KAPITEL 24

1989

Gil wartet auf die Antwort der Schildkröte. Enkidu teilt sich durch ein Scharren mit den Füßen, durch Bewegungslosigkeit und das Zurückziehen von Kopf und Beinen in den Panzer mit. Das ist wichtig, weil sein Gesichtsausdruck nichts verrät, sondern immer nur sauer ist. Enkidus Meinung hat Gewicht, denn dass die Schildkröte weise ist, bezweifelt Gil nicht. Ihrem Dinosauriergesicht mit der vorspringenden Nase und den stechenden Augen ist die Schlauheit anzusehen. Dutch hat Enkidus Alter anhand der Muster auf seinem Panzer kalkuliert. Wie könnte er mit seinen neunhundert Jahren nicht weise sein?

Enkidu ist völlig reglos, was bedeutet, dass er nachdenkt.

Auf der Dafür-Seite haben sie Dosenfleisch und Cracker, eine Karte, ein Paar Plastikruder und ein Boot, das bisher nicht gesunken ist. Dagegen sprechen die sechzig Kilometer offenes Meer zwischen Beacon Island und dem Festland. Aber daran wird sich nichts ändern.

»Die Leute segeln in allen möglichen Dingern um die Welt«, sagt Gil.

Enkidu geht langsam ein Stück vor und nickt.

Gil verspürt eine Welle der Liebe für seinen Freund und küsst ihm den Kopf. Er würde ihn hochheben, aber er hat seinen Panzer gerade mit Dutchs Surfboardwachs poliert. Enkidu sieht bestens aus für seine neunhundert Jahre. Abgesehen von seinen Fußnägeln.

»Du kriegst noch eine Maniküre, bevor wir losfahren.«

Gil schreibt das mit auf die Aufgabenliste für seinen Fluchtplan, direkt unter Einen Außenborder stehlen.

Ein Klopfen, seine Schlafzimmertür wird aufgedrückt.

»Auf ein Wort«, sagt sein Großvater.

Sie sitzen auf der Veranda, Joss mit einem Bier, Gil mit einem Saft. Aus dem Schuppen trägt der Wind Dutchs Gitarrenspiel herüber. Der alte Mann hebt seine Flasche in die Höhe und betrachtet dadurch den Sonnenuntergang. Gil durch sein Glas. Ein saftig orangener Horizont. Joss hält sein Bier in der verbundenen Hand, größere Dinge können seine Finger wieder halten. Aber noch keinen Stift, keine Gabel oder Zigarette.

»Was war unter der Wäscheleine?«, fragt er.

Gil sieht hinüber zu ihr. Handtücher und Unterhemden hängen knochentrocken an ihr und warten darauf, dass Dutch sie abnimmt. Die Erde darunter ist wieder so hergerichtet, wie Birgit sie vorgefunden hat. Wie kann Joss was davon wissen?

»Du bist gesehen worden. Du mit der Wissenschaftlerin.«

Gil sieht seinen Großvater verwirrt an. Von wem? Den Möwen? Es ist niemand vorbeigekommen.

Joss studiert sein Bier. »Es ist besser, wenn du die Wahrheit sagst, Junge.«

»Ich habe ihr gesagt, ich hätte unter der Wäscheleine gegraben und Sachen vom Wrack gefunden. Dann habe ich ihr diese Bobine gegeben, die in deinem Schrank war.«

Joss nimmt einen Schluck Bier. »Das ist nicht weit von der Stelle, wo sie gefunden wurde. Aber war das richtig? Hat dir jemand erlaubt, sie ihr zu geben?«

»Nein.« Gil überlegt einen Moment. »Sie will sie näher untersuchen.«

Joss knurrt.

Gil sieht ihn an. »Wirst du mich jetzt schlagen?«

»Nein.« Sein Großvater zieht die Stirn kraus. »Himmel.«

Eine Weile sitzen sie schweigend da.

Joss trinkt sein Bier aus und steht auf. »Du nimmst nichts, ohne mich vorher zu fragen, verstanden?« Er streckt die Hand nach Gils leerem Glas aus. »Magst du noch einen?«

Gil will keinen Saft mehr. »Okay.«

Der alte Mann nickt steif.

Der Sonnenuntergang setzt den Himmel in Brand, das Licht glitzert auf den Wellen, und die Seevögel fügen weiße Blitze hinzu, um es noch schöner zu machen. Dutch kommt zu ihnen auf die Veranda. Die Männer trinken Bier, Gil kriegt eins mit Limo, ein Shandy. Dutch legt seine Zigarette weg und nimmt seine Gitarre.

Dutch hat eine tolle Stimme und kennt alle Songs von David Bowie und Bruce Springsteen. Aber er verändert die Texte, und so geht Ropers Hirn im All verloren, und Bill Nord flüchtet aus Geraldton und reißt dabei den Teer auf.

Gil sieht zum ersten Mal, wie die Miene seines Großvaters aufbricht und der alte Mann lacht. Joss ist wie verwandelt. Das Beste ist, als er Gil ansieht und ihm ein Auge zukneift. Und plötzlich ist Gil so glücklich, mit dem Sonnenuntergang, seinem Shandy und Ropers um den Mars kreisenden Hirn. Und weil Joss endlich mal lacht und ihm zuzwinkert und Dutch grinst wie nie. Sogar Enkidu scheint ein bisschen weniger angepisst zu sein, während er um ihre Füße herumspaziert.

Dutch singt ein paar Lieder, die er selbst geschrieben hat. Sie handeln von rothaarigen Frauen, die ihn sitzen lassen. Joss guckt jetzt nachdenklich drein. Dann singt Dutch zwei, drei deprimierende irische Lieder über tote Mütter und Holzkreuze, was Joss Tränen in die Augen treibt.

Enkidu mag Puff, the Magic Dragon, Gil das über ein Rennpferd, das niemals Wasser, sondern immer nur Wein trinkt, eine goldene Mähne und silbernes Zaumzeug hat. Also singt Dutch beide Lieder noch einmal.

Die Sonne geht unter, und die Motten beginnen um das Außenlicht zu schwirren. Joss steht seufzend auf, geht zur Tür und bleibt nur kurz stehen, um Gil auf die Schulter zu klopfen. Gil spürt das Gewicht seiner Hand, es sagt: Du bist in Ordnung.

Gil und Dutch bleiben noch auf der Veranda. Dutch spielt leise auf seiner Gitarre, Gil denkt nach, aber dabei geht es weder um die Toten vom untergegangenen Schiff noch um seine Mum, auch nicht um die Flucht mit dem flachen Boot von der Insel.

Gil fragt sich, warum alle Joss Hurley hassen.

Er denkt, vielleicht ist es an der Zeit, danach zu fragen.

»Was mit ihm ist?« Dutch verzieht den Mund zu so etwas wie einem Lächeln und hält die Stimme gesenkt. »Abgesehen davon, dass er ein trübseliger alter Lumpenhund ist?«

»Deshalb mögen ihn die Leute nicht?«

»Ja und nein.« Dutch zieht an seiner Selbstgedrehten und legt die Gitarre beiseite. »Du musst sehen, wie das Leben hier ist. Hart und gefährlich. Es gibt Rivalitäten, Streit, Meinungsverschiedenheiten, andererseits aber wissen die Männer, wenn es übel kommt, können sie sich aufeinander verlassen. Wenn’s um ihr Leben geht, Gil.«

Gil überlegt. »Es sind also Kumpel?«

Dutch nickt. »Jenseits aller Streitereien sind sie das. Aber Joss gehört nicht dazu.«

»Keiner kann sich auf ihn verlassen?«

»Und er auch auf keinen. Geben und Nehmen, das ist die Sache.«

Gil versteht, dass es so einfach ist: Joss hat keine Kumpel. Da gibt es kein Schulterklopfen, kein Bier mit den anderen Fischern, kein gemeinsames Die-Welt-Zurechtrücken. Schlimmer noch ist aber, dass ihn die Leute nicht mal ansehen oder mit ihm reden. Da wird man einsam, auch wenn man nicht unbedingt der Typ dafür ist.

»Es ist alles eine Frage von Vertrauen.« Dutch steckt sich eine weitere Zigarette an. »Du weißt, dass dein Großvater mal als Deckie bei den Zanettis angefangen hat?«

Gil schüttelt den Kopf.

»Franks Bruder Marco war der Skipper, und das hier war Marcos Camp.« Dutch vollführt eine Geste mit der Zigarette, die die Hütte, den verschatteten Umriss des Klos und alles andere mit einbezieht. »Dann kam es zur Tragödie. Marco und Joss waren draußen beim Fischen, als ein Sturm losbrach. Marco ging über Bord, und Joss schaffte es irgendwie, das Schiff allein zurückzubringen.«

»Marco ist ertrunken?«

»So ist es. Und dann hat seine Frau, seine Witwe, die Ramona, die Hütte hier und auch noch die letzte Reuse deinem Opa vermacht.«

»Warum?«

»Das wollte jeder auf der Insel wissen. Warum schenkte sie alles, was ihr verstorbener Mann besessen hatte, seinem Deckie?« Dutch zieht an seiner Zigarette. »Was die ganze Sache noch schlimmer macht, ist, dass es eigentlich Roper versprochen war.«

»Roper?«

»Marco und seine Frau hatten keine Kinder. Deshalb sollte Roper sein Schiff und alles erben.« Er macht eine Pause. »Fischer kennen die Risiken ihres Lebens. All so was wird in den Familien diskutiert.«

Gil sieht sich um. Diese Veranda mit dem von der Hitze verzogenen Dach, die klappernden Fenster, die verwitterte Bank, der Generatorschuppen und das verdammte Klo, das alles sollte Roper Zanetti gehören.

»Deswegen ist Roper so sauer.«

»Oh, das ist nur einer von vielen Gründen. Aber die geänderte Situation brachte viele auf.« Dutch wirkt etwas verlegen. »Einige meinten, Joss sei Marcos Frau zu nahe gekommen.«

Zu nahe hieß, dass sie es gemacht hatten, das kann Gil an Dutchs Miene erkennen.

»Joss kam in der nächsten Saison zurück. Zog in seine Hütte, fuhr mit dem Boot raus und fing an zu fischen, als hätte ihm schon immer alles gehört. In der Saison drauf brachte er eine neue Frau mit.«

»Granny Iris.«

Dutch nickt. »Die Zanettis waren verbittert. Sie verbreiteten Gerüchte. Weißt du, es gab keine Zeugen, die gesehen hatten, wie Marco umgekommen war.«

»Sie haben gesagt, er hätte ihn umgebracht?«

»Nicht direkt. Aber Frank machte klar, dass dein Großvater keiner war, dem man trauen konnte, und da er das Oberhaupt der führenden Familie hier war, wandte sich niemand gegen ihn. So wurde dein Großvater zu jedermanns Feind.«

Gil überlegt. »Er könnte also gar nicht der Kumpel von wem sein, auch wenn er es wollte.«

Dutch nickt. »Genau.«

»Das ist nicht fair!« Gil ist überrascht, wie wütend es ihn macht, wie die Leute mit seinem Großvater umgehen.

Dutch fährt fort: »Alle erwarteten, dass er verkaufen würde, doch das tat er nicht. Saison für Saison ist er zurückgekehrt, so schwer ihm die Zanettis das Leben auch gemacht haben.«

»Womit?«

»Zum Beispiel wollte keiner für ihn arbeiten, aber er hat es all die Jahre auch allein geschafft. Erst, weil er musste, später dann, nehme ich an, weil er sich daran gewöhnt hat.«

»Und jetzt bist du wieder hier und hilfst ihm.«

»Ich bin seine letzte Rettung. Und jetzt stell dir mal vor, wie sehr das Roper anpisst.« Er lächelt Gil zu. »Vielleicht hilfst du deinem Großvater ja eines Tages.«

»Nein.«

»Willst du selbst der Skipper sein?«

»Ich will kein Fischer werden.«

»Lass dich nicht abschrecken. Das Meer kann sehr milde sein, und die Boote müssen nicht sinken. Hier …« Dutch fasst in die Tasche seiner Shorts und holt etwas mit der geschlossenen Hand heraus. »Fang.«

Das tut Gil. Er öffnet die Hand. Es ist der Stein mit dem Loch in der Mitte von Dutchs Nachttisch.

»Weißt du, was das ist, Gil? Ein Hexenstein. Ich habe ihn hier auf der Insel gefunden.«

Gil dreht ihn in seiner Hand.

»Der Legende nach kannst du, wenn du durch das Loch guckst, sehen, was noch kommt oder schon war. Ich weiß nicht mehr, was von beidem.«

Gil probiert es bei Dutch aus. »Aber du siehst nicht wie vorher oder nachher aus, nur alt.«

Dutch lacht. Gil späht durch das Loch aufs Meer hinaus. Auch das sieht normal aus, was aber nichts zu sagen hat. Das Meer war und wird immer so sein.

Gil will Dutch den Stein zurückgeben.

Dutch lächelt. »Behalte ihn. Falls du doch noch beschließt, ein Fischer zu werden, brauchst du einen Talisman.«