KAPITEL 16
1989
Mum hat Gil schon früh erklärt, wie wichtig Nachbarn sind. Ob du in einem Motel, einem Auto oder einem gemieteten Haus wohnst, wenn es Leute in der Nähe gibt, sind es deine Nachbarn. Und aller Wahrscheinlichkeit nach haben sie etwas, das du brauchst. Sei nur vorsichtig, wem du nachbarschaftlich begegnest. Meide Leute, die aus Dosen essen, Leute, die sich lautstark mit Gott unterhalten, und auch arme Seelen mit vielen Katzen. Mums mit kleinen Kindern haben zu viel zu tun. Alleinstehende Männer scheiden als Sonderlinge aus. Alte Leute sind ideal, ein altes Paar das Allerbeste. Aber du brauchst einen Türöffner. Sich etwas auszuleihen, ist eine gute Möglichkeit, um das Terrain zu erkunden. Mach es einfach: eine Tasse Zucker, einen Hammer. Und bald schon decken deine Nachbarn einen Platz am Tisch für dich mit ein. Nimm nur Mrs Baxter. Sie hat damit angefangen, die richtigen Würstchen für Gils Frühstück zu kaufen, und ihm am Ende ein Zuhause angeboten.
Auf einer Insel, die so klein wie die hier ist, denkt Gil, sind alle deine Nachbarn.
Und Gil hat eine ganz besondere Bitte im Sinn.
Er fühlt in der Tasche nach der Tabakdose mit der Elfenbein-Bobine. Wenn Birgit sich sträubt, ihm zu geben, was er braucht, vielleicht könnte sie dann einen nachbarschaftlichen Tausch in Erwägung ziehen? Er richtet Dutchs Fernglas auf die Hütte der Wissenschaftler und wartet.
Birgit tritt in einem Männerhemd und mit offenem Haar hinaus in den Morgen. Sie ist ein Filmstar. Gil richtet den Blick auf die Zigarette in ihrer Hand. Sie raucht schicke Continentals mit Filter, die auf eine Weise elegant sind, wie es Selbstgedrehte niemals sein können. Eine von Birgits Continentals zu ergattern, das ist das Ziel, als Gil zu ihr geht. Er will die grüne Brokatjacke und die Perlenohrringe tragen und sich rauchend im Spiegel von Granny Iris’ Frisiertisch betrachten. Dann kann er verschiedene Posen einüben. Europäisch. Fürstlich. Herablassend.
Birgit raucht, elegant, fremdländisch, und blickt aufs Meer hinaus. Heute werden sie nicht tauchen gehen. Dann würde sie nicht so dastehen und rauchen. Würde nicht so in der Ausrüstung unter der Plane herumsuchen, in den Kisten mit den Fundstücken, die sie aus dem Meer geholt, gesäubert und fotografiert haben und die bereitstehen, um aufs Festland geschickt zu werden.
Gil steigt aus dem Gestrüpp und läuft zügig ums Camp herum. Beruhigt den Atem, geht vorbei und hebt eine Hand. Oh, Sie sind wach, Frau Nachbarin!
Birgit sieht ihn. »Magst du einen Kaffee, Gil?«
Birgit zieht sich eine Kakishorts an und knotet ihr Männerhemd vorne zusammen. Sie ist barfuß und hat lange braune Zehen. Sie dreht und hebt sich das Haar hoch auf den Kopf, steckt es mit einem Stift fest und ist bereit für den Laufsteg. Im Nebenraum schlafen die beiden Männer, und so halten sie ihre Stimmen gesenkt.
Birgit geht hinüber in den Küchenbereich: ein Herd, ein kleiner Kühlschrank, eine Spüle beim Regenwassertank. Sie entzündet den Herd und setzt den Wasserkessel auf, löffelt Kaffeepulver in zwei Tassen und mischt etwas Milchpulver darunter.
Gil sieht sich um. In der Ecke steht ein Feldbett mit Birgits Sandalen darunter. Die Hütte der Wissenschaftler ist einfach, ein paar Campingstühle und zwei Böcke mit einer Tischplatte darauf. Es gibt Metallregale, aufeinander gestapelte Kisten, Kameras und Instrumente, und in jeder Ecke steht eine Wanne mit Flüssigkeit, in der irgendetwas einweicht. An einer Wand hängt eine große Pinnwand mit Karten, Schaubildern und Skizzen.
Birgit stellt den Kaffee und eine Zuckerdose auf einen niedrigen Campingtisch, zieht zwei Stühle heran und zeigt Gil, welche Tasse seine ist. Sie holt ihre Continentals aus der Tasche und wirft sie auf den Tisch. Gil liebt alles an ihnen, das weiche Päckchen, das Design vorne und das goldene Emblem.
Gil beäugt sie und hebt seine Tasse.
Der Kaffee ist allerdings enttäuschend. Blass und milchig. Kinderkaffee. Was wahrscheinlich bedeutet, dass Birgit ihm auch keine Zigarette gibt, obwohl sie mit ihm wie mit einem Erwachsenen spricht. Er könnte fragen. Vielleicht dürfen Kinder in ihrem Land rauchen? In Frankreich lassen sie Kinder Wein trinken und Knoblauch essen.
»Aus welchem Land kommen Sie?«
»Aus Deutschland.«
Das hilft Gil nicht weiter. »Rauchen da Kinder?«
Birgit guckt ihn komisch an. »Nein.«
Gil studiert die Karte direkt neben sich an der Wand. Landflecken in einem großen, weiten Meer.
»Der Houtman-Abrolhos-Archipel.« Birgit nippt an ihrem Kaffee. »Abrolhos ist eine Verballhornung des portugiesischen Abre os olhos: Öffne deine Augen.«
Gil überlegt. »Ist der Name der Inseln eine Warnung, damit die Schiffe nicht auf die Riffe auflaufen und sinken?«
»Genau das ist der Batavia passiert.« Birgit beugt sich vor und schüttelt eine Zigarette aus dem Päckchen, eine weitere lugt hervor. »Kennst du die Geschichte der Batavia?«
»Nicht wirklich.« Nur, was Silvia von sich gegeben hat.
Birgit zündet sich ihre wundervolle Zigarette an und bläst den Rauch hoch in die Luft. »Ende 1628 ist die Batavia, ein Handelsschiff, in den Niederlanden aufgebrochen. Das Ziel: die Gewürzinseln, unser heutiges Indonesien. Sie war neu und mit mehr Schätzen beladen, als du es dir vorstellen kannst.«
»Silbermünzen.«
»Unter anderem. Verantwortlich war der Kaufmann Francisco Pelsaert, und der Skipper, der Kapitän, war Ariaen Jacobsz. Die beiden hassten einander. So sehr, dass Jacobsz und seine Gefolgsleute eine Meuterei gegen Pelsaert planten, als das Schiff auflief.«
»Und dann wurden alle getötet?«
»Nicht ganz. Als das Schiff auf dem Riff auseinanderzubrechen begann, wurden die Überlebenden auf festes Land evakuiert, und da auf den öden Inseln hier kein Wasser zu finden war, trafen Pelsaert und Jacobsz eine unmögliche Entscheidung. Sie brachen mit dem Beiboot des Schiffes nach Batavia auf, ihr eigentliches Ziel.«
»Und das war eine schlechte Idee?«
»Es war ein Risiko. Eine Fahrt über das offene Meer mit einem Boot, das kaum dafür ausgerüstet war. Aber wenn sie es schafften, konnten sie eine Rettungsaktion starten und zurückkommen. Sie nahmen an, die einzige Möglichkeit, die schiffbrüchige Mannschaft und die Passagiere zu retten, bestünde darin, sie hier zurückzulassen.«
»Die anderen sind also hiergeblieben?«
»Die, die nicht ertrunken waren. Zweihundert Überlebende mit begrenzten Vorräten auf den Inseln hier. Gar nicht zu reden von den siebzig Mann, die noch auf dem Wrack saßen.«
»Und dann wurden alle getötet?«
Birgit nimmt einen weiteren Zug. Die Zigarette riecht sogar kontinental, duftet geradezu, ganz anders als die Selbstgedrehten, die nach Stroh aus einem Pferdestall riechen. »Damit sind wir bei der Schlüsselfigur der Geschichte, Jeronimus Cornelisz, dem Unterkaufmann, der gleich nach Pelsaert und Jacobsz kam. Ein hinterhältiger, grausamer Kerl.«
»Jeronimus«, wiederholt Gil brav und lehnt sich in den Zigarettenrauch.
»Cornelisz hätte den Schiffbruch beinahe nicht überlebt. Da er zu feige war, ins Rettungsboot zu springen, blieb er auf dem verunglückten Schiff, und das Wetter wurde schlechter. Am Ende war er der Letzte, der es noch auf die Insel schaffte, halbtot und sich an den Bugspriet klammernd. Es war ein Wunder.«
»Ein übles Wunder, wenn er so hinterhältig und grausam war.«
»Ja, wenn Wunder denn übel sein können.« Birgit klopft Asche in den Aschenbecher. Gil verfolgt, wie sie Hand und Handgelenk dabei bewegt.
»Zuallererst«, fährt Birgit fort, »sammelte Cornelisz alle Waffen und geretteten Vorräte ein und ließ sie bewachen. Er scharte Männer um sich, die ihm aufs Wort folgten, käufliche Soldaten und eitle junge Kadetten, und ließ Flöße aus dem Holz zimmern, das vom Wrack angespült wurde. Dann verbannte er die Soldaten auf eine andere Insel.«
»Damit sie ihn nicht angriffen?«
»Genau. Er glaubte, sie würden hier vor die Hunde gehen. Er wusste nicht, dass es auf der anderen Insel Trinkwasser gab und auch Essen, was sie in die Lage versetzte, zu überleben und sich gegen ihn zu organisieren. Aber das ist eine andere Geschichte.«
»Können wir die auch mal hören?«
Birgit lächelt. »Sicher.«
»Was hat Jeronimus als Nächstes gemacht?«
»Er steckte in der Klemme. Wenn das Rettungsschiff kam, würde er für seinen Plan verhaftet werden, die Schätze der Batavia an sich zu bringen. Gerüchte über die Meuterei hatten sich bereits verbreitet. Wie hatten sie Pelsaert nicht zu Ohren gelangen können? Meuterei wurde mit dem Tode bestraft. Tatsächlich aber rechnete niemand auf dieser Insel damit, gerettet zu werden.«
»Aber die anderen sind Hilfe holen gefahren?«
»In einem Dreißig-Fuß-Boot mit wenig Vorräten, endlose Seemeilen weit. Es gab nur eine sehr kleine Chance, dass sie es schaffen würden. Die zurückgebliebenen Überlebenden müssen sich sehr allein gefühlt haben.«
Gil leert seine Tasse bis zur Hälfte, aber der Kaffee wird nicht stärker. Er hält inne, da er spürt, wie Birgit ihn betrachtet.
»Und dann wurden alle getötet?«
Mit einem Seufzer stellt Birgit ihre Tasse ab. »Cornelisz wusste, dass die Vorräte für so viele Leute nicht lange reichen würden. Er wollte sich und seine Männer am Leben erhalten, und wenn ein Rettungsschiff kam, wollten sie es entern, die Mannschaft töten und als Piraten weitermachen.«
»Cool.«
Birgit wirft Gil einen Blick zu.
»Ich meine, Piraten, die keinen töten, sind cool.«
»Nun, Cornelisz’ Bande tötete. Sie machten sich daran, die Zahl der Überlebenden zu reduzieren.«
»Damit sie mehr Essen, Trinken und Waffen für sich hatten.«
»Zunächst tat Cornelisz so, als ginge es um die Bestrafung für Verbrechen und Missverhalten. Dann verschwanden etliche Leute einfach. Am Ende …« Birgit bricht ab.
Gil überlegt. »Auch Kinder?«
Sie nickt. »Schiffsjungen, die nicht viel älter waren als du. Kinder von Mannschaft und Passagieren.«
»Wie wurden sie getötet?«
Birgit mustert Gil und zieht die Brauen zusammen. »Das ist schwer zu sagen. Wir haben nicht alle Überbleibsel gefunden, und es gibt nur sehr wenige Berichte.« Sie drückt ihre Zigarette aus. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es war, auf dieser Insel zurückgelassen zu werden, kannst du es?«
»Ja, das kann ich.«
Sie hören die anderen im Nebenzimmer aufwachen. Birgit sammelt sich und steckt die Zigaretten ein. Gil hat seine Chance verpasst, sich eine zu nehmen. Mick kommt mit nacktem Oberkörper herein und setzt Wasser auf.
Birgit zieht eine Kiste aus dem Regal und zeigt sie Gil. Auf einem Bett aus Watte liegt ein schmutziger Fetzen.
»Das hier ist sehr aufregend, es kommt unten vom Riff. Wir glauben, es ist ein in Korallen eingewachsenes Stück Spitze.«
Gil sieht zum Regal hinüber. »Gibt es auch Knochen?«
»Menschliche? Ja.« Birgit macht keinerlei Anstalten, sie ihm zu zeigen.
»Könnten es Little Mays sein?«
»Das ist nur eine Inselgeschichte, Gil.«
»Sie glauben nicht, dass sie wahr ist?«
»Fragst du eine Wissenschaftlerin, ob es Geister gibt?«
Eine Antwort wie milchiger Kaffee. »Heißt das nein?«
Birgit sieht zu Mick hinüber. Er kratzt sich unter der Achsel und guckt zur Decke. Sie senkt die Stimme: »Sagen wir so, diese Insel spielt unserer Vorstellung Streiche. Das Wetter, die Vögel, die Geschichte …«
Mick räuspert sich lautstark und steckt sich eine Selbstgedrehte zu seinem Kaffee an.
Birgit lächelt. »Ich sollte langsam anfangen zu arbeiten.«
Gil holt die Tabakdose aus der Tasche und hält sie ihr hin.
Sie nimmt sie mit einem Lächeln.
»Ich glaube, es ist eine Bobine«, sagt Gil. »Eine aus Elfenbein.«
Birgit sieht ihn überrascht an. »Glaubst du?« Sie inspiziert sie und dreht die Dose um. »Hast du die auf der Insel gefunden?«
»Oben im Camp.«
Mick rührt in seinem Kaffee und fährt dazwischen: »Joss Hurleys.«
Birgit verzieht das Gesicht, als wollte sie sagen: Klappe, ich weiß, wessen Camp das ist.
»Ist die von der Batavia?«
Sie dreht sich zurück zu Gil. »Könnte sein. Darf ich sie erst mal behalten, um zu sehen, ob ich mehr dazu herausbringen kann?«
Die Bobine bleibt in der Dose auf ihrem Handteller. Eingekuschelt. Gil nickt. Er will schon nach einer Zigarette fragen, ein Tausch unter Nachbarn, aber Birgit wirkt so glücklich, und der ganze Moment ist so schön.
Stattdessen fragt er: »Wird sie in ein Museum kommen?«
»Möglich. Würde dir das gefallen?«
»Ja.«
Birgit bringt ihn zur Tür. Sie berührt seinen Arm. »Komm und besuch mich wieder, Gil.«
Gils Hochstimmung macht auf dem Rückweg Enttäuschung Platz. Das war kein Tausch unter Nachbarn. Er hat die Bobine weggegeben und nichts dafür bekommen. Und jetzt wird Birgit das Camp des alten Mannes unter die Lupe nehmen und ihn wütend machen.
Soll sie doch.