KAPITEL 6
1989
Joss Hurley wurde gesehen, wie er am Morgen mit dem Versorgungsschiff zum Festland aufgebrochen ist. Es ging ihm nicht gut. Bill Nord hat ihn gedrängt zu fahren. Bill war Sanitäter in der Army und weiß, wovon er redet. Er meinte, die Docs müssten ihm die Hand amputieren, und wenn sich die Infektion weiter ausbreite, was wahrscheinlich sei, dann den ganzen Arm. Und wenn das keinen Erfolg habe, dann sei der alte Mann fürchterlich am Arsch.
Das ist es, was Silvia Zanetti an der Tür zu vermelden hat.
Gil weiß, dass sein Großvater aufs Festland gefahren ist. Er will Ersatzteile für den Motor der Ramona kaufen. Davon, dass ihm die Hand abgenommen wird, hat er nichts gesagt, nur dass er über Nacht in Geraldton bleibt.
Es ging ihm nicht gut. Das Gesicht grünlich, die Augen schlierig und feucht. Gil hat vor der Tür gewartet, seine Tasche für die Fahrt gepackt.
Aber Joss hatte kaum den Blick gehoben. »Du bleibst hier. Silvia kann nach dir sehen.«
Silvia macht Frühstück. Das schlecht blondierte Haar hat sie sich hochgesteckt, die Uniform aus Shorts und Unterhemd ist frisch. Gil trägt seine Schulshorts und das T-Shirt, das Mrs Baxter ihm gekauft hat. Es ist knallgelb und beißt sich mit seinen roten Haaren. Aber Mrs Baxter meint, es wirkt freundlich, und das sei die Hauptsache.
»Ich habe persönlich nichts gegen deinen Großvater, weißt du.« Silvia stellt eine Tasse auf den Tisch. »Aber Frank würde mich fertigmachen, wenn er wüsste, dass ich hier bin.«
Gil gibt drei Stück Zucker in seinen Kaffee, vier, und rührt langsam um.
»Trotzdem. Manche Leute wollen sich eben nicht helfen lassen …« Sie legt die Füße auf einen Stuhl und blättert durch eine Zeitschrift.
Gil und Silvia spielen Karten, um Streichhölzer. Er erwischt sie dabei, wie sie ihn ansieht, halb neugierig, halb mitleidig.
Gil guckt in seine Karten und wartet auf ihre Frage.
»Stimmt es, dass du sie im Haus behalten hast?«
Gil sieht nicht von den Karten auf.
»Die ganze Zeit?«
Gil sieht nicht von den Karten auf.
»Und du wusstest, dass sie …«
Die Karten verschwimmen vor Gils Augen.
Als sie Hunger bekommen, geht Gil in den Vorratsraum und holt Dosenschinken und Cracker.
»Ist das alles, was ihr habt?«
»Es ist noch Eintopf da.«
Silvia wirft einen Blick in den Topf und verzieht das Gesicht. Sie steckt den Kopf in den Vorratsraum. »Dein Großvater isst, als wäre es die Apokalypse. Nichts Frisches. Alle Fischer sind so.«
»Das macht mir nichts.«
Silvia setzt ihre Baseballkappe auf. »Wir gehen zu mir und essen was Richtiges.«
»Wird Frank nicht da sein? Und Roper?«
»Dann würde ich dich nicht mitnehmen.«
Das Meer und der Himmel sind sengend blau, der Wind ist frisch und mildert die Hitze. Eidechsen aalen sich in den geschützten Senken des Korallengesteins. Gils Arme und Beine röten sich. Seine Haut spürt das Brennen der Sonne, trotz des Windes.
Sie kommen bei Bill Nord vorbei, wo der Schädel gefunden wurde.
»Die Wissenschaftler wollen Gräben durch unser Camp ziehen«, sagt Silvia. »Frank lässt sie nicht. Er sagt, bei uns ist nichts zu holen.«
»Woher weiß er das?«
»Er weiß es nicht.« Sie sieht Gil an und senkt die Stimme. »Manchmal geh ich selbst mit einer kleinen Schaufel los. Ich hab schon Sachen gefunden.«
Gil tritt näher zu ihr hin. »Was für Sachen?«
»Das geht dich nichts an.«
Gil weiß, es bedeutet, dass sie nichts gefunden hat.
»Ich suche nach den Überbleibseln von jemandem.«
»Von wem?«
»Vom toten Mädchen vom Lumpenbaum. Die Fischer nennen sie Little May.«
Sie gehen weiter.
Silvia wirkt nachdenklich. »Wenn ich sie finden kann und sie anständig begrabe, wird sie aufhören, auf der Insel herumzuirren. Alle Toten wollen in Frieden ruhen.«
»Aber es gibt keine Geister«, zischt Gil und ist überrascht von seiner eigenen Wut. »Die Toten kommen nicht zurück!«
Silvia sieht ihn ungerührt an. »Nur, wenn ihre Gebeine mit Respekt behandelt wurden. Das solltest du wissen.«
Gil lässt sich verärgert zurückfallen. Er sieht Silvias hässliche Shorts, ihre plumpen Beine und das fiese Haar, das sie sich unter die Kappe geschoben hat, und er hasst sie.
Sie dreht sich zu ihm um. »Willst du jetzt ein Eis, oder was?«
Im Camp der Zanettis gibt es keine Durchreiche ins Nirgendwo, keinen nierenförmigen Frisiertisch, keine niedrig kreisenden Fliegen oder klebrige Oberflächen. Alles ist funktional, sauber und beige, cremefarben oder orange. Das Klo, direkt neben der großen Hütte, ist ein weiß schimmerndes Wunder aus Porzellan. Die Hütte selbst hat drei Schlafzimmer und eine große Veranda mit einem neuen, verzinkten Dach. Es gibt eine geräumige Küche und einen Vorratsraum, der nicht nach Mäusen riecht.
Die Hütte des Deckies nebenan ist ebenfalls gut ausgestattet, aber ein Chaos. Ein Surfboard lehnt an der Wand, und in der Ecke stapelt sich alles Mögliche an Ausrüstung. Es gibt ein Etagenbett, aber nur auf dem unteren liegt eine Matratze.
»Wir hatten immer zwei Deckies auf dem Boot, aber einer ist gegangen, weil Roper so ein Arschloch ist.«
Es gibt noch einen hinten an die große Hütte gebauten Schuppen mit einem Poolbillardtisch und einer Theke aus Paletten. Über der Theke hängen gerahmte Fotos von Booten, von Franks Sherri Blue und Ropers Waygood.
Ein weiteres Foto lehnt an einem Fass. »Das habe ich Frank zum Geburtstag geschenkt.«
Sie sehen es sich an: vier Männer auf einem Steg.
»Das ist mein Frank, der in der Mitte.«
Frank guckt mürrisch drein. Er ist in seinen Fünfzigern, das dunkle Haar wird grau.
»Er ist alt.«
Silvia lacht. »Die Alten sind dankbarer.« Sie zeigt auf den Mann neben Frank. »Das ist Roper.« Ende zwanzig, kurze Beine, fülliger Bauch, aufgepumpte Arme. Roper hält seine Kappe in der Hand, er ist rot im Gesicht, verschwitzt, hat eine Stirnglatze und schütteres, helles Haar. »Das hässliche Entlein.«
Sie deutet auf die beiden Männer neben Vater und Sohn: »Die beiden Deckies.« Der auf der einen Seite ist ein junger Typ, gut gebaut und sonnenverbrannt. »Cherry, der ist noch hier.« Der andere ist sehnig und älter. »Dutch hat das Weite gesucht.«
Gil fällt auf, dass Frank einen Arm um Dutch gelegt hat, nicht um Roper.
»War ein super Arbeiter, Dutch. Jahrelang bei uns. Familie. Bis Roper ihn zusammengetreten hat.« Silvia wirft einen lauernden Blick auf Gil. »Hat deine Mum je von Dutch erzählt?«
»Nein.«
»Weißt du, dass sie ein Paar waren?«
Gil kann es sich nicht vorstellen, Mum mit dem sehnigen alten Kerl. Er sagt nichts.
Silvia lächelt. »Magst du Auberginen?«
»Ich weiß nicht.«
Silvia läuft in der Küche herum. Ihre nackten Füße klatschen auf das Linoleum, während sie mit dem Radio mitsingt, auf Italienisch. Sie hält ein Gemüse in die Höhe. »Eine Aubergine.«
»Nein.«
»Du bist neun.« Sie sagt es wie eine Anklage. »Die Aubergine kommt mit auf die Pizza.«
Die Pizza ist gut. Gil nimmt die Auberginenscheiben herunter. Anschließend holt Silvia eine Packung Eiscreme hervor. Sie schneidet eine dicke Scheibe ab und gibt sie in ein Glas, dazu einen Löffelbiskuit. Das Glas schiebt sie zu Gil hin.
Sie leckt sich die Finger ab. »Danach zeige ich dir die Grotte.«
»Was ist eine Grotte?«
»Eine geschmückte Höhle, sehr spirituell.« Silvia nimmt einen Löffel und isst ihr Eis direkt aus der Packung. »Frank hat sie gebaut.«
Gil verrührt sein Eis zu einer schmelzenden Pampe.
»Die Grotte ist meine Zuflucht«, fährt sie fort. »Weißt du, was eine Zuflucht ist?«
Gil versucht sein Eis durch den Biskuit zu saugen.
Silvias Grotte geht aufs Meer hinaus. Vielleicht war es mal ein Klo. Jetzt ist es etwas ganz anderes. Eine hässliche Konstruktion aus gegossenem Beton mit Muscheln und Steinen in Wellenmustern.
Der Eingang ist niedrig und rund. So klein Silvia ist, sie muss sich hineinducken. Sie schiebt einen Vorhang zur Seite und könnte auch eine Wahrsagerin sein. »Tritt ein.«
Gils Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. In Wände und Decke sind Glas- und Keramikscherben eingesetzt. Es gibt Nischen mit Kerzen in Marmeladengläsern.
Eine kurze Bank reicht für sie beide, allerdings sitzen sie näher zusammen, als Gil lieb ist. Silvia riecht nach Rauch, Schweiß und Waschpulver. Gil hat keine Ahnung, wie er selbst riecht, wahrscheinlich nach feuchter Unterhose, Mäusen und Motoröl, so wie Joss’ Hütte.
Sie blicken durch den niedrigen Bogen aufs Meer hinaus, das wie ein helles, gerahmtes Bild wirkt.
»Du solltest dir auch einen Ort suchen«, murmelt Silvia, »wo du wirklich allein sein kannst auf dieser Insel.«
»Ich bin allein, wenn er beim Fischen ist.«
»Da wäre ich nicht so sicher.«
Ihr Ton sagt Gil, dass da jetzt irgendein kranker Scheiß kommt.
»Einer der Fischer ist ihr mal gefolgt.«
Gil konzentriert sich auf das blaue Meer.
»Es war direkt nach Tagesanbruch, keine Menschenseele zu sehen, als Little May aus dem Lumpenbaum aufstieg und über dem Gestrüpp dahinschwebte.«
Eine Möwe fliegt durchs Bild.
»Er hatte eine Scheißangst, ist ihr aber trotzdem gefolgt.« Silvia sagt das mit einem verschmitzten Lächeln in der Stimme. »Aber du glaubst ja nicht an Geister und Untote, was ganz gut ist.«
»Warum?«
»Weißt du, wo sie hin ist?«
Gil hält den Blick aufs Meer gerichtet, aber er spürt, dass Silvia ihn ansieht.
»Sie ist direkt rüber zu deinem Granddaddy.«