KAPITEL 5
1628
Mayken überquert das Deck, steigt die Leiter hinunter und folgt Pelgrom in den Bauch des Schiffes. Je tiefer sie vordringt, desto wärmer wird es, und der Gestank wächst. Das Gewimmel der Leute hier unten verdunkelt alles, und plötzlich ist Pelgrom verschwunden. Mayken gerät kurz in Panik, geht ein Stück zurück, und da ist er und winkt ihr durch einen Spalt zwischen dem Rumpf und einer Kabine zu. Sie zwängt sich hindurch.
»Mein Büro in der Unterwelt«, sagt Pelgrom.
Er hat einen Hocker in die Höhlung gezerrt. Der Steward faltet sich in den schmalen Raum, die Knie an den Ohren. Mayken staunt. Löcher bohren, Bretter lösen, sich in winzige Räume zwängen. Dieses Schiff braucht weder Würmer noch Ratten, es hat Pelgrom.
Eine Glocke erklingt, und Unmengen von Leuten drängen draußen vorbei. Mayken kann Beine und dreckige nackte Füße sehen.
»Wir warten eine Weile.«
Mayken schnauft. »Warum ist es hier so heiß?«
Pelgrom klopft gegen die Wand. »Mit Blech ausgekleidete Ziegel. Dahinter brät sich der Koch jeden Tag selbst.« Er verzieht das Gesicht und lässt seine Stimme alt und brummig klingen: »Verdammte dreihundertvierzig Seelen bekochen.«
Sie wischt sich das Gesicht mit dem Ärmel ab. »Ich würde das nicht aushalten.«
»Du bist nicht in einer Hütte in Bommel großgezogen worden, auf Kieseln und mit Aalknochen. Jan Pelgrom wird es nie zu warm werden. Meine Wiege stand im Watt.«
Mayken erahnt eine Geschichte.
»Wir treffen uns hier beim Läuten zum nächsten Wachwechsel. Du weißt, wie die Glocke klingt?«
»Natürlich.«
»Verlass auf keinen Fall dieses Deck. Geh nicht zurück nach oben und nicht weiter nach unten.«
»Was ist hier drunter?«
»Nichts. Ich hab’s dir gesagt: Soldaten und Kühe.« Pelgrom macht ein ernstes Gesicht. »Sprich mit niemandem. Und wenn du erwischt wirst …«
»Hast du nichts damit zu tun.«
Pelgrom nickt. Dann lächelt er. »Geh, Obbe. Du bist jetzt ein Schiffsjunge, und die Welt da oben ist für dich verloren. Du erkundest die Unterwelt.«
Die Unterwelt ist ein düsteres Reich. Das einzige Licht kommt von oben durch die Luken und die Geschützklappen, die bei dem guten Wetter heute geöffnet sind. Das Deck erstreckt sich über die gesamte Länge und Breite des Schiffs, unterteilt von den Kanonen, die in regelmäßigen Abständen entlang der Seiten stehen. Es gibt Kabinen für den Provost und die Wundärzte des Schiffes. Ganze Familien leben auf dem Kanonendeck. Stoffe sind aufgespannt, um ein bisschen Privatsphäre zu gewähren. Einige machen sich nicht die Mühe. Zwischen den Geschützen haben Seemänner ihre Lager, manche mit ihren Frauen. Sie versuchen trotz des Trubels zu schlafen. Mayken dreht eine komplette Runde und sieht sich alles an. Ihre Augen haben sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Am Ende kommt sie zurück zu Pelgroms Versteck, vorbei an der Kombüse. Die Tür zu ihr steht offen. Das Feuer ist aus. Es herrscht Ruhe zwischen den Mahlzeiten.
Der Küchenjunge, nackte Arme und Beine, der Kopf rasiert, schleppt einen Mehlsack und sieht hinaus. Er starrt Mayken an und kennt, was er da sieht. »Meine Hose. Du Mistkerl! Das ist meine Hose!«
Mayken rennt, stößt gegen Leute und stolpert über Füße. Vor ihr steht eine Schar Seemänner um einen Kameraden mit einem apfelgroßen, eiternden Geschwür am Hals. Sie berühren es nacheinander, das bringt Glück. Das Geschwür ist erstaunlich rot. Die Männer stellen Vermutungen an.
»Da ist was drin, das rauswill.«
»Ein Gesicht, guck mal.«
»Ein Babykopf.«
»Kein verdammtes Baby, das ich sehen möchte.«
Der Seemann ist geduldig. Mayken kann sehen, dass es ihm nicht gut geht, er ist bleich und schwitzt. Und er stinkt fürchterlich, etwas fischig Süßes mischt sich in die gewohnte Mischung aus Pisse und üblem Mundgeruch.
Der Seemann wird in die Kabine gerufen. Mayken drängt sich zwischen die Zuschauer an der Tür.
Die Kabine des Wundarztes ist vollgepackt bis zum Rand, der Boden mit Sägemehl bestreut. Zwei Eimer, einer voll und einer leer, sind an die Wand gebunden, die zu Maykens Schrecken voller Blut ist. Regale mit Sicherheitsleisten reichen vom Boden bis zur Decke und stehen voller Flaschen und Gläser. Auf einer langen, schmalen Bank liegen Werkzeuge ausgebreitet. Die Kabine ist gut beleuchtet. Drei Laternen schwingen hoch unter der Decke und können heruntergelassen werden. Sie werfen harte Schatten in die Kabine und auf den Wundarzt selbst, einen jungen Mann mit einer langen, von Blut und Eiter starrenden Schürze, die auch so, ohne ihn, stehen bleiben würde. Er hat die Ärmel aufgekrempelt und trägt eine eng anliegende, randlose Kappe, dazu den Ausdruck hoheitsvoller Geringschätzung auf dem Gesicht. Auf der Wange klebt etwas getrocknetes Blut. Er scheint halb Prinz, halb Metzger. Mayken starrt ihn staunend an.
Der Seemann mit dem Geschwür zieht sich bis auf die Hose aus und wird auf einen niedrigen Hocker gesetzt. Die Zuschauer drängen vor, Mayken mit ihnen. Der Metzger-Prinz zieht die an einer Kette hängenden Laternen tiefer. Im hellen Licht sehen der Seemann und sein Geschwür noch übler aus. Der Seemann ist wachsbleich, das Geschwür bleifarben.
Mayken sieht den Stuhl in der Ecke. Er ist an den Boden geschraubt, hat Ledermanschetten für Arme und Füße und einen breiten Riemen für die Brust. In einer Kiste an der Wand daneben liegen eine Säge, ein Meißel und ein Hammer.
Mayken ist überwältigt. »Schneiden Sie da Beine ab?«
Der Metzger-Prinz wirft einen düsteren Blick zu ihr herüber. Mayken erinnert sich daran, dass sie wie ein Schiffsjunge reden muss. »Schneiden Sie da verdammte Beine ab?«
»Und wer bist du?«
Mayken erinnert sich. »Obbe.«
»Obbe, Sir.«
»Obbe, Sir. Und Sie sind?«
Einige der umstehenden Seemänner lachen.
»Der zweite Barbier Aris Jansz.« Er bestreicht das Geschwür mit etwas Teerartigem aus einem Glas. »Fluchst du immer so, Obbe?«
Mayken nickt begeistert. »Ja, das tu ich, verdammt.«
»Hast du keine Angst vor einer Tracht Prügel wie die anderen Schiffsjungen?«
Mayken erschrickt. Auf dem Gesicht des Barbiers ist ein schwaches Lächeln zu erkennen.
»Dann bist du ein furchtloser Bursche.«
»Kommt drauf an.«
Aris stößt leicht auf das Geschwür. Der Seemann zuckt zusammen. »Das Ding ist groß genug für eine eigene Ration Bier.«
Alle lachen. Aris sieht Mayken an.
»Komm her, Junge. Ich brauche einen Assistenten.«
Die Leute machen Platz, und Mayken tritt in die Kabine.
»Eine erstaunliche Menge Eiter«, bemerkt Aris. »Was hältst du davon, Obbe?«
Mayken sieht den zweiten Barbier an. Er ist älter, als sie zunächst gedacht hat, vielleicht aber auch nur müde. Seine Augen sind blaugrau. Die Nase ist spitz, der Bart gepflegt.
»Ja, erstaunlich«, stimmt sie ihm zu. »Eiter.«
Aris gibt ihr einen Schwamm und eine Schüssel und beugt sich zu ihrem Ohr hin. »Seemänner zeigen keinen Schmerz, aber das jetzt tut weh. Eine kleine Vorstellung, um die Zuschauer ein bisschen abzulenken, wird ihm helfen. Verstehst du mich?«
Mayken nickt und nimmt den Schwamm.
»Steh das durch, dann kannst du zusehen, wie ich ein Bein absäge.« Aris drückt den Rücken durch. »Gut, ich schneide da jetzt rein. Obbe, bist du bereit, aufzufangen, was immer da rauskommt?«
Mayken hält Schwamm und Schüssel und tänzelt auf der Stelle hin und her. Die Zuschauer lachen.
»Fertig?« Aris nimmt ein Messer. »Man kann nie sagen, wohin es spritzt.«
Die Leute weichen zurück.
Der Seemann geht mit verbundenem Hals durch die Zuschauer, noch viel blasser als zuvor. Aris wirft seinen triefenden Lappen in einen Eimer und wischt sich mit dem Arm über die Stirn.
»Ich habe noch eine Aufgabe für dich, Obbe. Hast du gute Nerven?«
»Hängt davon ab.«
»Natürlich tut es das.«
Aris holt einen verzierten Kasten aus einem niedrigen Schrank, stellt ihn vorsichtig auf die Werkbank und schließt ihn auf. Drinnen liegen etliche Reihen kleiner verkorkter Fläschchen. Er wählt eines aus, wickelt es in einen sauberen Lappen und gibt es Mayken.
»Geh ein Deck tiefer zu den Soldaten und frage nach einem Engländer namens John Pinten.«
»John Pinten.« Der Klang des Namens fühlt sich ungewohnt an.
»Gib ihm das. Halte es versteckt. Lass es niemanden sehen. Verstanden?«
»Ja.«
»Und bring die Bezahlung direkt zu mir zurück.«
Mayken nickt.
»Gut. Dann kriegst du eine eigene Münze.«
»Ich würde lieber sehen, wie ein Bein abgeschnitten wird.«
»Würdest du?« Aris nimmt den Schiffsjungen etwas genauer in den Blick. »Nun, dann sorg dafür, dass du das hier überbringst.«
Mayken versteckt das Fläschchen in ihrer Hose. Damit beschäftigt, den Weg aufs untere Deck zu finden, bemerkt sie nicht, dass der Küchenjunge ihr auflauert.
Er stürzt sich auf sie. Mayken dreht sich und verpasst ihm einen eleganten Schlag auf die Nase. Blut und Tränen schießen hervor.
Sie sitzen hinter einer Kanone, ein Stück entfernt vom geschäftigen Hin und Her. Das Blut aus der Nase verrinnt, aber die Tränen fließen weiter.
»Hör mit der Heulerei auf«, sagt Mayken gutherzig, »oder du kriegst einen Tritt.«
Der Küchenjunge hört auf zu weinen.
Er heißt Smoert. Er ist klein und dünn und sieht wie versengt aus, hat rosa umrandete Augen wie ein Kaninchen und Brauen und Wimpern, die es in der Hitze der Kombüse offenbar hat wegschmelzen lassen. Sein Kopf ist kahl rasiert, Hände und Arme sind voller Narben und Krusten von Fettspritzern. Der Kerl sieht aus wie ein kleiner Wasserspeier mit den entsprechend verzerrten Gesichtszügen.
Smoert macht seinem Ärger Luft: Was Mayken trägt, gehört alles ihm. Die Hose hat er sich selbst genäht, der Gürtel ist ein Geschenk von seinem alten Meister, und den Kittel hat er beim Anbordkommen gekriegt. Vor zwei Tagen dann, beim Entlausen, musste er sich ausziehen, sie haben einen Eimer Meereswasser über ihn geschüttet, und als er sich umdrehte, war alles weg.
»Ich war das nicht«, sagt Mayken.
Smoert scheint nicht überzeugt.
»Weißt du, wo die Soldaten schlafen?«
Smoert nickt.
»Ich gebe dir deine Sachen zurück«, sagt sie. »Aber erst musst du mir helfen, einen Soldaten namens John Pinten zu finden.«
Smoert kratzt an dem Blut, das in seiner Nase trocknet.
»Und du kriegst eine Münze«, verspricht Mayken.
Smoert verengt seine Kaninchenaugen. »Zeig sie mir.«
»Wenn ich bezahlt werde. Du musst mir vertrauen.«
Smoert überlegt. Er nickt scheu.
»Warte«, flüstert Mayken in die dunkle Luke. »Was ist da unten?«
Smoert ist bereits ein paar Sprossen hinabgestiegen, bleibt stehen und sieht sich um, das Gesicht bleich in der Düsternis. »Soldaten und Kühe.«
»Ist das alles?«
»Was sonst sollte da sein?«
»Es stinkt wie die Hölle.«
»Woher weißt du, wie die Hölle stinkt?«
»Imke hat’s mir gesagt: tote Seelen und gebackene Teufelsscheiße.«
»Wer ist Imke?«
»Meine Kinderfrau.«
»Kinderfrau?«
Mayken beißt sich auf die Lippe. »Oh, vergiss es. Geh schon, weiter!«
Mayken erreicht das Ende der Leiter. Die Hitze und der Gestank sind überwältigend. Kuhdung und dazu etwas Beißendes, Teeriges. Es legt sich wie eine heiße Hand über Nase und Mund. Mayken atmet, so gut sie kann, und versucht die Panik zu unterdrücken, die in ihr aufsteigt. Hier ist es sogar noch dunkler als auf dem Kanonendeck. Da es keine Geschützklappen gibt, kommt das einzige Licht von den Laternen, die die Dunkelheit durchbrechen und in großen Abständen von den Querbalken hängen. Die Flammen sind weit heruntergedreht. Die erstickende, ewige Nacht wird durch die niedrige Decke noch bedrückender, die schwer auf allem zu lasten scheint. Das Orlopdeck, oder Kuhdeck, hat die Höhe der bei der Luke eingepferchten Tiere. Kein Erwachsener kann sich hier aufrecht fortbewegen. Alle müssen sich ducken und aufpassen, dass sie sich nicht die Köpfe an den Balken aufschlagen.
Mayken ist klein genug, um stehen zu können. Hebt sie die Hand, kann sie die vom Atem der Kühe und Soldaten nass glänzende Decke berühren. Schnelle Bewegungen in den Schatten sagen ihr, dass dieses Deck voller Ungeziefer und Nagern ist. Sie huschen zwischen den Pfosten des Pferchs und den Beinen der Tiere herum, die tief im Dreck stehen.
Die Kühe zermahlen das gefressene Futter mit ihren Kiefern, die Augen groß in der Düsternis. Gegen die Bewegung des Schiffes ankämpfend, weiten sich ihre Nasen, zucken ihre Ohren. Sie tun Mayken leid, diese für Erde und frisches Gras geschaffenen Kreaturen, die sich selbst in ihren Kuhalbträumen niemals ein solches Leben hätten vorstellen können! Im nächsten Pferch schnaufen Ochsen dem Ende ihres Lebens entgegen, da sie für den Tisch in der Großen Kabine geschlachtet werden.
»Die Soldaten schlafen dahinten.« Smoert deutet in die Finsternis.
Er bleibt zurück, als Mayken den Plankensteg in der Mitte des Decks hinuntergeht.
»Warte hier, wenn du magst«, flüstert sie. Er wirkt erleichtert.
Mayken geht weiter. In den Lichtinseln der Laternen sieht sie die Soldaten dicht an dicht liegen und mit leeren Blicken an die Decke starren. Grausig wie Leichen sehen sie aus.
Mayken ruft leise: »John Pinten.«
Keine Antwort.
Sie versucht es etwas lauter: »John Pinten.«
»Weiter«, sagt ein Krächzen aus der Düsternis. »Ganz hinten.«
Hinter ihr das schwindende, Halt gebende Licht, vor ihr nichts als Schwärze.
Aber sie hat versprochen, das Fläschchen zu überbringen.
Als sie das Ende des Stegs erreicht, erkundet sie den Rand mit dem Fuß. Was kommt danach? Sie ringt nach Luft, die Hitze und die alles erstickende Finsternis sind zu viel.
»John Pinten«, keucht sie. »Zeig dich!«
Ein Geräusch. Ein Streichholz wird angerissen, eine Laterne flackert auf. Ein Gesicht!
Mayken schafft es nicht, davonzulaufen.