Karen betont ruhig.
Mit einer Hand wies sie auf das an jedem Gastronomiestand angebrachte Schild, das auf Jugendschutz und andere Vorschriften hinwies. Wie hatte sie diesen Typen je attraktiv finden können? Die Haut war teigig und aufgedunsen. Anscheinend war das nicht der einzige Abend, an dem sich die Kante gegeben wurde. Aus glasigen Augen sah Lukas sie an. Verständnislosigkeit spiegelte sich in seiner Mine wieder.
„Hä?“ war seine einzige Antwort.
Karen verdrehte die Augen. Kapierte der Kerl wirklich nicht, dass er ihr das Geschäft vermasselte? Wie hart sie arbeiten musste, um hier ein paar Euro Gewinn zu erwirtschaften? Wie sehr sie sich den Erfolg wünschte? Und nicht zuletzt ihren Kunden und den Besuchern des Weihnachtsmarktes ein paar schöne und sorgenfreie Stunden bereiten wollte.
„Lukas, hier gibt es nichts mehr für Euch. Ich kann dir einen Kaffee machen. Aber ohne Alkohol und auch nur dir. Nur aus alter Verbundenheit, das möchte ich betonen.“
Der Zorn stieg ihm in Sekundenbruchteilen in die Augen. Sie sah ein seltsames Flackern und dann brach eine Kanonade an üblen Schimpfwörtern los. So hatte sie den sonst so wohlerzogenen Lukas noch nie agieren sehen. Erschrocken wich sie einen Schritt zurück an die Rückwand des kleinen Innenraums ihres Weihnachtsmarktstands. Letty hatte sich schon schreckensbleich in eine Ecke geflüchtet. Warum hatte sie nur ausgerechnet wenige Minuten zuvor den kräftigen Benny zum Nachschub holen geschickt?
Sie sah allerdings bereits mehrere Passanten und Gäste ihres Standls zum Mobiltelefon greifen. Hoffentlich alarmierte jemand die Polizei. Wo war eigentlich der sonst so eifrige Herr Wallter, wenn man ihn mal dringend brauchte?
Bedrohlich beugte sich Lukas in seiner stockbesoffenen Stimmung mit fast dem gesamten Oberkörper in die Öffnung, durch die Karen sonst die Getränke an ihre Kunden ausgab. Er musste nur noch eine Hand ausstrecken, dann konnte er sie berühren. Sie krampfte ihren Körper in Erwartung eines Angriffs zusammen. Ihr Ex entschied sich allerdings dafür, unter wüsten Beschimpfungen einen Schwung Tassen, die bereit standen zum Befüllen, von der Theke zu wischen. Mit lauten Geklirre sausten die Behältnisse zu Boden und zersprangen in tausend Scherben.
„Du arrogantes Biest. Stehst hier und blamierst mich vor meinen Freunden. Dabei bist du zur miesen Ausschanktante abgestiegen. Statt die Frau an meiner Seite zu sein, muss ich mich hier von dir zum Affen machen lassen. Schäme dich, du Luder.“ brüllte er.
Sie sah die wütenden Speichelbläschen, die sich in seinen Mundwinkeln bildeten. Unwillkürlich überlegte sie, ob sie eine heiße Tasse Glühwein in sein Gesicht schütten sollte. Nur in der allergrößten Not, nahm sie sich vor. Zur Selbstverteidigung.
„Na, etwas zu viel inhaliert von den weihnachtlichen Düften?“ fragte da eine spöttische Stimme aus dem Hintergrund.
Lukas drehte sich um und sah in die Gesichter der Zwillinge. Während alle Passanten sich in Sicherheit gebracht hatten und bestenfalls die gespannte Situation aus sicherer Entfernung beobachteten, waren anscheinend die Weberbrüder zu Hilfe geeilt. Allerdings drückten sich nun die Begleiter von Lukas, nicht minder besoffen wie ihr Trinkkumpan, näher, so dass sich ein Kreis um den Stand bildete.
„Misch dich nicht ein, du Pussy mit dem albernen Pferdeschwanz. Das ist eine Familienangelegenheit.“ knurrte Lukas und ballte die Fäuste.
Doch Kilian lächelte nur.
„Feierabend für dich hier, Familie hin oder her. Verpiss dich und nimm deine seltsamen Freunde gleich mit.“ spuckte er trocken aus.
Neben ihm hatte sich Toni platziert, der Letty aufmunternd zu nickte. Bloß nicht einschüchtern lassen, sollte das wohl heißen.
„Die Polizei ist auch schon unterwegs. Also besser einen schönen Geldschein als Schadensersatz für die Tassen hierlassen. Nicht, dass es noch eine Anzeige gibt.“ setzte Kilian hinzu, während sein Bruder wie immer schwieg.
Der nüchterne Tonfall schien die Begleiter zu reizen.
„Was bist du denn für ein arroganter Seppl? Dir poliere ich die Fresse.“ brummte einer davon und schob sich näher.
„Wir sind zehnmal mehr als ihr. Das geht nicht gut aus für Batman und seinen Robin.“ lästerte ein anderer aus der Gruppe.
„So besoffen wie ihr seid, seht ihr eh alles doppelt. Vielleicht seid ihr auch zwanzigmal mehr als wir.“
Benny war zurück und drängelte sich durch die unerwünschten Kunden, bis er direkt neben Kilian und Toni stand. Er sah sehr eindrucksvoll aus. Und sehr wütend. Die erneute Verstärkung schien Wirkung zu zeigen. Lukas warf Karen noch einen hasserfüllten Blick zu, wandte sich dann aber mit einer lässigen Handbewegung an seine Freunde.
„Das ist es doch nicht wert. Wir trinken woanders ein Gläschen. Da, wo wir willkommen sind.“ sprach er laut und formte mit den Lippen in Richtung Karens tonlos einen üblen Ausdruck.
Am Ende der Wirtsgasse konnte man auch bereits die typischen Kopfbedeckungen einer Polizeistreife entdecken. Schnell verstreuten sich die ungebetenen Gäste in verschiedene Richtungen. Sie verschwanden unter den unbescholtenen Besuchern des Weihnachtsmarktes oder eilten gleich zum nahen U-Bahn-Abgang, wo sie sich vom Ort des Geschehens verkrümeln oder einen anderen Ausgang hinauf gehen konnten. Jedenfalls war der Spuk vorbei.
„Das renkt sich wohl auch nach Weihnachten nicht mehr ein.“ flüsterte Karen atemlos vor Anspannung.
„Alles okay?“ fragte da Toni erstaunlich zartfühlend.
Die Frauen nickten. Letty war trotz ihrer dunklen Haut eine Nuance erbleicht und wankte sogar kurz. Offensichtlich hatte sie fest mit einem Gewaltausbruch gerechnet. Kilian fixierte Karen mit seinen unwiderstehlichen Augen und versuchte auf diesem Weg offensichtlich festzustellen, wie es ihr ging.
„Guten Abend. Die Polizei München. Es wurden uns Probleme gemeldet. Was ist passiert?“ fragte ein Beamter in die erschrockene Runde.
Zeitgleich trafen auch mehrere Sicherheitsmitarbeiter des Marktes am Ort des Geschehens ein. Hatten die getrödelt oder nur gewartet, bis die Ordnungshüter eingetroffen waren? Das würde sich wohl nicht mehr klären lassen.
„Alles in Ordnung. Wir hatten ein paar unliebsame Gäste, aber die haben sich überzeugen lassen, dass für sie Feierabend ist. Alles geklärt.“ säuselte Kilian und schaute unschuldig drein.
Der Beamte sah demonstrativ zu dem Scherbenhaufen, den der besoffene Lukas hinterlassen hatte.
„Bisschen Bruch ist immer mal zu beklagen.“ mischte sich Karen ein.
Letty hatte sogar schon einen Besen in der Hand, um die Hinterlassenschaften zu beseitigen. Toni nahm ihr den aus der Hand und kehrte die ersten Scherben beiseite.
Die Herren schauten zwar immer noch zweifelnd, konnten aber schlecht das Gegenteil beweisen.
„Da hat der Anrufer die Situation vielleicht falsch eingeschätzt. Wenn was ist oder die Kerle zurück kommen, ein Anruf genügt und wir sind zur Stelle.“ beließ es der Polizist.
Schnell hatten sich wieder die normalen Besucher den Raum zurück erobert. Der Betrieb auf dem Christkindlmarkt lief bereits wie als wäre nichts gewesen völlig normal.
Als die Polizisten und der Wachdienst sich wieder verkrümelt hatten, atmete Karen erleichtert auf.
„Puh, das war nicht ohne. Vielen Dank ihr tapferen Burschen.“
„Wirklich alles gut bei dir? Was war denn das für ein seltsamer Auftritt?“ fragte Kilian nach.
Karen wollte nicht wieder alles aufwärmen. Eine Antwort war sie ihrem Retter aber wohl schuldig.
„Mein Ex-Freund. Ich glaube, das war der endgültige Schlussstrich.“
Bei diesen Worten musste sie fast schon wieder lachen. Der Schrecken war dank der gütigen und aufmerksamen Art von Kilian verflogen.
„Soll ich uns einen Eierpunsch einschenken? Ihr seid natürlich eingeladen. So auf den Schock hin als kleines Dankeschön.“ fragte sie und griff nach zwei frischen Tassen.
Da würde sie neue nachbestellen müssen, dachte sie mit einem wehmütigen Blick auf die zerschlagenen Tassen, die von Letty und Toni einträchtig zur Seite gefegt wurden, um sie fachgerecht entsorgen zu können. Die beiden lächelten sich immer wieder an. Eigentlich bei jeder Scherbe, die im Mülleimer landete. Wenn da mal nicht Amor einen großen Liebespfeil durch beide Herzen getrieben hatte.
„Ach, Eierpunsch können wir die ganze Zeit trinken. Ich habe eine ganz andere Idee. Wir machen etwas total Verrücktes. Wir gehen auf den Christkindlmarkt.“ strahlte Kilian über das ganze Gesicht.