Das Eintreffen der Heere
„Wir sind gleich da“, keuchte Roberto erleichtert. „Da vorn blinken die ersten Lichter von Galendra.“ Während er weiterlief, trank er einen Schluck aus seiner Feldflasche. Seine Schritte klatschten laut auf dem nassen Waldboden. Seit Tagen waren sie unterwegs, um die Festung von Galendra zu erreichen und ihre Freunde wieder zu treffen. Überdeutlich spürte Roberto die Münze in seiner Tasche. Sie schien mit ihm zu sprechen. „Fass mich an“, flüsterte sie ihm zu. „Ich verleihe dir Macht, wenn du mich nur in die Hand nimmst. Gemeinsam können wir alles schaffen.“ Bisher hatte Roberto es geschafft, ihrer verführerischen Stimme zu widerstehen, doch er wusste nicht, wie lange er das noch durchhalten würde. Es verlangte ihm alles an Disziplin ab, was er aufbringen konnte. Einzig das Schwert der Bestimmung half ihm. Solange seine Hand fest um den Griff des Schwertes fasste, fühlte er sich sicher. Das Schwert gab ihm Ruhe und die Kraft, standzuhalten .
„Schneller, der König wartet bestimmt schon auf uns“, riss eine Stimme Roberto aus seinen Gedanken. Bevor er sich versah, lag Roberto flach auf dem Boden. Jasper und Valario hatten ihn nach unten gerissen und lagen nun mucksmäuschenstill neben ihm. Erst jetzt erkannte Roberto die Gestalten, die an ihnen vorbeimarschierten. Sie sahen aus wie schlanke junge Bäume, ihre Haut war braun und rissig wie die Rinde der Stämme und kleine Ästchen, an denen Blätter hingen, wuchsen aus ihren Armen.
„Das sind Waldelfen“, flüsterte Jasper, als die Gruppe sich außer Hörweite befand.
„Was wollen sie vom König?“, fragte Roberto.
„Sicher ziehen sie in den großen Krieg.“
„Meinst du wirklich, das sind schon die ersten Krieger, die sich auf den Weg machen, um mit uns zu kämpfen?“ Roberto rappelte sich auf und sah den Gestalten hinterher, die schon längst in der Dämmerung zwischen den Bäumen verschwunden waren. „Warum verstecken wir uns dann?“
„Wir können uns ja nicht sicher sein“, meinte Valario. „Da ist es besser, wir bleiben erst einmal im Hintergrund.“
Kurze Zeit später mussten sie sich erneut hinter den Büschen verstecken, da eine Armee von Minimenschen an ihnen vorbeizog .
„Das sind ja echt Minimenschen“, flüsterte Roberto und beobachtete die Soldaten, die in Reih und Glied an ihnen vorbeizogen. Sie waren kaum größer als Robertos Hand. „Ich dachte, die Geschichten über sie sind nur Legenden.
Zwenjagor lachte leise. „Es gibt sie und sie sind unglaublich. Trotzdem sie so klein sind, sind sie stärker als Menschen oder Elfen. Ihre Pfeile sind klein, aber unglaublich schnell und giftig. Ihre geringe Größe, ihre Flinkheit, ihr gutes Gehör und die flexiblen Rüstungen machen sie nahezu unverwundbar. Noch dazu gibt es sehr viele von ihnen. Schaut euch nur diese riesige Armee an.“ Noch immer zogen die Minimenschen an ihnen vorbei, die Truppe musste mehrere hundert Meter lang sein.
Spät in der Nacht erreichten sie den großen Versammlungsplatz vor der Festung von Galendra. Mit offenem Mund starrte Roberto auf die vielen Krieger, die sich dort versammelt hatten. Auf den Wiesen und Feldern, die an den Platz angrenzten, standen dicht an dicht Zelte in verschiedenen Größen und Formen. Menschen, Zwerge, Elfen, Minimenschen und andere Zauberwesen, die Roberto noch nie zuvor gesehen hatte, gingen zwischen den Zelten umher. Überall saßen Grüppchen beisammen und diskutierten. Während sie zwischen den Zelten umher gingen, hörten sie aus den Gesprächsfetzen die Bereitschaft aller, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen. Doch sie vernahmen auch viele Streitereien. Die Menschen und Fabelwesen schrien sich an, bedrohten sich gegenseitig mit ihren Waffen und brachen die Diskussionen ab.
Nachdenklich wiegte Jasper den Kopf hin und her. „Das sieht nicht gut aus. Jeder will seine Strategie durchsetzen und meint, dass er am besten weiß, wie die Bergtrolle besiegt werden können. Wir müssen die Münze der Entzweiung zerstören, sonst werden sich die Krieger niemals einigen und an einem Strang ziehen.“
„Aber wie kann die Münze zerstört werden?“, fragte Roberto. Er war zwiegespalten. Auf der einen Seite konnte er es kaum abwarten, die Münze und ihren schlechten Einfluss loszuwerden, doch auf der anderen Seite sträubte sich alles in ihm, die Münze herzugeben.
Jasper zuckte mit den Schultern. „Keiner weiß, wie die Münze zerstört werden kann. Wir wissen nur, dass man sie nicht einfach einschmelzen kann.“
In diesem Moment ging ein Raunen durch die Menge. „Der König wird zu uns sprechen“, hörten sie die Menge murmeln.
Kurz darauf erschien König Retragor zwischen den Zinnen der Burg und begann zu sprechen: „Liebe Krieger, Menschen, Minimenschen, Zwerge, Elfen und Zauberwesen, ich danke euch, dass ihr meinem Ruf gefolgt seid und euch hier zusammengefunden habt.“ Er hob die Hand zum Gruß. „Ich grüße auch die Bauern, Holzfäller und Schmiede, die meiner Bitte nachgekommen sind. Der Kampf wird schwierig und verlustreich werden. Wir wissen nicht, wann die Bergtrolle angreifen werden, doch ich bin mir sicher, wir schaffen es, wenn wir Seite an Seite kämpfen.“ Er verneigte sich vor der versammelten Menge. „Ich bitte die Holzfäller, mit dem Morgengrauen in die Wälder zu ziehen und Bäume zu schlagen. Wir brauchen das Holz für Tore, Wälle und Pfeile. Die Schmiede sollen ihre Feuer entfachen und Waffen schmieden und die Bauern bitte ich, Proviant heranzuschaffen. Wir wissen nicht, wie lange der Krieg dauern wird und danach könnte es eine Hungersnot geben, denn die Trolle werden alles dem Erdboden gleich machen. Die Frauen, Kinder und Alten sollen zusammen mit den Weidetieren und ausreichend Proviant in die Stollen der Zwerge gebracht werden. Ich bitte euch, arbeitet zusammen, bildet euch gegenseitig aus und helft, wo immer ihr könnt. Meine Soldaten werden zu euch kommen und euch die Strategie erklären, mit der wir gegen die Trolle vorgehen wollen.“
Nachdem der König verschwunden war, begaben sich alle zur Nachtruhe. Auch Roberto, Zwenjagor, Jasper und Valario bauten ihr Zelt auf und legten sich schlafen. Kaum dass es am frühen Morgen hell wurde, begann geschäftiges Treiben um sie herum. Zunächst kamen alle der Aufforderung des Königs nach, doch schon nach kurzer Zeit hörte Roberto lauten Streit und die ersten Krieger begannen, sich zu prügeln.
„Was machen wir?“, fragte Roberto. „Sollen wir in die Festung?“
Jasper schüttelte den Kopf. „Wir müssen erst eine Möglichkeit finden, die Münze zu zerstören. Außerdem musst du, Roberto, den Anführer mit dem Schwert der Bestimmung bekämpfen und das geht nur hier draußen auf dem Schlachtfeld.“
Roberto schluckte und spürte, wie Angst in ihm hochkroch. Schnell schloss er seine Hand um das Schwert und spürte die Zuversicht, die es ihm schenkte.
„Ich muss aber ins Schloss“, warf Zwenjagor ein. „Ich weiß, wann und wie die Bergtrolle angreifen wollen, in den Stollen habe ich das Echo ihrer Pläne belauscht. Der König muss es erfahren.“
Jasper nickte. „Gut, dann gehst du zu Retragor. Valario und ich bleiben bei Roberto.“
Seufzend blickte Roberto Zwenjagor hinterher, der sich zur Burg aufmachte. „Ich würde so gerne meine Freunde wiedersehen.“
Valario legte ihm die Hand auf die Schulter. „Oh ja, das wäre schön. Aber wir müssen unserer Bestimmung folgen.
„Ich wünschte, ich wäre nicht der Auserwählte“, murmelte Roberto leise.
Jasper schubste ihn aufmunternd an. „Es ist eine schwere Last, die auf deinen jungen Schultern liegt. Ich weiß, dass du dir das nicht ausgesucht hast. Doch das Schwert hat dich erwählt. Es vertraut dir. Und wir vertrauen dir auch.“
Valario nickte. „Du bist nicht allein, Roberto. Jasper und ich bleiben an deiner Seite, wenn es sein muss, bis zum bitteren Ende.“
Roberto schloss die Augen, umfasste den Griff des Schwertes der Bestimmung und begann zu singen:
Das Sonnenlicht verblasst,
Trübheit übergibt uns Last.
Wir fühlen uns nicht sicher,
in dieser schlimmen Zeit.
Goleph, Oh, Goleph helft,
in dieser trüben Zeit.
Die Nacht wird kalt,
in diesem dunklen Wald,
Oh, hilf uns doch,
mit deinem verzauberten Licht.
Das Sonnenlicht verblasst,
Trübheit übergibt uns Last.
Wir fühlen uns nicht sicher ,
in dieser schlimmen Zeit.
Goleph, Oh, Goleph helft,
in dieser trüben Zeit.
Jasper und Valario stimmten ein und schöpften Kraft aus den alten Gesängen ihrer Vorfahren.