KAPITEL 14

1989

Die Fischer sind vor einer Stunde los. Kaum richtig wach, sind sie den Steg hinuntergetrottet, haben ihre Boote beladen, die Motoren angelassen und sind hinaus ins schöne, helle Morgengrauen gefahren. Jetzt sind auf der Insel nur noch das Meer, die Vögel und die Steine unter den Füßen zu hören.

Joss Hurley und Dutch sind noch vor den anderen aufgebrochen. So ist Joss. Als Erster hinaus, als Letzter zurück. Kein großes Gerede, ich brauche nichts und niemanden. Bis auf Dutch jetzt. Gil ist mit ihnen zum Anleger, hat die Kühlbox mit dem Proviant für den Tag getragen, für den Dutch gesorgt hat. Dutch hat auch für Gil was gemacht, es steht im Kühlschrank, mit Tellern abgedeckt. Und Dutch hat die Küche gefegt, das Geschirr gespült, Wäsche gewaschen und aufgehängt: die Unterhemden von Joss, seine eigenen Hemden, Gils Shorts. Die Sachen werden den Tag über gemeinsam an der Wäscheleine tanzen wie beste Freunde.

Gil geht langsam zurück zum Camp. Heute sieht das Meer ruhig aus, aber hinter dem Riff liegen raue Gewässer. Er kann nicht an das Boot seines Großvaters da draußen denken, ohne sich an die erschreckende Stille zu erinnern, das Aussetzen des Motors, das Blut in der Plastiktüte um die Hand des alten Mannes und wie Wind und Wellen gegen das wild schwankende Boot anbrandeten.

Gil sieht die langen Stunden des Tages vor sich liegen. Enkidu hilft. Da gibt es das Schildkrötenfrühstück, Enkidus Morgenübungen und dann das Zirkustraining. Das alles braucht seine Zeit, weil Enkidu in keiner Weise folgsam ist und sich auch nicht wie ein Hund bestechen lässt. Und für gewöhnlich haben sie noch ihr spezielles Projekt des Tages. Gestern war es der Bau einer Todesburg unten am Strand, eines rauen Ortes mit abgerissenen Krabbengliedmaßen und einem Burggraben mit zerklüftetem Korallenschrapnell. Enkidu hat am Ende mitgekämpft, die Befestigungen erstürmt und keine Gefangenen gemacht.

Das heutige spezielle Projekt wird sein, durch die Sachen von Dutch zu stöbern, ohne besonderen Grund, wenigstens ohne einen, den Gil sich eingesteht.

Dutch wohnt in der baufälligen Hütte im Windschatten des Generatorschuppens. Auf der Insel werden die Unterkünfte für Deckies, die in aller Regel gerade Platz für eine Person bieten, »Liebeshütten« genannt. Dutchs Hütte ist auch nicht annähernd so gut wie die, die er bei Frank Zanetti hatte. Sie hat ein schiefes Wellblechdach und zwei Fenster in komischer Höhe, das eine zu niedrig, das andere zu hoch, um hinauszusehen. Dutch hat die größten Lecks abgedichtet und den alten metallenen Bettrahmen repariert. Gil hat dabei geholfen, mit einem Tacker Vorhänge aufzuhängen. Als Joss hereinsah, um die Reparaturen zu begutachten, hat er genickt, die Vorhänge aber eher argwöhnisch beäugt.

Es ist ein Raum mit einem bei der Tür abgeteilten Bereich, den Dutch seine Kombüse nennt. Es gibt einen Picknicktisch, einen tragbaren Herd und ein bisschen Plastikgeschirr. Auf dem Boden steht eine gelbe Kühlbox, auf dem Regal darüber eine Reihe Dosentomaten. Im Schlafbereich liegen Dutchs Sachen ordentlich gefaltet auf einem Stuhl, an der Wand lehnen ein Surfbrett und eine Gitarre.

Gil geht auf die Knie und guckt unters Bett – bingo! Er zieht eine alte Aktentasche mit einer Schnur drumrum heraus.

Wahrscheinlich sind Drogen in kleinen Plastiktütchen drin, Körperteile, frische Geldbündel mit Banderolen oder eine Pistole. Oder alles zusammen. Gil kennt das aus den Spätvorstellungen, die er sich mit Mum immer angesehen hat.

Das Schloss ist kaputt, genau wie der Schnappverschluss. Gil macht die Schnur los. Mit einem Zug am losen Ende lösen sich die Knoten in einem Rutsch, und Gil begreift zu spät, dass es wohl Seemannsknoten waren. Damit wird Dutch wissen, dass jemand in seinen Sachen herumgeschnüffelt hat, was heißt, dass er wissen wird, dass er darin herumgeschnüffelt hat. Wer sonst? Der alte Mann?

Gil zögert, macht die Aktentasche dann aber doch auf.

Lose Papiere, ein kaputtes Taschenmesser und ein abgegriffener irischer Pass für Patrick John Roche. Das verblichene Foto zeigt einen ausdruckslosen Dutch mit einem Bart. In einer Seitentasche steckt ein Buch. Die Seiten sind vergilbt, der Rücken schief. Vorn auf dem Umschlag ist das Bild eines alten steinernen Pferdes. Das Gilgamesch-Epos.

Gil stellt fest, dass er mehr über seinen Namensvetter und auch Enkidu erfahren will.

Er öffnet das Buch, und ihm stockt das Herz: Das ist Mums Handschrift. Das sind ihre großen, glücklich geschwungenen Buchstaben.

Dem epischen Dutch.

Zu deinem Geburtstag.

In ewiger Liebe,

Dawn

Das Meeresglitzern spielt an der Decke, durch die offenen Fenster weht eine Brise herein, und Gil beginnt zu lesen.

Er versteht die Geschichte nicht, überblättert Seiten. Der Rat einer Göttin, die eine Kuh sein könnte. Lange Märsche. Ein Einsiedler in einem Baum. Der Verlust Enkidus ist nur schwer zu ertragen.

Vorsichtig steckt er das Buch zurück in die Seitentasche, sonst kriegt er es mit Dutch zu tun. Mit sanfter Stimme wird er Gil fragen, ob er mit ihm über seine Mum reden möchte.

Nicht, nachdem er dieses verdammte Buch gesehen hat, ganz sicher nicht.

In ewiger Liebe.

Ohne Küsse. Was heißt, es war eine ernste Sache. Wahrscheinlich hat Mum es mit Dutch gemacht. Dem sehnigen alten Dutch.

Gil fühlt sich komisch. Er wird nicht wieder in Dutchs Sachen herumschnüffeln. Nur noch einmal gründlich in alle Ecken der Aktentasche sehen.

Der braune Umschlag steckt in einem anderen Fach. Gil triumphiert. Er hat die Drogen und das Geld gefunden. Er schüttelt den Inhalt heraus, ein paar blaue Babyschühchen. Gil steckt seine Finger hinein, sie sind für winzigste Füßchen gestrickt, und er wandert damit quer übers Bett und zurück in den Umschlag.

Der Wind wird stärker und bläst durch die offenen Fenster. Meeresvögel schreien und streiten. Gil liegt auf Dutchs Bett, die Aktentasche auf dem Boden darunter, mit der Schnur umwickelt und einem verräterischen Knoten verschnürt. Auf einer umgedrehten Kiste, in Reichweite, liegen ein Tabakbeutel und ein Stein. Gil nimmt den Stein. Vollkommen, rund, mit einem Loch genau in der Mitte. Glatt und kühl liegt er schmeichelnd in der Hand. Ein besonderer Stein, wahrscheinlich magisch. Gil hebt ihn ans Auge und sieht zur Decke, doch da ist nur das tanzende Licht vom Meer.