KAPITEL 26
1989
Gil zwängt sich in die schmale Öffnung unter dem verrosteten Außenborder, um Frank Zanettis Hütte zu beobachten. Die Fliegentür wird von einem Stein offen gehalten, aber die Küche dahinter liegt vollkommen im Dunkeln. Draußen herrscht ein wildes Durcheinander. Da sind Löcher gebuddelt worden, Bretter lehnen an Schutthaufen, es sieht aus wie auf einem Übungsplatz für Stunts. Eine vollgepinkelte Kindermatratze brät in der Sonne.
Der kleinere Junge kommt heraus. Barfuß tippelt er über den Schutt, dreht eine auf dem Kopf liegende Plastikwanne um und klettert hinein. Die Knie reichen ihm bis zu den Ohren hinauf. Er singt ein Lied und wird dabei immer lauter, bis er schreit. Der größere Junge taucht in der Tür auf und guckt missmutig und finster drein. Er hält ein Eis in der Hand, einen ziemlichen Brocken zwischen zwei Waffeln. Aber es schmilzt, läuft ihm den Arm herunter und tropft vom Ellbogen. Er kommt heraus und ignoriert seinen Bruder. Silvia folgt in ihrem gewohnten Unterhemd und den Shorts. Sie raucht, geht zu einem schief stehenden Gartenstuhl und setzt sich, ohne sich die Mühe zu machen, ihn richtig hinzustellen. Mit ein paar scharfen Worten dreht sie die Lautstärke des kleinen Jungen herunter, der aber hörbar flüsternd weitersingt. Sie dreht das Gesicht in die Sonne, hat die Zähne zusammengebissen, und der finstere Blick scheint in ihre Züge eingeätzt. Sie sieht um zehn Jahre gealtert aus.
Die Jungen sind heute also nicht in Mrs Nords Besserungsanstalt, und Gil wird nicht die Möglichkeit haben, Silvia danach zu fragen, was sie über Marco Zanettis Tod weiß, oder ein gegrilltes Käse-Sandwich von ihr bekommen.
Er inspiziert den Motor über sich. Das Ding riecht nach Öl und Schmierfett, ist ein massiges Teil auf einem genieteten, übel verrosteten und hier und da womöglich sogar durchgerosteten Rahmen. Den hätte er vorher mit ein paar Tritten testen sollen. Zwar hat er sich eine Mulde darunter gegraben, trotzdem, wenn der Rahmen bricht, ist Gil ein Pfannkuchen. Der Schiefer gräbt sich in seine Beine und den Bauch. Das hier ist kein Ort für lange Beobachtungen.
Aber er kann nicht weg, bevor die nicht wieder drinnen sind.
Er wird auf keinen Fall hier rauskrabbeln und riskieren, von Ropers halbwilden Kindern entdeckt zu werden. Niemals. Sie sind ein Abbild ihres Vaters. Mit kleinen Augen und einem fiesen Blick, haben lange Arme und bereits einen Bauch wie Roper. Aber es ist nicht das Aussehen, das Gil Angst macht. Die Art, wie sie sich halten, sagt ihm, dass sie den Jähzorn ihres Vaters geerbt haben. Sie strahlen eine gelangweilte Bedrohung aus. Eine unbefangene Grausamkeit. Als sehnten sie sich nach einer Katze, die sie quälen, einem Hund, den sie misshandeln, oder einem schwächeren Kind, das sie malträtieren können. Der größere Junge geht zu seinem kleineren Bruder und tritt unbekümmert gegen die Wanne. Heftig und noch mal heftiger. Dann packt er sie und schüttelt sie mit zusammengebissenen Zähnen. Der Kleine klettert heraus, nimmt die Wanne und schleudert sie voller Wut nicht auf seinen Bruder, sondern auf Silvia. Er kommt aber nicht so weit. Silvia starrt den Jungen ausdruckslos an, beendet ihre Zigarette, steht auf und geht ins Haus. Der Junge zieht seine Shorts herunter und legt einen komplizierten Tanz hin.
Je länger Gil den beiden zusieht, desto ratloser wird er. Er begreift einfach nicht, was sie da machen. Dinge werden hochgehoben, weggeworfen oder zertreten, offenbar ohne jeden Plan. Der Große zieht Grimassen über einem Eimer. Sein Bruder kommt und tritt ihn um. Zusammen stampfen sie über den herausgekippten Inhalt. Sie kämpfen mit Holzlatten. Der Kleine kriegt einen Schlag auf den Kopf, und jetzt schreit er richtig. Silvia kommt raus und ruft sie beide rein.
Gil ergreift die Möglichkeit, kriecht aus seinem Versteck und ist weg.
Zurück in der friedlichen Schäbigkeit von Joss Hurleys Küche nippt Gil an seinem Kaffee. Er ist fast so, wie Mum ihn immer gekocht hat, und doppelt so stark wie der von Birgit. Die gestohlene Continental liegt auf dem Tisch. Gil stupst sie vorsichtig vor und zurück. Das spezielle Projekt des Tages heute ist Glamour.
Er braucht nur noch ein Thema: »Ein Tag am Anleger«, »Sangria-Nächte« oder »Inselleben«. Dann hat er einen Einfall. Warum nicht die erste Modenschau veranstalten, die es je auf der Insel gegeben hat? Gil blickt sich um. Keine alten Fischer, keine zerfurchten Deckies, keine gestrandeten holländischen Geister, so weit er sehen kann.
Er ist eindeutig allein.
Es gibt drei Hauptkategorien: Tageskleidung, Nachtwäsche, Strandmode. Beispiele für alle drei liegen auf Joss Hurleys klumpigem Bett ausgebreitet. Die Continental wird immer dabei sein. Enkidu gibt das dankbare Publikum.
Gil macht sich über Dutchs Kassettensammlung her und findet Prince und David Bowie. Die Eigenaufnahmen meidet er, weil er genau weiß, was er da findet: Blues-Songs über rothaarige Frauen und irische Totenlieder. Gil sieht auch eine Flasche Wodka in Dutchs Küchenecke. Das wird ein Requisit. Nach der Show bringt er alles zurück, bis auf die Continental. Die wird er rauchen, bis ihm schlecht wird.
Gil schiebt den Frisiertisch von Oma Iris etwas zur Seite und richtet den Spiegel aus. Jetzt kann er sich auf dem Laufsteg vom Wohnzimmer den Flur hinunter sehen. Ganz zeigt ihn der Spiegel nicht, er verliert entweder den Kopf oder die Füße. Er entscheidet sich für den Kopf und kippt den Spiegel nach unten. Dann steigt er auf einen Stuhl und klemmt Großvaters Laken oben hinter den Rahmen der Wohnzimmertür, als Bühnenvorhang. Enkidu sitzt als Ehrengast auf einem Kissen halb den Flur hinunter.
Gil weiß, wie man eine Bloody Mary mixt, die hat er für Mum gemacht, nur dass er jetzt keinen Tomatensaft hat. Aber Wodka ist sowieso mit Orangensaft besser, besonders mit dem eingefrorenen aus der Packung. Der ist wie Wassereis.
Gil entdeckt einen alten Lockenstab in Oma Iris’ Seite des Kleiderschranks. Als der Staubgeruch erst mal runtergebrannt ist, macht Gil einen Versuch. Das Ding heizt sich nicht so auf, wie er es gerne hätte, aber immerhin kriegt er ein paar Miniwellen an den Spitzen hin. Er spuckt in ein altes Röhrchen Wimperntusche, was ihm anständige Katzenaugen verschafft, steckt die Continental an, inhaliert, hustet, würgt und macht sie wieder aus. Sie riecht besser, als sie schmeckt, also hält er sie einfach nur. Er wirft seinem Spiegelbild eine Kusshand zu.
Er ist in New York, Paris und Mailand. Er ist ein berühmtes Model, eine Sängerin, Künstlerin. Er hat es geschafft. Ohne Mutter, ohne Vater, ohne einen perlmuttblonden Kurzhaarschnitt.
Wodka ist auch gut mit Limonade. Enkidu sagt nichts dazu.
Tageskleider mit Gürtel, mit Omas Pantoffeln drunter für dramatische Schultern. Mit Broschenglitter. Seide, Spitze und umwerfenden Kunstfasern. Mehreren Lagen Schmuck. Es macht Spaß, mit Tüchern zu spielen: Stirnband, Halstuch, Sarong.
Die besten Schuhe für den Laufsteg sind die hohen. Gil kann hochhackig dahinstolzieren. Scheiße, Mann, tanzen kann er in ihnen!
Wodka mit Büchsenmilch ist was für Kenner. Enkidu zieht den Kopf ein.
Fantasia. Oma Iris’ netzartiger Rock als gigantische Halskrause, ein Nicken in Richtung der holländischen Geister, ein Paar Lacklederpumps, ein Kaschmirbolero und ein kräftiger Strich Rouge auf jede Wange. Die Musik für den Look ist spot on: Bowies Blue Jean. Die ersten Takte sehen Gilgamesch, den Modekrieger, am Ende des Laufstegs. Den Kopf hocherhoben, den Blick die Nase herunter, bereit zum Auftritt. Ein paar Schritte, perfekt zur Musik. Über einen Absatz und über den anderen. Nichts kaputt!
Wodka ist super mit Eis. Enkidu döst.
Gil macht sich für den letzten Look fertig. Perlenohrringe und grüner Brokat. Er richtet die Szene ein, zieht die Vorhänge im Schlafzimmer von Joss zu, arrangiert Kerzen auf dem Frisiertisch und steckt sie an. Die Wirkung ist noch besser als mit Silvia. Magisch. Ein goldäugiger Prinz, blass und geheimnisvoll im Kerzenlicht! Ihm kommt ein Gedanke, und er rennt in sein Zimmer und holt Dutchs Hexenstein. Vielleicht wird er ihm zeigen, wer er wirklich ist oder sein wird? Er springt über die am Boden liegenden Kleider von Oma Iris. Die räumt er später auf. Zurück am Frisiertisch hebt er den Hexenstein an, denkt Prinzengedanken, sieht durch das Loch in den Spiegel …
»Was zum Teufel?«
Joss Hurley steht in der Tür. Er hält eine Seidenbluse in der Hand, die er vom Boden aufgehoben hat. Der Stoff liegt wie ein totes Haustier in seinen Armen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht kommt tief aus seinem Inneren, wo Empörung und Abscheu leben.
»Du verkorkster kleiner Dreckskerl.«
Als Gil hinaus in die Nacht rennt, werden ihm drei Dinge bewusst. Erstens ist er ohne Enkidu, zweitens barfuß, und drittens hält er immer noch den Hexenstein in der Hand. Auf der Suche nach einem Versteck drängt er sich in ein verschattetes Dornengestrüpp und spürt kaum die Kratzer auf seinem Leib, seinen Armen und Beinen. Er rollt sich ein, wie taub, eine Muschel, die sich schließt. Den Stein in seiner Faust und den Rücken gegen die Welt gewandt.
Mum hielt nichts von Spielzeugen für Mädchen oder Jungen und zog ihn auch nicht wie einen Jungen an. Kinder sollten Fantasie haben, sagte sie. Wer will mit drei Jahren einen verdammten Staubsauger haben oder ein Plastikbaby, das pinkeln kann. Wer will, dass man ihm sagt, du darfst nur mit Panzern spielen?
Gils Haare wuchsen lang, und er trug einen wahren Regenbogen an Farben. Gils Spielzeuge kamen wie die Sachen, die er anhatte, aus Trödelläden oder sonst woher. Staubsauger gab es nicht, auch keine Panzer. Nie. Dafür einen gestrickten Delphin, auch wenn der, wie Mum sagte, wie ein Hundehaufen aussah. Und eine Schwanenfamilie aus Pfeifenreinigern.
Er habe immer schon Stoffe gemocht, sagte Mum. Samt und Spitze. Weiches Fell und raue Baumwolle. Gil krabbelte ewig weit, nur um verschiedene Stoffe zwischen seine kleinen Finger zu bekommen, und schlief in einen Netzvorhang gewickelt ein. Mum sammelte Stofffetzen, und Gil spielte stundenlang mit ihnen. Die passten zusammen, die nicht. Die sind Freunde, die da Feinde. Ging Mum zu einem Date, ließ sie Gil aussuchen, was sie anziehen sollte, und das trug sie auch, immer, ganz gleich, wie sonderbar es aussah.
Gil hatte gedacht, er wäre an dem Abend nur mit Mum zu Hause. Er hatte Mums Kimono-Bademantel und kniehohe Stiefel an, um ABBA zu imitieren, summte die ersten Zeilen von Fernando und wirbelte durch die Küchentür. Sah Carlo und rannte davon.
»Ist dein Junge eine Schwuchtel?«, fragte Carlo Mum später beim Freitagabend-Steak und Bier.
Gil lag auf der Couch und tat so, als schliefe er, behielt durch die Wimpern aber ein Auge auf Mum.
»Gil ist einfach andersherum«, sagte sie.
»Himmel, kein Scheiß.«
Mum lachte. Gils Welt fiel auseinander.
Wenn er den Blick hebt, sieht er einen Himmel voller Sterne durch die Äste. Er könnte Nachtvögel hören, die zu ihren Nestern zurückkehren, aber Gil ist wie taub und verschlossen. Bald schon wird er die Kratzer von den Dornen und die scharfen Steine spüren. Im Moment fühlt er nur den Hexenstein in seiner Hand. Wie einen Anker.
Es war nicht der Umstand, dass Mum gelacht hatte. Wäre es ihr Ja-das-ist-mein-Sohn-er-ist-einmalig-also-fick-dich-Lachen gewesen, wäre es okay gewesen. Aber ihr Lachen klang verlegen, ja, beschämt. Das alles hätte Gil damals nicht so erklären können, aber ihr Lachen ließ ihn sich schlecht fühlen, durch und durch.
Die ganze Welt kann glauben, dass mit dir was nicht stimmt, solange eine Person denkt, du bist genau richtig so.
Die Nacht wird kühler. Gil meint, seinen Namen zu hören. Dass die eine Silbe vom Wind herangetragen wird. Eine verlorene Stimme, hoch und schwermütig. Er sagt sich, es ist ein Vogel, der sein Nest sucht.
Gil fragt sich, ob da tote Holländer unter ihm liegen, und wenn ja, werden sie ihn in der Nacht holen? Werden ihre Schädel durch die Steine wachsen und wie blasse Pilze ins Dunkel sprießen? Wird er sich in einem Graben voller Knochen wiederfinden? Werden sie mit ihren skelettierten Fingern nach ihm greifen? Die gestörte Erde bewegt sich unter ihm, aufgewühlt von Vögeln, dem Wetter und dem Wasserstand. Gil versinkt.
Etwas berührt seine Hand.
Leicht und kalt und schnell. Das winzigste Tippen auf seine fest geschlossene Faust. Gil atmet tief ein, als käme er aus eiskaltem Wasser zurück an die Oberfläche. Er öffnet die Faust und konzentriert sich auf das Gewicht des Hexensteins in seiner Hand. Klein und rund und wirklich. Ein Anker in der Welt über ihm. Er kann nicht mehr in die Tiefe gezogen werden.
Das erste Licht der Dämmerung fällt rosa durch das Geäst. Gil dreht den Kopf. Er sieht seine offene Hand, nach oben gerichtet, der Stein mitten in ihr. Er schließt die Finger darum. Den Schmerz von Kratzern, Schnitten und steifen Gliedern spürend, setzt er sich langsam auf. Um sich verblichene Puppen, verwitterte Teddys, zerschmolzene Buntstifte. Schmuddelige Bänder flattern im Wind. Gil kriecht aus dem Lumpenbaum.
Silvia findet ihn als Erste. Sie kommt in eine Decke gegen die frühe Kälte gehüllt. Sie raucht und geht gleichzeitig und überrascht sich vielleicht selbst.
Sie sitzen zusammen am Strand. Silvia hat Gil die Decke umgelegt, aber er zittert immer noch. Sie sagt, es ist wahrscheinlich der Schock oder eine Blutvergiftung von den Kratzern der Dornen.
»Dutch war spät noch bei uns, völlig aufgelöst. Sie dachten, du wärst womöglich ins Meer gesprungen oder so.«
Gil sieht sie an. Sie meint es ernst.
»Du musst nach Hause.«
Gil zieht die Decke enger um sich, knirscht mit den Zähnen und kämpft gegen das Zittern an.
»Was ist passiert, Gil?« Silvias Stimme ist sanft.
»Ich habe eine Modenschau veranstaltet.«
»Scheiße, und bist in Omas Pumps erwischt worden?«
Gil sagt nichts.
»Eines Tages mag es witzig scheinen«, sagt Silvia. »Wehtun wird es immer.«