KAPITEL 9

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Mayken und Imke liegen in ihren Kojen. Mayken oben, Imke unten. Das Schiff hebt und senkt sich. Die an der Decke hängende Laterne pendelt hin und her. Sie leuchtet für Imke, die im Dunkeln nicht schlafen kann.

Mayken sieht über den Rand ihrer Koje. »Du bist traurig, Imke.«

»Ja, Mayken, und du auch.«

»Nur ein bisschen. Warum bist du traurig?«

»Weil ich eine kranke, alte Frau bin. Warum bist du traurig?«

Mayken überlegt. Weil sie gerne zurück in die Unterwelt gehen und Smoert, den Küchenjungen, und den Metzger-Prinzen Aris wiedersehen würde. John Pinten würde sie auch wieder besuchen und ihn fragen, was sich im Laderaum herumbewegt. Obwohl eine Hälfte von ihr es gar nicht wissen will.

»Weil ich Haarlem vermisse.«

»Wer würde das nicht?«

»Spielen wir Wie du deine Finger verloren hast?«, fragt Mayken.

»Müssen wir?«

»Du hast im Wald gespielt und bist einem hungrigen Holzfäller mit einer scharfen Axt begegnet.«

Imke lacht. »Nein, nicht mal nah dran – und es wäre wohl auch kein Festmahl gewesen!«

Mayken lächelt vergnügt. »Aber ein Bein hätte er genommen!«

Imke streckt ein Bein über den Kojenrand und lässt es wabbeln. »Da wäre schon mehr dran gewesen.«

»Spielen wir ein anderes Spiel: Was wird das Beste daran sein, in Batavia zu leben?«

»Dass ich von diesem verflixten Schiff runterkomme.«

»Denk nach, Imke. Batavia.«

Imke denkt nach. »Ich kann auf meinem Hintern in der Sonne sitzen und Feigen essen.«

»Die Sonne lässt kleine holländische Kinder schmelzen.«

»Du bist ein Grauen. Jetzt lass mich schlafen!«

Mayken streckt sich auf ihrer Koje aus und denkt über ihren nächsten Logbucheintrag nach.

Zwanzig Tage auf See. Ich weiß nicht, wo wir sind. Ich nähe zusammen mit Frau Prädikant und Judick Hosen für arme Schiffsjungen. Die Damen sind entsetzt, dass junge Mannschaftsmitglieder in Lumpen gekleidet sind. Aber die Hose, die ich nähe, ist für mich. Ich habe mir auch einen Kittel gemacht. Wenn ich noch mal zurück in die Unterwelt gehe, werde ich keinen Mehlsack tragen.

Mayken lauscht den nächtlichen Geräuschen des Schiffes. Am nächsten: die schnarchende Imke. Weiter weg: ein Festmahl in der Großen Kabine, gedämpftes Grölen und Schreien. Es ist der Skipper-Abend. Dazu das rhythmische Knarzen des Schiffes. Es ist eine klare, leicht zu durchsegelnde Nacht. Das Schiff wiegt alle in seinem runden, hölzernen Bauch.

Ein leises Klopfen an der Kabinentür.

Mayken gleitet aus ihrer Koje, Imke schläft weiter.

Aus dem dunklen Gang tönt Pelgroms Stimme mit einem unterdrückten Kichern. »Etwas Luft schnappen mit mir, Jongedame?«

Sie sitzen in einer dunklen Ecke des Achterdecks unter einer Plane, die die begüterten Passagiere tagsüber vor der Sonne schützt. Mayken wünschte, sie säßen unter offenem Himmel, wo sie die Sterne sehen könnte. Die große Hecklaterne leuchtet und wirft einen schimmernden Weg über das frisch geschrubbte Deck.

Pelgrom stupst sie an und hält ihr einen Krug hin. Sie kann in der Düsternis sein Gesicht nicht erkennen, aber sein Atem sagt ihr, dass er betrunken ist.

Er flüstert: »Wein, vom Tisch des Skippers.«

Sie hebt den schweren Krug an die Lippen. Das Zeug schmeckt ekelhaft.

Pelgrom nimmt den Krug zurück. »Willst du wissen, was sie heute Abend in der Großen Kabine gegessen haben?«

Das will Mayken immer.

»Drei Ferkel. Schöne Möhren. Gefüllte Fische. Marmorierte Hühnereier.«

»Wie viele sind betrunken umgefallen?«

»Ein Nachwuchs-Kadett, mit dem Gesicht in die Suppe. Aber der Abend ist noch jung.«

Pelgrom hebt den Krug. Mayken erkennt die Bewegung im Dunkeln.

»Wo sind wir jetzt auf dem Meer?«

»Willst du mir sagen, das weißt du nicht?«

Mayken kann das Lächeln in seiner Stimme hören.

»Wir sind sieben Monate von Batavia entfernt, Jongedame, und in sieben Monaten kann viel passieren. Menschen können geboren werden, Menschen können sterben. Wir werden alle verrückt werden, und uns fallen die Zähne aus.«

Mayken zieht die Lippen über die Zähne, versteckt sie im Dunkeln.

Pelgrom hebt erneut den Krug. »Du wolltest was über den Laderaum wissen, weißt du noch?«

Mayken denkt an John Pintens Worte. Sie stellen ihr immer noch die Haare im Nacken auf und fahren ihr in den Magen. »Was bewegt sich im Laderaum?«

»Ich bin hier, um dir die Antwort zu geben …«

Mayken wartet.

»Zwiebackkäfer, Wasserfasswürmer und Tausende Ratten. Die wachen im Laderaum.«

»Wenn du es nicht sagen willst …«

»Also gut!« Pelgrom senkt die Stimme. »Aus glaubwürdiger Quelle weiß ich, dass wir einen blinden Passagier an Bord haben. Einen unnatürlichen blinden Passagier.«

Maykens Augen werden groß.

»Ein Ungeheuer, das der Länge nach auf dem Kiel liegt, die Feuchtigkeit dort aufleckt und die dicke, schwarze Luft atmet.«

»Hast du es gesehen?« Ihre Frage ist ein Flüstern.

»Der Laderaum ist tief, und ich würde niemals da unten herumstöbern, auch für viel Geld nicht.«

Mayken überlegt einen Moment. »Wer hat dir von dem blinden Passagier erzählt?«

Pelgrom nimmt einen Schluck Wein, mit einem leisen Schlürfen. »Ein Seemann, ehrlich und wahrhaftig.«

»Wie heißt er?«

»Du würdest ihm nur auf die Pelle rücken.«

Mayken beißt sich auf die Lippe.

»Ich erzähle dir, was er mir erzählt hat. Aber ich warne dich«, sagt Pelgrom. »Das ist nichts für Kinder.«

»Trotzdem will ich es hören.«

»Das denke ich mir.«

Da war einmal dieses Dorf, ein holländisches Dorf wie jedes andere, nur mit weniger Glück. Das Gemüse gedieh nicht, die Tiere kränkelten, und die Leute waren hässlich. Dazu kamen ein schrecklicher Sommer und ein noch schlimmerer Herbst, nass und stürmisch, mit Überschwemmungen und einer verdorbenen Ernte. Die Dorfbewohner mussten das Land trocknen, waren aber sehr arm. Ihnen fehlte das Geld für Windmühlen oder das nötige Holz, um die Ufer zu sichern. Sie hatten auch keine Schafe zum Grasen, die die Erde mit ihren goldenen Füßen festtraten und mit ihrem Dung versetzten, damit das Gras gedieh und das Land festigte und nicht alles im Schlamm versinken ließ.

Und es regnete und regnete, das Wasser stieg immer weiter, und die Angst der Dorfbewohner wuchs.

Dann kam ein Fremder ins Dorf.

»Wie sah er aus?«

»Ein sehr alter Mann mit einem Bündel auf dem Rücken. Gebeugt ging er, wie ein Baum im Sturm.«

»Was war in dem Bündel?«

»Hab Geduld, ja?«

Die Dorfbewohner versammelten sich um den Fremden, kamen doch nur selten Besucher.

»Wir haben kein Essen für dich, alter Vater«, riefen sie. »Das Land ertrinkt, und unsere Ernte ist verloren. Unsere Babys sind hungrig, und wir müssen unsere Tiere schlachten, selbst Katzen und Hunde …«

»Genau wie in Haarlem während einer Belagerung vor langer Zeit! Auf dem Schild in der Kirche steht: ›Hunde und Katzen wurden zu gejagtem Wild …‹«

»Soll ich die Geschichte nun erzählen?«

»Ihr steckt in der Scheiße«, sagte der alte Mann. »Zum Glück kann ich den Regen aufwärts fallen lassen.«

»Dann helfe uns, gütiger Fremder!«

Er überlegte. »Ich werde eure Ernte und euer Land retten, aber dafür will ich etwas.«

Den Dorfbewohnern blieb kaum eine Wahl. »Was?«

»Das nächste im Dorf geborene Kind gehört mir. Ich bin zu alt, um ewig weiter durch die Welt zu wandern. Ich brauche einen Lehrling.«

Die Dorfbewohner stimmten dem bereitwillig zu. »Lijsbets Baby muss jeden Tag kommen. Das kannst du haben.«

Lijsbet wusste nichts davon. Sie war zu Hause und hatte die Füße hochgelegt.

Der alte Mann öffnete sein Bündel. »Drei Nächte wird es dauern, euer Land zu trocknen. Bei Einbruch der Dunkelheit müsst ihr alle in eure Häuser gehen, an allen drei Abenden, müsst eure Türen und Fensterläden verschließen. Ihr dürft nicht hinaussehen, auch nicht kurz mal durch einen Spalt oder ein Schlüsselloch. Bis zum Morgen.«

Die Dorfbewohner willigten ein.

Als der erste Abend kam, gingen alle nach Hause, verschlossen Türen und Fenster und sahen nicht hinaus, auch nicht mal kurz durch einen Spalt oder ein Schüsselloch. Bis zum Morgen.

Dann stellten sie zwei Dinge fest: Das Land war trockener, und Lijsbets Baby war geboren.

Auch am zweiten Abend taten sie beim Dunkelwerden, wie ihnen geheißen. Tags darauf war das Land noch trockener. Alle waren begeistert, nur Lijsbet nicht, als ihr gesagt wurde, ihr Baby sei der Preis für die Hilfe des alten Mannes.

Auch am dritten Abend gingen die Dorfbewohner bei Einbruch der Dunkelheit in ihre Häuser und verschlossen Türen und Fenster. Alle bis auf Lijsbet, die entschlossen war zu sehen, was für ein alter Mann das war, der einer Mutter ihr Kind nehmen wollte.

Sie versteckte sich in einem Apfelfass, aus dem sie einen guten Blick hatte. Schon kam der alte Mann mit einem Glas, einer Laterne und einem robusten Stock. Er entzündete die Laterne und stellt sie neben dem verkorkten Glas auf die Erde. Er öffnete das Glas und klopfte mit dem Stock dagegen.

Heraus schnellte ein fürchterliches Wesen. Mit gezacktem Rücken und gleißenden Augen. Es krümmte sich auf der Erde und zischte. Es sah aus wie ein Aal, nur siebenmal länger und fünfmal dicker. Der alte Mann schlug das Wesen mit dem Stock, und es erschauderte. Der alte Mann schlug es noch einmal, und das Wesen bohrte seinen Kopf in die Erde. Als der Mann es ein weiteres Mal schlug, war ein Schlürfen zu hören.

Das Wesen wurde größer und größer, saugte alles Wasser aus dem durchtränkten Land und war am Ende groß wie ein Berg. Da fuhr der alte Mann mit seinem Stock durch die Luft und rief: »Spuck es aus!«

Das riesige, aufgedunsene Wesen bäumte sich auf und zischte.

Der alte Mann schwang wütend den Stock und rief: »Spuck es aus, habe ich gesagt!«

Da öffnete das Wesen sein Maul, und das ganze Wasser, das es aus dem Land gesaugt hatte, strömte hoch in den Himmel, höher als die Wolken, höher noch als der Mond. Und plötzlich war das Wesen wieder klein wie ein Aal, aber siebenmal länger und fünfmal dicker.

Lijsbet sprang aus ihrem Apfelfass, nahm den Stock des alten Mannes, der auf der Erde lag, und schlug ihn damit zur Strafe für seine dunkle Magie und die Misshandlung unschuldiger Aalkreaturen.

»Lass mich!«, rief er. »Lass die Bestie nicht entkommen!«

Aber es war zu spät. Das Wesen war bereits verschwunden.

»Du Närrin!«, sagte der alte Mann zu Lijsbet. »Du hast ein fürchterliches Ungeheuer in die Welt gehetzt.«

Lijsbet drohte dem alten Mann mit dem Stock. »Verschwinde aus dem Dorf, oder ich ramme dir diesen Stock in dein Loch.«

Der alte Mann hüpfte davon. »Mit Freuden. Das Ungeheuer ist noch ein Baby, und ich würde nicht hier sein wollen, wenn es ausgewachsen ist und zurückgeschlängelt kommt.«

Mayken blickt ernst in die Dunkelheit. »Lijsbet hätte dieses Aal-Viech mit dem Stock verfolgen sollen.«

»Nun, das hat sie nicht.«

»Schon gut. Erzähl weiter.«

Als die Dorfbewohner am Morgen aus ihren Häusern kamen, war das Land ganz trocken. Der alte Mann war weg, und Lijsbet hatte ihr Baby noch. Sie erzählte niemandem davon, was sie gesehen und dass der alte Mann sie gewarnt hatte. Aber in den nachfolgenden Tagen wuchs ein Schatten, wo immer Wasser zu finden war …«

»In einem Krug, einer Pfütze, einer Träne«, sagte Mayken, weil sie nicht anders konnte.

»Soll ich weitererzählen?«

Einer nach dem anderen fanden die jüngsten Dorfbewohner ihr Ende. Erst die Babys. Sie wurden leblos in ihren Wiegen gefunden, nur mehr winzige vertrocknete Häute, als wäre alle Feuchtigkeit aus ihnen herausgesaugt worden.

Dann die Kinder, die auf verschiedene tragische Weisen ertranken …«

»Ich will die verschiedenen Weisen!«

»Also gut.«

Ein kleines Mädchen wurde kopfüber in einem Eimer gefunden, den Bauch voller Wasser und die Augen aus den Höhlen gesaugt. Ein kleiner Junge lag ertrunken in einer Pfütze, er war voller Fischschleim, und das Gesicht war ihm weggefressen worden. Einige andere wurden erwürgt bei einem Pferdetrog gefunden, den Mund voller Fischläuse. Und immer hat man eine aalartige Kreatur davongleiten sehen.

Lijsbet erzählte den Dorfältesten, was sie wusste.

Die Ältesten sagten, sie würden mit den weisen Ältesten von anderswo darüber reden.

Es kam eine Antwort.

Das Aalwesen war ein uraltes Ungeheuer und der Feind aller Menschen. Es hieß Bullebak.

»Es hieß Bullebak? Wie der Bullebak, der Kinderschreck, der allen Angst und Ärger macht?«

»Genau so.«

»Nun, warum auch nicht«, sagt Mayken. »Erzähl weiter.«

Bullebak war eine schlaue Kreatur. Er hatte die Form eines Aals, konnte seine Gestalt aber verändern, wie das Wasser, in dem er lebte. Kinder ertränkte und fraß er gerne, Erwachsenen verpasste er tödliche Bisse oder spielte ihnen böse Streiche und nahm ihnen den Verstand. Durch die Nasenlöcher oder die Ohren bohrte er sich in sie hinein und drehte sich in ihrem Schädel, bis ihre Gehirne Matsch waren. Natürlich war der Mensch dann nicht mehr er selbst, und aus seinen Augen sah Bullebak hinaus. Aber bevor er gefangen werden konnte, war er wieder verschwunden und lauerte in seinem Versteck auf das nächste Opfer.

Lijsbet gelobte, ihr Leben der Jagd auf Bullebak zu widmen. Und als ihr Junge größer wurde, half er ihr. Mutter und Sohn verfolgten Bullebak unermüdlich durch Kanäle, Flüsse und …

»Aber sie haben ihn nicht erwischt?«

»Nein. Eines Tages fand man Lijsbet tot in einem Sessel beim Feuer, und das Hirn troff ihr aus den Ohren.«

»Bullebak hat sie am Ende doch gekriegt!«

»Ihr Sohn hat geschworen, den Tod seiner Mutter zu rächen und das Ungeheuer über alle Meere in allen Ländern dieser Welt zu jagen.«

»Hat Bullebak ihn auch gekriegt?«

»Nein, er jagt ihn immer noch.«

»Gut für ihn.«

»Und so liegt Bullebak«, sagt Pelgrom, »bis zum heutigen Tag auf der Lauer nach den Unachtsamen.«

Er kneift Mayken ins Bein. Sie schreit auf. Lachend legt er ihr die Hand auf den Mund. Sie beißt ihm in die Finger. Pelgrom lässt sie los.

Wie ein Gewitter braut sich eine Frage in Mayken zusammen. »Du sagst also, dass es Bullebak ist, der unten im Lagerraum umgeht?«

»Mehr oder weniger.«

»Das glaube ich dir nicht. Du hast die Geschichte erfunden und von keinem Seemann gehört. Den fremden Alten hat es nie gegeben, und auch Lijsbet nicht.«

Pelgroms Stimme ist ernst. »Glaube, was du willst, Jongedame. Ich schwöre bei Gott, es ist die Wahrheit, wie ich sie gehört habe.«

Mayken flüstert: »Warum ist Bullebak als blinder Passagier auf dieses Schiff gekommen?«

»Es ist das beste Schiff, das jemals gebaut wurde! Mit der saftigsten Ladung, zahllosen Leuten, an denen er sich gütlich tun kann – und es bringt ihn zügig in ein neues Land.«

»Wie ist er überhaupt an Bord gelangt?«

»In einem Krug, einer Pfütze, einer Träne.«