KAPITEL 20
1989
Gil richtet Dutchs Fernglas auf das, was sich da am Anleger tut: Das Versorgungsschiff hat gerade festgemacht, und Mütter, Großmütter und Kinder gehen von Bord. Sie kommen mit großem Lärm und Gepäck schwatzend und zankend den Steg hinunter. Gil hasst sie sofort alle, besonders die Kinder. Er sieht nach Enkidu, den er in der Sporttasche dabeihat. Die Schildkröte scheint in Ordnung, angepisst, aber okay.
Ein kleines Kind fällt ins Wasser, es gibt Geschrei, und alle rennen den Steg hinunter. Hier werden ständig Kinder ertrinken, denkt Gil. Wahrscheinlich müssen sie im Camp angebunden werden, wie junge Hunde.
Die Fischer sind nicht da, um die Ankömmlinge zu begrüßen, aber die Seevögel. In der Luft herrscht ein wildes Gekreisel und Geschrei. Birgit sieht ebenfalls zu den Neuen hinüber. Mit cooler Sonnenbrille sitzt sie vor der Hütte der Wissenschaftler und raucht eine Continental. Die beiden Männer inspizieren ein aufblasbares Boot und breiten es auf der Erde aus.
Gil zieht den Reißverschluss der Sporttasche zu. Er reist mit leichtem Gepäck, das heißt nur mit Enkidu, etwas Geld, das er in einer Kaffeedose gefunden hat, der grünen Brokatjacke von Oma Iris und Mrs Baxters Adresse in Margaret River.
Aber jetzt ist da Silvia. Sie geht auf zwei Kinder zu, die beim Anleger warten. Ropers Kinder. Sie versucht, sie zu küssen. Der Größere lässt es über sich ergehen, aber der Kleinere windet sich weg.
Gil sinkt der Mut. Sein Plan, er ist unmöglich. Was hat er sich nur gedacht? Dass er einfach so den Anleger runterwandeln, aufs Versorgungsschiff steigen und der Insel zum Abschied zuwinken könnte? Hi, Silvia, ja, ich fahre wieder. Oh, hat Joss nichts gesagt?
Er fasst die Sporttasche fester und wartet. Wenn Silvia und ihre große Klappe weg sind, vielleicht kommt er dann noch schnell vorbei?
Silvia lässt sich Zeit und unterhält sich mit einer der Mums. Sie schleppt wieder mal mehr, als sie sollte, Vorräte und das Gepäck von Ropers Kindern. Der Größere steht schmollend neben ihr, der Kleinere schwirrt herum wie eine Mücke.
Schon macht der Maat die Leinen los. Gil schultert die Sporttasche und will rennen – er könnte es noch schaffen, den Anleger runter und mit einem Sprung aufs ablegende Schiff. Keine Zeit für Fragen. Eine Schiffsreise zurück aufs Festland. Hin zu Mrs Baxter und kein Fremder mehr sein.
Mrs Baxter besuchte ihn im Heim und brachte Gil einen Anzug und leihweise auch eine von Mr Baxters Krawatten für die Beerdigung. Sie setzten sich in den Besuchsraum.
Im Fernsehen lief ein Zeichentrickfilm. Mrs Baxter drehte den Ton runter, damit sie leise und ernst reden konnten. Über das, was passiert war und kommen würde, und dass es so das Beste sei und er immer zu ihr kommen könne.
Gil nippte an seinem Sprudel und stellte das Glas vorsichtig auf den Kaffeetisch.
Auf dem Tisch waren klebrige Ringe von anderen Gläsern. Einige überschnitten sich, einige nicht.
Gil sieht zu, wie das Versorgungsschiff außer Sicht fährt, und nimmt seine Tasche.
Er kann sich nicht dazu bringen, zurück zu Joss zu gehen, und so sucht er das Camp der Zanettis heim. Er findet einen schattigen Platz unter einem rostigen Außenborder und einem Rollwagen, schiebt die Sporttasche vor sich und legt sich daneben. Schmeckt den herbeiwehenden Steinstaub. Nach einer Weile kommen Ropers Kinder heraus. Sie sehen wie ihr Vater aus, stämmig, nach außen gedrehte Füße, fette Gesichter. Der Ältere wickelt sich in einen Sonnenschirm ein. Der Jüngere zieht sich die Badehose herunter und pinkelt, hockt sich dann hin und sieht zu, wie die Pisse im Boden versickert. Silvia kommt mit einer Strandtasche und zwei Keschern heraus. Sie legt dem Kleinen die Hand auf den Rücken und beugt sich zu ihm hinunter, um zu hören, was er sagt. Gil spürt Eifersucht in sich aufsteigen.
Sie bringt die beiden zum Küstenpfad, von da gehen sie allein weiter. Der Größere sticht mit der Stange seines Keschers in die Erde, der Kleinere schleppt die Strandtasche. Als sich der Kleinere umdreht, winkt Silvia ihm nach.
Silvia kommt heraus, um die Wäsche aufzuhängen, den Korb auf der Hüfte abgestützt. Als alles hängt, kommt sie an Gils Versteck vorbei und schwingt den Wäschekorb dabei hin und her.
»Spionierst du mir nach, Gil?«
»Nein.«
»Willst du eine Weile mit reinkommen?«
»Darf ich?
»Warum nicht? Ich bin allein. Magst du ein Eis?«
»Ja, und ein paar Blätter für Enkidu. Wo sind die Kinder hin?«
»Spielen, mit Mrs Nords Enkeln.«
»Bleiben sie hier?«
»Bis nach Ostern. Willst du uns die ganze Zeit über von hier aus beobachten?«
Gil guckt finster und kommt aus seinem Versteck hervorgekrochen.
Enkidu läuft durch die Küche, auf dem Rücken einen nassen Lappen, um ihn nach der Hitze in der Sporttasche wiederzubeleben. Gil sitzt am Tisch, isst sein Eis und dann ein Sandwich mit Fleisch, Käse und Tomaten.
»Es ist super, dass Mrs Nord sie nimmt«, sagt Silvia von der Spüle. »Sie hat mal in einem Heim für Schwererziehbare gearbeitet, da weiß sie, wie sie mit ihnen umgehen muss. Es sind echte kleine Scheißer.«
Gil zieht vorsichtig die Tomaten aus dem Sandwich und arrangiert sie ordentlich am Tellerrand.
»Der Kleine, Mikey, ist nicht so schlimm, solange er den Mund hält«, fährt Silvia fort. »Aber der Große, Paul, wird ein Arschloch wie sein Vater.«
Gil sagt nichts. Er sieht zu, wie Enkidu versucht, an einem Eimer voller tropfnasser Wäsche hochzuklettern. In der Ecke der Küche liegen drei Wäschehaufen. Unterhosen und Unterhemden, alles weiß. Daneben braunes Bettzeug. Und ein Haufen Cargo-Shorts. Enkidu arbeitet sich hindurch und verfängt sich in einem Büstenhalter.
Silvia lacht, wirft Gil einen Blick zu, ob er nicht mit einstimmt, und wird ernst. »Gil?«
Gil legt sein Sandwich ab und wischt sich über die Augen.
Sie gehen hinaus zur Grotte, weil Silvia da am besten nachdenken kann. Sie steckt ein paar Kerzen an, die Lippen konzentriert gespitzt, und setzt sich neben ihn.
»Warum willst du weg?«
»Ich gehöre nicht hierher.«
»Meinst du, das tut irgendwer von uns? Auf diesen Korallenhaufen mitten im Meer? Mit ein paar Hütten, Knochen und Stürmen? Es ist nicht für immer. Zum Ende der Saison bringt er dich zurück nach Gero.«
»Ich muss jetzt hin.«
»Wie? Niemand wird dich ohne Erlaubnis deines Großvaters von der Insel bringen.«
Gil spürt, wie sein Mut weiter sinkt, obwohl er das längst wusste.
»Komm schon, so schlimm ist er nicht. Schlägt er dich?«
»Nein.«
»Na, siehst du.«
Sie blicken beide aufs Meer hinaus.
»Es ist eben anders als die Zeit mit deiner Mum. Wart ihr nur zu zweit?«
»Ja.«
»Vermisst du sie?«
Gil kann nicht antworten.
»Ich habe was gefunden.« Silvia sucht auf dem unteren Regalbrett nach etwas. »Vielleicht solltest du es haben.«
Sie zieht ein Foto hervor und reicht es ihm. Gil nimmt es.
Mum. Vorm Camp der Fischer auf der Insel. Sie sieht sehr jung aus, dünn, mit einem kurzen Jungen-Haarschnitt, das Haar so rot wie seines. Er kennt seine Mum nur mit gefärbten Haaren – braun, schwarz –, rot war es nie. Sie steht zwischen zwei Männern. Sie sind sonnengebräunt, ohne Hemd, und haben beide einen Arm um sie gelegt. Links, das ist Dutch, hager, sehnig und wettergegerbt, selbst da schon. Vielleicht ist er ledrig auf die Welt gekommen. Den anderen Mann auf dem Foto kennt Gil nicht. Er hat dunkle Haare und riesige Koteletten. Dutch sieht Mum mit einer hungrigen Freude im Gesicht an, als könnte er sie fressen. Der andere Mann blickt in die Kamera. Mum blinzelt zum Himmel hinauf. Sie hat ihren Mund komisch verzogen, als sagte sie gerade etwas. Gil dreht das Foto um.
Ostern 1979. Dutch, Dawn Hurley, Bobby Knox.
Silvia fragt Gil nach seinem Geburtsdatum.
»Dann bist du mit auf dem Foto«, sagt sie mit einem Lächeln. »In ihrem Bauch, unter den abgeschnittenen Jeans.«
Je mehr er herumläuft, umso schlechter fühlt er sich. Trotz der Brise vom Meer scheint die Luft um ihn herum zu stehen. Dabei tropft es unablässig in seinem Kopf. Da hat sich so viel Druck aufgebaut, dass sein Geist leckgeschlagen ist. Der Druck der Dinge, die er wissen sollte, der Dinge, die er halb weiß, und der Dinge, die er ganz und gar nicht wissen will.
Überall sind Leute. Drücken sich am Steg herum, versammeln sich vor den Camps und wandern die Uferwege entlang. Gil hört die Stimmen spielender Kinder. Auf dem steinigen Stück Strand tapsen Kleine mit Schwimmringen und Gummireifen herum. Ältere fahren in kleinen Booten. Mums sitzen da und halten Handtücher bereit.
Die Insel ist zu klein für all diese Leute.
Gil nimmt einen ruhigeren Weg. Beim Leuchtfeuer setzt er die Tasche ab. Wenn er eine Selbstgedrehte hätte, würde er sie jetzt rauchen und mit verengten Augen in den Wind blicken, die Arme vor der Brust verschränkt, wie Silvia.
Er holt das Foto von Mum hervor. Es flattert im Wind. Er hält es in die Höhe, so hoch, wie sein Arm reicht. Höher. Er hält es nur noch an der untersten Ecke. Er könnte loslassen. Vielleicht flöge es ins Meer. Oder würde von einem der stacheligen Büsche aufgespießt. Ein Seeadler könnte herabstoßen und es in seinem Schnabel davontragen. Dann würden sich Mum, Dutch und der verdammte Bobby Knox in ein Nest aus Schnur, Geäst und Lametta verwoben wiederfinden.
Er weiß, dass er es nie loslassen könnte.
Da reißt ihm eine plötzliche Bö das Foto aus der Hand.
Gil rennt hinterher, stolpert, rennt, während es über die Steine wirbelt und tanzt.
Beim Wasser holt er es ein. Das Foto landet umgedreht auf einem nassen Stück Schiefer, und er hechtet darauf. Mit dem unteren Teil seines T-Shirts tupft er es trocken. Als er den Blick hebt, sieht er ein flaches Boot am Ende eines Stegs liegen.
Beide sehen alt und verlassen aus. Das Boot hat leichte Schlagseite, der Steg zerfällt. Gil, der Mutige, geht ihn hinunter und springt über die fehlenden Bohlen. Er sieht ins Boot. Überall sind Federn und Möwenscheiße. Gil zieht an der Leine, das Boot folgt ihm. Er bindet es näher an den Steg, stellt die Sporttasche und dann sich selbst hinein. Das Boot schaukelt und wippt, geht aber nicht unter. Der Sitz brennt heiß unter seinen nackten Schenkeln, die Farbe blättert ab. Wenigstens ist die Möwenscheiße angetrocknet. Er nimmt Enkidu aus der Sporttasche und lässt ihn durchs Boot laufen.
Ein Plan formt sich in seinem Kopf. Er vertraut ihn der Schildkröte an.
Der Oberkaufmann und der Skipper der Batavia haben eine epische Reise überlebt. Hunderte Meilen über das offene Meer. Er und Enkidu könnten Geraldton erreichen. Sie könnten Ruder finden, einen Außenborder klauen. Sich Karten und einen Kompass beschaffen. Konserven, Cracker, Saft einpacken, Sprit in einer Kanne. Auf eine ruhige See warten.
Sie könnten dem Boot einen Namen geben.
Little May.
Bunyip.
Er entscheidet sich für The Sea Tortoise, zu Ehren Enkidus. Enkidu wirkt wie immer wenig beeindruckt.