KAPITEL 21
1629
Die Batavia ist wieder auf See. An manchen Tagen schneidet sie wunderbar durch Wind und Wellen, mit scharfem Kiel, der breite Bauch gut ausbalanciert, die Segel stramm gespannt, die Leinen summend. Sie könnten schneller fahren, erklärt Vasthouden Mayken, nur kann der Rest des Verbands nicht mit der Batavia mithalten. Das geht dem Skipper noch mehr gegen den Strich, als die Reise mit Pelsaert machen zu müssen. Er muss das schnelle Schiff verlangsamen, wo er doch mit voller Fahrt zu den Gewürzinseln fliegen könnte. Aber das ferne Leuchten der Hecklaterne eines weiteren Schiffs in der Dunkelheit ist manchem an Bord eine Beruhigung. Und so fliegt die Batavia verhalten dahin, nicht zu schnell, während die Menschen an Bord Pläne für die Zeit nach der Ankunft machen. An guten Tagen fühlen sie sich dem Ziel näher, an anderen, wenn der Wind sie im Stich lässt und das Meer ihnen ihr Fortkommen missgönnt, wenn das Schiff sich plagt und wiegt und die Stunden zäh dahinfließen, spüren sie die ganze Erschöpfung nach fünf Monaten auf See.
Wenn Leute den Verstand verlieren, dann jetzt, sagen die Seemänner. Jetzt, wo das Deck salzbleich ist und die tropische Hitze auf sie niederbrennt. Die Luft auf dem Kanonendeck ist ranzig und verdorben, das Orlopdeck eine glutheiße Hölle. Die Passagiere der ersten Klasse bekommen ihr Wasser durch Musselin gefiltert. Der Rest saugt es sich durch die Zähne.
Innerhalb weniger Tage sterben vier und werden dem Meer übergeben. Der fünfte, ein schlechtes Omen: Das Schiff schlingert, die Leiche fällt – und das Tuch reißt. Seemänner geben sich Zeichen und sehen zum Himmel hinauf.
Der Prädikant und die Barbiere sind bei allen Bestattungen anwesend. Mayken sieht vom Heckkastell herunter, ist mit den Gedanken jedoch woanders. Sie sucht nach Mustern in der Gischt, im Kräuseln des Wassers in einem Eimer oder merkwürdigen Pfützen auf Deck.
Sie hört die geflüsterten Gespräche der Passagiere und der Mannschaft, hört die unterdrückte Angst in ihren Stimmen. Die armen Seelen sind nicht an den gewohnten Heimsuchungen der Seereise gestorben. Es heißt, eine unbekannte Seuche habe sie hingerafft, und niemand hat so etwas schon erlebt.
Mayken kennt die Quelle dieser Seuche: Bullebak geht wieder um.
Mayken läuft über das glühende Deck und gleicht ihre Schritte der Bewegung des Schiffes an. Sie berührt die hölzernen, geschnitzten, glücksbringenden Köpfe, sonnenheiß, wie sie sind. Sie verlieren ihre Züge, so sehr nagen die Elemente an ihnen.
Pelgrom kann sie nicht trauen, also wird sie das Schiff auf eigene Faust durchsuchen, ihre Verkleidung tragen und sich den Bewegungen der Mannschaft anpassen. Sie wird ihre eigenen Wege finden, um dem Steinmetz zu entgehen, genau überlegen, wann sie über das Hauptdeck rennt und wann nicht. Sie braucht keine Hilfe, um Bullebak zu fangen. Nur vielleicht Smoert, der ihr zur Hand geht.
Im Gang vor ihrer Kabine hängt ein stickiger Geruch. Vor der Tür ist ein öliger Fußabdruck zu erkennen. Riesig, monströs, mit nur drei Zehen.
Voller Angst um Imke stürzt sie hinein.
Imke liegt zerzaust und in ein Laken verwickelt in ihrer Koje. Sie hat hohes Fieber. Ihr Fuß, der so ordentlich verbunden war, ragt bloß hervor. Der blutgetränkte Verband ist auf dem Boden gelandet, der Fuß abscheulich geschwollen, der Stummel ihres großen Zehs schimmert roh. Die Haut ist fast bis hinauf zum Knöchel leberfarben.
Mayken weicht kaum noch von Imkes Seite und hält nach Zeichen Ausschau, dass ihr Fieber zurückgeht oder sie ihren letzten Atemzug tut. War Bullebak wieder da? Der Barbier kommt jeden Tag. Aris spricht mit leiser, ernster Stimme mit Imke. Wenn er wieder geht, tut Imke so, als weinte sie nicht. Mayken weiß, dass sie ihrer Kinderfrau den Fuß abnehmen wollen, wenn sie das nächste Mal an Land gehen. Es soll einen längeren Aufenthalt geben, und sie werden die Kranken vom Schiff bringen, damit sie sich auf festem Grund erholen können.
Mayken könnte mit Aris über Bullebak reden.
Sie versucht, die Dinge in ihrem Kopf zu ordnen. Was hat sie gesehen? Davonrennende Ratten. Einen merkwürdigen Fußabdruck. Einen Aal an Imkes Hüfte. Was hat sie gefühlt? Angst, groß genug, um ihr den Atem zu nehmen.
Aris hat keine Zeit, sich solche Geschichten anzuhören, und noch weniger, sie zu glauben. Also sagt Mayken nichts, sitzt bei der alten Frau.
Freudenschreie gellen durchs Schiff. Das kann nur heißen, dass Land in Sicht ist.
Imke erwacht aus ihrem Dämmerschlaf. »Geh und sieh, wo wir sind auf der Welt.«
»Ich will dich nicht allein lassen.«
»Ich bin sicher noch hier, wenn du zurückkommst.« Imke lächelt.
Mayken mag ihr Lächeln überhaupt nicht. Es ist das Lächeln der heiligen Mutter Maria in Imkes Kirche. Es ist das Lächeln von jemandem mit höheren, jenseitigen Dingen im Kopf. Wie dem Himmel und dem Tod.
Mayken drängt aufs übervolle Deck. Sie wird sich schnell umsehen und zurück zu Imke rennen. Das ganze Schiff feiert. Mayken sieht staunend, dass der Skipper und der Oberkaufmann gemeinsam auf dem Poopdeck stehen, wenn auch jeweils ganz an der Seite, Skipper Jacobsz fest auf seinen kräftigen Beinen, ein wölfisches Lächeln auf dem von Wein und Gesundheit geröteten Gesicht, Oberkaufmann Pelsaert staksig, kränklich, blass und ganz offenbar erleichtert. Seine rote Jacke hängt schlaff an ihm herunter. Unterkaufmann Cornelisz schlittert zwischen den beiden hin und her und lächelt jeden und niemanden an.
Diesmal ist das Land kein ferner Fleck, sondern ragt majestätisch aus dem sich klärenden Nebel über dem Wasser. Ein großer Berg, wie ein Stück unter dem Gipfel abgeschnitten, ein abgeflachter Gewürzkegel. So schön im Morgenlicht, dass selbst hartgesottenen Seemännern Tränen in die Augen treten.
So sehr Mayken auch bittet und fleht, sie darf Imke nicht an Land begleiten. Schlimm genug, dass das Kind so lange mit ihrer kranken Bediensteten in ihrer Kabine eingepfercht war. Pelsaert schickt Mayken die Nachricht, dass er dafür verantwortlich ist, die Tochter Antony van der Heuvels lebend bei ihrem Vater abzuliefern.
Mayken hilft, es Imke so angenehm wie nur möglich zu machen. Die alte Frau ist in Decken gewickelt und auf eine Planke gebunden, die in die wartende Jolle hinabgelassen wird.
»Ich musste meinen Hintern selbst auf dieses Schiff hieven«, flüstert Imke. »Und jetzt sieh, ich verlasse es wie eine Königin.«
Mayken kann Imke nicht die Hand halten, die fest unter den Decken steckt, und so kann sie ihr nur den eng verpackten Körper tätscheln. Sie sieht Imke an, ihr liebes, altes, hageres Gesicht.
»Bitte, komm zurück.«
Imke lächelt ihr jenseitiges Lächeln. »Creesje Jansdochter wird nach dir sehen. Es ist alles geregelt.«
»Ich will die verdammte Creesje nicht!«
Aris legt Mayken eine Hand auf die Schulter.
Mayken beugt sich vor, um Imke einen Kuss zu geben. Sie schließt die Augen, und zwei stille Tränen fallen auf das Gesicht ihrer Kinderfrau. »Na, na«, sagt Imke. Jetzt nicht weinen.
»Du hast Äpfel geschält, und dabei ist dir das Messer abgerutscht«, sagt Mayken. »Und deine Finger sind im Kuchen mitgebacken worden.«
»Du musst weiterraten.«
Der Verband liegt im Hafen vor Anker. Die Mannschaften dürfen sich nicht zwischen den Schiffen hin- und herbewegen, aber ein paar Stunden, nachdem der Oberkaufmann an Land gegangen ist, macht sich eine weitere Gruppe auf. Skipper Jacobsz, Zwaantie und Unterkaufmann Cornelisz lassen ein Boot zu Wasser. Der Skipper gibt den Befehl, dass es von vier Männern gerudert wird. Er verlangt Proviant. Pelgrom bringt Körbe mit Essen und Wein, und sie werden ins Boot heruntergelassen, das sich anschließend schaukelnd entfernt. Nach einer Weile steht der Skipper auf, das Boot gerät kurz in Schräglage, und Zwaanties Schrei gellt übers Wasser.
Die Leute an Deck sehen zu, wie sich Jacobsz zu ihr setzt.
Da ihre Bedienstete anderswo verpflichtet ist, hat Creesje in ihrer Kabine Platz für eine neue Begleiterin. Maykens Truhe wird nach nebenan gebracht. Creesjes Kabine ist genau wie Maykens und Imkes, nur riecht sie viel besser, und es wurden einige Anstrengungen unternommen, sie wohnlicher zu machen. Auf dem Boden liegt ein Teppich, und an der Wand hängen Bilder von ländlichen Szenen und Früchten. Diesmal kommt Mayken in die untere Koje, und Creesje besteht darauf, sie zu beziehen. Mayken sieht aus der Ecke zu, und das Herz tut ihr weh. Creesje klopft auf das fertig bezogene Bett. »Komm, setz dich zu mir.«
Mayken gehorcht.
Creesjes Stimme ist sanft, ihre Augen sind klar. »Aris wird sich um Imke kümmern. Und bis sie wieder da ist, kümmere ich mich um dich.«
»Um mich muss sich keiner kümmern.«
»Freundinnen kümmern sich umeinander.
Mayken überlegt. »Dann kümmere ich mich auch um dich.«
Creesje lächelt. »Du erkundest gern alles, das habe ich als Kind auch getan. Aber sei vorsichtig, Mayken. Dieses Schiff wird mit jedem Tag gefährlicher.«
Mayken hört einen Unterton in ihrer Stimme, aber Creesjes Miene ist ruhig und gelassen.
Creesje tätschelt ihre Hand. »Und machen wir dich jetzt einmal sauber?«
Creesje geht mit sanfter Geduld vor. Sie ist nicht so grob wie Zwaantie, nicht so gemein mit dem Kamm und so derb beim Waschen. Das dringlichste Problem sind Maykens um sich greifende Kopfläuse. Lebte sie vor dem Mast, würde ihr der Kopf geschoren, und die Haare gingen über Bord. Es gibt einige kleine Mädchen auf dem Kanonendeck, deren stoppelige kleine Köpfe davon Zeugnis geben. Aber angesichts ihrer Stellung behält Mayken ihre Haare.
Creesje begießt ihren Kopf sorgfältig mit Tinkturen und spürt die lästigen Passagiere mit einem feinen Kamm auf. Anschließend gibt es eine gründliche Wäsche, wozu Wasser in die Kabine gebracht wird. Creesje sieht Vasthoudens Hexenstein, den Mayken an einem groben Lederriemen um den Hals trägt.
»Der ist für Prophezeiungen«, erklärt sie.
Creesje sagt: »Ich hätte eine Goldkette, wenn du möchtest.«
Mayken zögert.
Creesje gibt ihr einen Kuss. »Du kannst sie unter dein Mieder stecken.«
Irgendwann in der Nacht wacht Mayken auf. Während Creesje schläft, schleicht sie hinaus auf den Gang und öffnet die Tür zum Deck. Sie blickt in die Takelage und hofft, Vasthouden zu sehen, doch dann erinnert sie sich, dass Pelsaert ihn sich als Ruderer ausgesucht hat. Der Himmel ist ein einziges Sternenmeer, und der oben so flache Berg reckt seine harte Silhouette vor den Glitzerteppich. Eine Gruppe Seemänner blickt über die Reling zu etwas hinaus, das sich ihnen nähert. Mayken tritt weiter vor, neugierig, was es ist, und sieht, wie sich eine Laterne auf das Schiff zubewegt. Sie hört das Platschen von Rudern und einen dumpfen Schlag gegen den Rumpf der Batavia. Dann klingt Zwaanties dunkles Lachen durch die Stille, gefolgt vom lallenden Knurren des Skippers.
Mayken läuft zurück in ihre Kabine. Sie verspürt keinerlei Wunsch, sich beim grimmigen Jacobsz Ärger einzuhandeln.
Als sie aufwacht, sieht sich Mayken verwirrt um. Da ist keine laut schnarchende Imke, nur Creesje im Hemd, die in Maykens Truhe nach frischen Sachen sucht, aber nichts Geeignetes oder Sauberes findet. Creesje wird sich daranmachen, ihrem Mündel neue Tageskleider zu nähen und Maykens Wäsche der Frau eines Soldaten zu schicken, die sich mit dem Waschen solcher Kleider auskennt.
Mayken schlüpft nach draußen, um allein zu sein und an Imke zu denken.
Aber an diesem Morgen gibt es keine Ruhe. Auf dem Schiff geht es drunter und drüber. Es gibt viel zu tun, um die Batavia auf den letzten Teil ihrer Reise vorzubereiten. Kalfaterer sind damit beschäftigt, Lecks abzudichten. Schreiner und Segelmacher haben das Ihre zu tun. Es riecht nach frisch gehobeltem Holz und muffigem Tuch. Die Decks werden mit flachen, breiten Steinen abgeschrubbt, »Bibeln« nennen die Seemänner sie. Auf den unteren Decks werden reinigende Kräuter verbrannt. Die Ratten, die die letzte Jagd überlebt haben, werden von einem Ende des Schiffes zum anderen getrieben. Die Kinder der Unterwelt machen mit und schreien vor Entzücken. Da sich das heftige Auf und Ab des Schiffes in der geschützten Bucht auf ein angenehmes Wiegen reduziert hat, lässt sich alles viel leichter erledigen. Niemand kommt zu Tode. Den Soldaten ist pro Tag eine zusätzliche Stunde an Deck erlaubt, und da der Steinmetz mit den Oberen, mit Schreibern und Kadetten in der Jolle hinüber an Land ist, herrscht geradezu ausgelassene Stimmung. Pelgrom ist ebenfalls weg, irgendwie hat er es geschafft, mit auf die Jolle zu kommen. Mayken kann nicht glauben, wie ungerecht das alles ist. Ein Steward darf an Land, um seine Kratzfüße zu machen, und ihr wird das Recht verweigert, sich um die arme, kranke Imke zu kümmern!
Alle wohlhabenden Passagiere sind an Bord geblieben. Der Prädikant hält täglich Predigten und bedenkt sie mit erbaulichen Reden. Die Passagiere sind so untätig, wie die Mannschaft emsig ist. Aber alle sind guter Laune. Da Skipper Jacobsz keinerlei Wunsch zu haben scheint, seine Kabine zu verlassen, hält Unterkaufmann Jeronimus Cornelisz eine Art Ordnung aufrecht. Meist findet er sich auf dem Poopdeck und liest in einem Buch, ein Glas Wein neben sich. Hin und wieder besuchen ihn die jungen an Bord verbliebenen Kadetten. Sie versammeln sich um ihn und protzen mit ihren Schwertern. Derbes Gelächter ist zu hören. Cornelisz ist der Anführer einer Gänsehorde mit Federhüten.
Jeden Tag werden Regeln aufgehoben und Unterscheidungen verwischt. Die Leute gehen frei von Maßregelungen ihren Beschäftigungen nach.
Es gibt keine bessere Gelegenheit für Mayken, erneut in die Unterwelt hinabzusteigen.
Mit ihrem Bündel unter dem Arm schleicht sie sich zum Schweinepferch. Schnell wechselt sie in ihre Hose und setzt die Mütze auf. Mit einem Gebet gegen den Gestank der Schweinescheiße versteckt sie ihr Kleid, nimmt ihren Krug und steigt hinunter aufs Kanonendeck.
Es sind weniger Leute da, aber die sind umso geschäftiger. Mayken geht geradewegs zur Kombüse. Die Tür steht offen. Der Koch sitzt schlafend auf einem Schemel, den Kopf gegen einen Sack Mehl gelehnt. Ein verdreckter Smoert schrubbt Ruß von der Feuerstelle. Er sieht sie und lächelt.
»Wonach suchen wir noch mal?«
Mayken überlegt. Wenn er Angst bekommt, hilft er ihr vielleicht nicht, und ein zweites Paar Hände könnte schon nützlich dabei sein, ein uraltes gestaltwandlerisches Ungeheuer in einen Steinkrug zu sperren.
»Nach einem aalartigen Viech«, antwortet Mayken.
Smoert erschaudert. »Wenn’s etwas gibt, was ich nicht mag, dann sind es Aale.«
»Immer noch besser als Ratten.«
»Ich würde eine Ratte immer einem Aal vorziehen.«
Sie klettern hinunter aufs Orlopdeck, Mayken zuerst, Smoert folgt ihr. Die Tiere stehen tief im Stroh, aber alles ist sauberer. Smoert streckt eine Hand aus und lässt sanfte, freundliche Töne hören. Eine Kuh kommt heran. Smoert tätschelt ihr die Backe und reibt ihr die Nase.
»Wir hatten auch Kühe«, sagt er.
»Deine Familie?«
»Nein, im Dorf. Meine Familie hatte keinen Topf zum Reinpinkeln.«
»Haben sie dich auf See geschickt?«
»Nein, ich mich selbst.« Smoert lächelt ein wenig bitter. »Schien mir eine gute Idee. Aber ich vermisse die Kühe und die Pferde.«
»Wirst du immer ein Küchenjunge bleiben?«
Smoert sieht sie an. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich hoffe, verdammt noch mal nicht.«
»Du kannst kommen und bei mir und Imke in Batavia wohnen. Mein Vater hat Hengste. Ob auch Kühe, weiß ich nicht.«
»Was soll ich da machen?«
»Du könntest dich um die Tiere kümmern. Würde dir das gefallen?«
Die Kuh zuckt mit den Ohren und sieht Smoert an, als wartete auch sie auf eine Antwort. Smoert blickt schüchtern zu Mayken und nickt.
Die Soldaten lassen es sich fast alle auf dem Kanonendeck gut gehen, nur ein paar sind noch unten. Mayken nimmt die Laterne und beugt sich zur Luke hinunter in den Laderaum. Sie ist verschlossen. Entmutigt sieht sie Smoert an. »Wie kommen wir jetzt da runter?«
Smoert zuckt mit den Schultern. »Mit einem Schlüssel.«
Natürlich hatte Pelgrom einen. Mayken zieht die Stirn kraus. Wer könnte sonst noch einen haben? »Hat der Koch keinen?«
»Dem fetten Dreckskerl würden sie keinen geben. Der Provost vielleicht. Oder der Unterkaufmann?«
Mayken beißt sich auf die Lippe. Unmöglich, dass der ihr einen Schlüssel gibt! Vielleicht könnte sie sich ihn irgendwie schnappen? Aber dafür würde sie wahrscheinlich gehängt. Sie stellt den Krug und die Tüte mit den Speckschwarten ab, die Smoert zu ihrer Unternehmung beigetragen hat.
»Warten wir einfach ein bisschen«, sagt sie. »Vielleicht kommt das Biest ja her zu uns.«
Smoert wirkt besorgt. »Ein Aal, sagst du?«
»Keine Angst. Wir haben den Krug. Er wird auch gleich reinschlüpfen.«
Smoert scheint skeptisch. »Ein kleiner Aal, oder?«
»Willst du mehr über die Hengste erfahren?«
Und Mayken beschreibt die herrlichen Pferde und die roten und weißen Rosen um den Eingang zum schönen Haus ihres Vaters. Für Smoert fügt sie noch eine grüne Weide voller glücklicher Kühe hinzu. Sie hat sogar Namen für sie. Smoert lächelt in der stickigen Düsternis. Er fängt an, das saubere Heu zu riechen, die frische Luft, und spürt die Sonne auf seinem armen, vernarbten Gesicht, da ist Mayken sicher.
Nach einer Weile sitzen sie einfach schweigend da. Es tut sich nichts. Smoert knibbelt an seinen verschorften Stellen, und Mayken wird die Warterei leid. Bullebak kann nicht in der Nähe sein, sie verspürt keinerlei Angst. Nur Langeweile und schleichenden Hunger.
»Wir müssen das anders anpacken, Smoert.«
»Gut.«
»Wir bitten John Pinten um Rat.«
Smoert reibt sich die Nase. »Wenn du da hinten bis ans stinkende Ende willst, bleib ich mit dem Krug hier.«
»Du hast Angst vorm Dunkeln, oder?«
Smoert guckt verlegen drein. Die großen Augen in seinem verschmierten Gesicht ohne Brauen, darüber die Haarbüschel.
»Bleib beim Krug«, sagt Mayken sanft. »Ich gehe allein.«
Mayken läuft das Orlopdeck hinunter. Es stinkt nicht mehr so höllisch, aber es ist dunkler, da die meisten Laternen aus sind.
Am Ende des Decks ruft sie nach ihm: »John Pinten!«
Nichts. Vielleicht war er auch in der Jolle. Ein paar Soldaten haben den Oberkaufmann begleitet.
»John Pinten, sind Sie hier?«
Ein Glimmen, und eine Laterne wird entzündet.
»Was verschafft mir heute das Vergnügen deines Besuches?«
John Pinten hört sich Maykens Problem an. Die Jagd auf Bullebak, die von einer verschlossenen Luke vereitelt wird.
»Hast du den Krug und die Speckschwarten?«
Mayken nickt. »Smoert liegt damit auf der Lauer.«
»Smoert?«
»Der Küchenjunge.«
»Natürlich.« Der Soldat lächelt. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du deine Suche aufgibst, Obbe. Das Wesen ist nicht mehr im Laderaum. Es hat das Schiff verlassen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe es in letzter Zeit nicht mehr gehört.« John Pinten rutscht auf seinem Ellbogen vor und greift nach seinem Krug. »Ich nehme an, es ist an Land gegangen. Wer würde das nicht, wenn er irgendwie die Möglichkeit dazu hat?«
Mayken sieht den Soldaten eindringlich an. »Sagen Sie die Wahrheit?«
»Natürlich.« John Pinten lächelt, die Augen weit im Halbdunkel seiner Laterne.
»Wenn Sie es wieder hören …«
»Sag ich ihm, es soll zu dir und deinem Küchenjungen kommen.«
Mayken kehrt zu Smoert zurück.
»John Pinten denkt, es ist an Land.«
»Wir könnten herumfragen«, sagt Smoert. »Vielleicht hat es jemand gesehen.«
»Was, wenn ich dich in Schwierigkeiten bringe? Ich sollte nicht hier unten sein.«
Smoert zuckt mit den Schultern »Ich bin immer in Schwierigkeiten. Das ändert nichts.«
»Also gut. Aber wenn wir erwischt werden, nehme ich die Schuld auf mich.« Mayken klopft ihm auf den Arm.
Smoert wird rot und sieht auf seine Knie.
Die Befragung beginnt.
Smoert stellt den möglichen Zeugen die erste Frage: »Haben Sie etwas von einem aalartigen Wesen gesehen oder gehört?«
Und Mayken fügt hinzu: »Es hinterlässt Fußspuren.« Sie demonstriert die Größe mit den Händen. »Und sein Biss ist giftig.«
»Es stinkt wie Bilgewasser«, sagt Smoert.
»Ändert die Größe und …«
Smoert stößt sie an. »Weiter.«
»Versteckt sich in Pfützen und Dingen.«
Die Soldaten verfluchen die Kinder oder lachen, als wäre es ein Spiel. Aber weder von den einen noch von den anderen bekommen sie eine vernünftige Antwort. Bei den Seemännern ist es anders. Sie hören ernst zu, und manchmal stellen sie selbst Fragen.
Einer hat einen toten Aal in einem Essigfass gesehen. Aber vielleicht war er ja auch nicht tot, weil du weißt ja, wie Aale sind.
Die Frau eines Kanoniers hat was Unnatürliches durch eine Geschützklappe gucken sehen.
Ein Schreiner hat eines späten Nachmittags beim Reparieren einer Rahe eine komische Gestalt beobachtet. Geduckt ist sie übers Deck unter ihm gehuscht. Vielleicht war es aber auch der Schatten des Ersten Maats.
Bald schon wird Bullebak die Schuld an allen möglichen Unfällen und Ärgernissen gegeben. An verlegten Werkzeugen, gerissenen Tauen, zerbrochenen Tellern. Bisse werden vorgezeigt. Ein alter Seemann hat einen vergifteten Zeh, der ganz ähnlich wie Imkes Zeh aussieht.
Aber dann muss Smoert zurück in die Kombüse, denn wenn der Koch aufwacht und er ist nicht da, bricht die Hölle los. Und Mayken muss zurück nach oben und in ihr Schweinescheiße-Kleid wechseln.
»Kommst du morgen wieder?«, drängt Smoert. »Dann können wir weitersuchen.«
Nach und nach entwickeln Mayken und Smoert ein Bild von den merkwürdigen Geschehnissen, die sich fast täglich an Bord ereignen. Die Leute fangen an, die beiden heranzuwinken, wenn sie mit ihrem Krug und der Tüte Speckschwarten über die Decks streifen.
Ein Fußabdruck an der Decke, zählt das?
Nebel vom Meer, der mit einem Murmeln durch die Kabine weht, zählt der auch?
Obbe ist bald schon genauso Teil der Unterwelt wie Mayken Teil der oberen.
Während ihrer großen Bullebak-Jagd lernt Obbe viel über das Leben vor dem Mast. Und er ist verantwortlich für eine Reihe freundlicher Gesten.
Obbe legt der Frau eines Kanoniers, die einem verlorenen Schneidezahn nachtrauert, ein schönes Band hin. Obbe findet für die Frau eines Soldaten, die geschwollene Füße hat, ein Paar Holzschuhe. Obbe bringt einem mutlosen Seemann einige eingelegte Pflaumen.
Obbe kennt die Leute jetzt, und die Leute kennen Obbe.
Manchmal sagen sie Obbes Namen mit einem Zwinkern oder einem schelmischen Blick.
»Sie wissen, wer ich wirklich bin«, flüstert Mayken Smoert zu.
»Sie werden dich nicht verraten«, flüstert Smoert zurück.
Mayken beginnt zu begreifen, dass die Kluft zwischen der Ober- und der Unterwelt so groß ist, dass ihr Geheimnis vielleicht nicht bis hinter den Mast dringt. Während sie die Menschen im Bauch des Schiffes immer mehr ins Herz schließt, tun sie es umgekehrt mit ihr. Sie halten nach dem kleinen grauäugigen Mädchen mit der grob zusammengenähten Hose und der Schiffsjungen-Mütze Ausschau, mit ihrem Krug und der Tüte Speckschwarten.
Die Jolle kehrt mit den ersten Ergebnissen der Verhandlungen des Oberkaufmanns zurück: mit Essensvorräten, verschiedenen Gütern und Fässern mit frischem Wasser. Pelsaert selbst wird auch bald folgen, so wie die restlichen Leute, die an Land waren. Währenddessen bereitet sich der Verband darauf vor, den letzten Teil der Reise nach Batavia anzutreten.
Creesje werden merkwürdige flaumige Früchte geschenkt, die sie mit Mayken teilt. Sie schmecken gut und süß, aber hinterher können sich beide nicht an den Geschmack erinnern. Creesje ist nett und fragt nie, wohin Mayken immer wieder verschwindet. Solange sie sich dem regelmäßigen Bürsten der Haare und Waschen des Gesichts ergibt, scheint sie glücklich. Falls Creesje die Schweinescheiße in Maykens Kleidern riecht, sagt sie nichts. Den Hexenstein trägt Mayken um den Hals, was immer sie anhat.
Mayken lehnt sich über die Reling. Creesje steht neben ihr. Da endlich kommt das Boot mit den Kranken. Mayken kann Aris im Bug erkennen. Als sich das Boot nähert, sieht sie nach den Passagieren. Einige sind eingewickelt und auf Planken gebunden, damit sie an Bord gehievt werden können. Andere scheinen schwach, halten sich aber aufrecht, können allein sitzen und sich normal hoch aufs Schiff ziehen lassen.
Mayken redet von den Geschichten, die sie Imke erzählen wird, und was für neue Spiele sie erfinden werden. Creesje scheint trauriger denn je und legt ihr liebevoll eine Hand auf den Arm, aber Mayken kann nicht aufhören. Als auch die Letzten hoch auf die Batavia kommen, verstummt sie schließlich.