Die Formation
„Guten Morgen.“ Jackow reckte verschlafen seine Arme, wobei er an die niedrige Decke des Zeltes stieß.
„Was gibt es eigentlich zum Frühstück?“ Roberto schlug die Decke zurück und schnupperte.
„Was soll es schon geben?“, knurrte Kaan. „Haferflocken, wie immer.“
„Aber heute hat doch Moa Geburtstag“, warf Friedrich ein. „Er ist jetzt auch endlich fünfzehn. Und an den Geburtstagen gibt es immer etwas Besonderes.“
„Wer hat eigentlich Küchendienst?“, fragte Kaan.
„Die Zwillinge“, riefen die anderen einstimmig.
In diesem Moment streckten Jackow und Maccario die Köpfe ins Zelt. „Überraschung!
“
Die Zwillinge hatten es geschafft, die Zutaten für einen Geburtstagskuchen zu beschaffen, den sie in einem alten Tontopf in der Glut gebacken hatten. Nahrungsmittel waren knapp geworden, seit die Bergtrolle die Herrschaft übernommen hatten. Die Bauern mussten einen Großteil ihrer Ernte an die Trolle abgeben, sonst wurden ihre Höfe, das Vieh und die Felder in Brand gesetzt. Die Freunde hatten gelernt, Fallen zu stellen und zu jagen. Einen Teil der Felle und des Fleisches tauschten sie bei den Bauern gegen Getreide ein.
„Das war lecker.“ Friedrich rieb sich den Bauch.
Maarten erhob sich und griff nach seiner Ausrüstung. „Wir müssen aber trotzdem trainieren.“
„Ach, heute mal nicht. Wir feiern doch Geburtstag.“ Maccario ließ sich nach hinten fallen und schloss die Augen.
Roberto stand ebenfalls auf. „Kein Nickerchen. Wir müssen trainieren. Denke an unseren Schwur.“
„Wir trainieren jeden Tag“, jammerte Jackow. „Und dass jetzt schon seit über fünf Jahren. Bis jetzt haben wir noch nicht einmal richtig gekämpft.“
„Die Abenteuer werden kommen, das habe ich in meinen Träumen gesehen. Es dauert nicht mehr lange.“ Kaan blickte versonnen in die Ferne. Er stammte aus einer Familie von Hellsehern. Seine Visionen waren noch sehr verschwommen, aber er war ja auch erst fünfzehn.
Normalerweise entwickelten Hellseher ihre vollen Fähigkeiten erst mit zwanzig.
„Wir sollten auf Kaan hören“, meinte Moa. „Wenn der König seinen Eltern geglaubt hätte, dann wäre all das vielleicht nicht geschehen.“ Kaans Mutter hatte einen schwarzen Nebel gesehen, der über die Stadtmauern von Malensia gekrochen war, sich in den Straßen ausgebreitet und Verwüstung hinterlassen hatte. Doch König Günter hatte sie nur ausgelacht.
„Genau“, pflichtete Roberto ihm bei. „Und wenn es so weit ist, müssen wir vorbereitete sein. Und deshalb trainieren wir auch heute. Alle an die Waffen!“
Murrend erhoben sich die Zwillinge, schlossen sich aber ihren Freunden an und nahmen ihre Kampfformation ein.
Nachdem die Freunde durch die Kanalisation in die Wälder geflohen waren, hatten sie sich dort versteckt. Sie blieben nie lange an einem Ort und schliefen in einem Zelt, das sie aus Tierhäuten zusammengenäht hatten. Es ließ sich innerhalb weniger Minuten aufstellen und wieder abbauen. Außer ihren Waffen, die sie kurz nach ihrer Flucht gefunden hatten, besaßen sie kaum etwas. Die Waffen hatten in einer Grube gelegen, wo Soldaten sie vermutlich zurückgelassen hatten, weil sie alt und verrostet waren. Nach und nach reparierten sie die Waffen mit Hilfe eines Waffenschmiedes aus dem Dorf, aus dem die Zwillinge stammten. Sie hatten ihm von ihrem Schwur
erzählt und der Schmied hatte den Kopf geschüttelt und gesagt: „Es ist zwar unwahrscheinlich, dass ausgerechnet ihr Kinder etwas ausrichten könnt, aber in Zeiten wie diesen klammert man sich an jeden Strohhalm.“ Heimlich, denn die Bergtrolle verboten es den Menschen, Waffen herzustellen, zeigte der Schmied den Kindern, wie man die Waffen reparierte und pflegte. Nach und nach hatte jeder der Jungs eine Waffe gefunden, die ihm besonders lag. Maarten, Moa und Friedrich trugen Schilder, sie waren sehr geschickt, wenn es darum ging, sich zu verteidigen. Kaan und Jackow zückten Schwerter, mit denen sie mittlerweile kunstvoll umzugehen verstanden. Maccario hatte sich eine Armbrust ausgesucht, mit der er auch auf größere Entfernung genau traf. Nur Roberto hatte noch keine Waffe in der Hand gehalten, mit der er sich wohl fühlte. Meistens griff er auch zu einem Schwert, stellte sich damit aber so ungeschickt an, dass die anderen ihn auslachten. Es bekümmerte ihn, dass er in den fünf Jahren des Trainings kein besonderes Talent entwickelt hatte, und er versuchte, diesen Makel auszugleichen, indem er sich Kampfformationen ausdachte, mit denen die Sieben sich am besten verteidigen konnten. Auch darüber lachten seine Freunde, taten ihm aber den Gefallen, die Formationen auszuprobieren, die Roberto auf Papier kritzelte oder mit Stöcken auf dem Waldboden skizzierte. „Heute probieren wir mal etwas anderes“, rief Roberto. Seine Freunde übten sich im Zweikampf, doch er war wie immer damit beschäftigt, auf dem Papier eine optimale Kampfformation zu entwickeln
.
„Mensch“, stöhnte Maccario. „Nicht schon wieder so eine blöde Formation.“
Sein Zwillingsbruder legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. „Komm, tun wir ihm den Gefallen. Ich brauche sowieso mal eine Pause, mein Arm ist schon ganz lahm.“
Roberto dirigierte seine Freunde in die Position, die er sich ausgedacht hatte. „So bilden die Schilder vorn ein Dreieck, dahinter stehen Kaan, Jackow und ich mit den drei Schwertern und Maccario kommt mit der Armbrust in die Mitte.“
Seufzend hob Friedrich sein Schild. „Die Position hatten wir doch schon.“
„Ja, das ist Mist“, pflichtete Maccario ihm bei. „Das bringt uns auch nicht weiter.“
Roberto schüttelte den Kopf. „Genau in dieser Formation haben wir uns noch nie aufgestellt. Lasst es uns doch einfach probieren.“
Alle begaben sich in ihre Position und zückten die Waffen. „Psst“, flüsterte Moa, „seit mal leise! Ich habe ein Rascheln gehört.“
Sie waren immer auf der Flucht. Bergtrolle durchkämmten in kleinen Trupps regelmäßig die Wälder, um nicht registrierte Menschen aufzuspüren. Jeder, der die Schlacht am Feuertag, so nannten die Trolle den Tag des
Angriffs auf Malensia, überlebt hatte, war verpflichtet, sich von den Trollen registrieren zu lassen und Abgaben zu leisten. Neben den Sieben gab es natürlich noch andere Menschen, die sich in den Wäldern versteckten. Das war sehr gefährlich, denn es wurde mit dem Tod bestraft, wenn man sich den Gesetzen der Bergtrolle nicht unterwarf.
Starr vor Schreck blieben die Freunde in ihrer Formation stehen, als drei Bergtrolle laut schwatzend auf der Lichtung auftauchten, auf der sie trainiert hatten. Roberto, der hinten in der Formation stand, erwartete, dass sie sich mit Gebrüll auf sie stürzen würden, um sie vernichtend zu schlagen. Schließlich waren die Trolle viel größer als sie. Doch die Trolle spazierten an ihnen vorbei, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen.
Erst eine ganze Weile, nachdem die Bergtrolle wieder verschwunden waren, ließ Maarten sein Schild sinken. „Was war denn das?“
Moa schüttelte den Kopf. „Das gibt es doch nicht. Sie haben uns nicht gesehen.“
„Wieso denn?“, fragte Jackow stirnrunzelnd. „Wir sind doch nicht unsichtbar.“
„Vielleicht doch.“ Roberto kratzte sich nachdenklich am Kopf.
Maccario riss die Augen auf. „Meinst du, es war die Formation?“
„Möglich wäre es doch, oder?“