KAPITEL 28

1989

Gil bleibt im Bett, bis die Männer das Camp verlassen haben. Dutch lässt ihn in Ruhe, und Gil ist ihm dankbar dafür. Er würde es nicht ertragen, unter den Blicken seines Großvaters Ausrüstung zum Boot zu tragen. Oder schlimmer noch, Dutchs Mitleid zu spüren.

Gestern Abend hat Joss ein Schloss an seiner Schlafzimmertür angebracht und sein Essen hinaus auf die Veranda getragen. Dutch saß stumm da, und Gil spürte, dass er nach Worten suchte. Er spürte Dutchs Blick auf sich und schlang sein Essen herunter, damit er zurück in sein Zimmer konnte.

Gil lauscht. Er hört, wie Dutch seine Tür zuzieht, seine Schritte auf den Steinen. Und dann sind da nur noch das Geschrei der Seevögel und das Rauschen des Meeres wie an jedem anderen verdammten Tag auch. Gil schließt die Augen und dreht sich um.

Ein Klopfen an der Tür. Gil reagiert nicht. Erneutes Klopfen. Eine Frauenstimme ruft. Gil späht in die Küche.

Birgit steht mit ihrer Stofftasche vor der Fliegentür. Gil öffnet sie einen Spalt weit.

Sie sieht seine Kratzer und zieht die Brauen zusammen. »Was ist mit dir passiert?«

»Ich bin in den Lumpenbaum geklettert.«

Birgit nickt, als wäre das absolut in Ordnung. »Darf ich hereinkommen?«

Gil trägt die Becher Kaffee zum Küchentisch. Enkidu ist zu ihnen gestoßen. Birgit streicht der Schildkröte, die zwischen den Soßenflaschen sitzt, über den Panzer.

Sie nimmt einen Schluck Kaffee und steckt sich eine Continental an.

»Ich wollte Auf Wiedersehen sagen. Wir nehmen das Versorgungsschiff heute.«

»Kommt ihr zurück?«

»Nicht in dieser Saison.«

Enkidu stürzt sich mit offenem Maul auf eine Soßenflasche, und Birgit muss lachen. Gil rührt in seiner Tasse.

»Ich mache noch beim Schwimmwettkampf mit, bevor ich fahre. Auf Anweisung von Bill Nord. Kommst du und feuerst mich an, Gil?«

»Okay.«

»Und ich wollte dir dafür danken, dass du bei deinem Großvater ein gutes Wort für uns eingelegt hast.«

Gil sieht sie an. Birgit lächelt.

»Er war bei mir und sagte, er wolle deinem Interesse an der Geschichte der Inseln nicht im Wege stehen. Er hat zugestimmt, dass wir sein Camp für eine mögliche Ausgrabung untersuchen.«

»Das hat er gesagt?«

»Kannst du das glauben? Er denkt, dass dein Fund ursprünglich von einer anderen Stelle stammen könnte. Er hat vor längerer Zeit Steine von dort unter die Wäscheleine geschafft.«

Der alte Mann hat sogar Gils Lügengeschichte gedeckt.

Birgit öffnet ihre Tasche und holt ein Buch daraus hervor.

»Dein Großvater meinte, du würdest vielleicht gern etwas Lesematerial haben.«

Gil nimmt das Buch. Es geht um das Wrack der Batavia. Er blättert hindurch. Es gibt etliche Fotografien und Karten.

»Kommst du und besuchst uns, wenn die Saison hier vorbei ist? Ich zeige dir, was sich hinter den Kulissen des Museums alles so tut.«

Gil nickt.

»Bring Enkidu mit.«

Gil lächelt.

Gil sieht Silvia. Sie packt zusammen mit Mums und Grannys Tupperware-Dosen aus und verteilt Saft an Kinder in langen T-Shirts und mit Sonnenkappen, die zwischen den Leuten herumrennen. Ropers Jungen sind auch dabei. Roper selbst kommt mit einem kleinen Boot und einem auf volle Lautstärke gedrehten Kassettenrekorder. Bei ihm sind noch drei weitere wild aussehende Männer mit wüstem Haar und ohne Schuhe. Gil kennt sie nicht von der Insel. Sie laden Bierfässchen aus dem Boot, die sie mitgebracht haben. Roper klatscht ein paar Jungs ab, packt eine der Mums und küsst sie, aber die stößt ihn zurück.

Gil merkt, dass er neben Bill Nord steht.

»Er ist ein fürchterlicher Kerl, oder?«, sagt Bill.

Fünf Frauen machen beim Wettschwimmen mit, darunter Birgit und Silvia. Bill Nord erklärt Gil, dass es eine Tradition ist, zu Ostern zum Wrack der Batavia hinaus- und wieder zurückzuschwimmen. Das Ganze heißt der Wybrecht Dash, und er hat ihn vor fünf Jahren erfunden. Wybrecht war der Name des Dienstmädchens, das versuchte, zum Wrack hinauszuschwimmen, um Trinkwasser für die Überlebenden an Land zu holen. Deshalb sind auch nur Frauen zugelassen.

Bill hat feuchte Augen. »Der Mut dieses jungen Mädchens, Gil.«

»Ist es gefährlich?«

»Nicht so sehr, wenn du nüchtern bist.«

Bill wird gerufen, um das Wettschwimmen zu starten. Er nimmt eine Stehleiter, steigt hinauf und bläst in eine Schiedsrichterpfeife. Als die Leute leiser werden, erklärt er ihnen, was er gerade auch Gil über das Mädchen und den Wettkampf erklärt hat. Nur dass er dabei jetzt keine feuchten Augen kriegt. Dann kommt Bill von der Leiter herunter, und alle folgen ihm zum Start, eine Golfflagge im Kies am Wasser. Die Menge rückt näher zusammen, lacht und redet durcheinander. Die fünf Schwimmerinnen stehen mit einigem Abstand da und schütteln Beine und Arme aus.

Birgit steht neben Silvia und nickt ihr zu. Silvia guckt weg.

Alle tragen Schwimmschuhe und Schwimmhauben in den verschiedensten Farben. Birgit sticht unter den Frauen hervor. Gil sieht, dass sie schnell sein wird. Ihre Schultern und Arme sind muskulös, und sie ist schlank und groß. Sie blickt aufs Meer zu den Bojen, die den Weg markieren. Die anderen tun mit ihren Brillen herum und wirken nervös.

Bill klettert zurück auf die Leiter. Die Inselbewohner werden still.

»Unsere Schwimmerinnen kämpfen um ein romantisches Wochenende im Royal in Geraldton.«

Jubel, Johlen und bewundernde Pfiffe.

»Es gibt nur einen Haken.«

Die Menge buht.

»Die Gewinnerin hat das Wochenende mit Roper Zanetti zu verbringen.«

»Der ist der verdammte Trostpreis!«, ruft jemand.

Die Menge lacht. Cherry stößt Roper an, und der müht sich mitzulachen.

»Zwischen den Bojen raus und wieder zurück.« Bill wendet sich den Frauen zu. »Hat eine von euch heute Alkohol getrunken?«

Nein, das hat keine.

»Okay. Wenn ihr Schwierigkeiten kriegt, hebt den Arm, und ihr werdet rausgeholt.« Bill zeigt auf das Rettungsboot, das bereits auf dem Wasser ist, mit drei Männern an Bord. Sie winken, sie sind bereit.

»Auf die Plätze. Fertig …«

Bill gibt den Startschuss ab, und alle zucken zusammen und lachen dann. Hat denn keiner gesehen, dass er eine Pistole in der Hand hatte?

Die Schwimmerinnen rennen ins Wasser.

Birgit liegt weit vorn.

»Gott, ist die schnell«, sagt jemand.

Alle Blicke richten sich auf sie. Die anderen kommen nicht an sie heran, und der Abstand vergrößert sich immer mehr.

Gil sieht mit allen anderen zusammen zu und ist Teil der Menge. Eine Frau lächelt ihm zu. Ein alter Mann stößt ihn an, zeigt aufs Meer und sagt etwas über die Wellen, das er im allgemeinen Gejohle nicht versteht.

Rufe von einem der Zuschauer. Eine der Schwimmerinnen hat Probleme. Die Bedingungen haben sich geändert, plötzlich weht ein scharfer Wind, und die See geht höher.

Ein Name wird gerufen, immer wieder, und die Menge trägt ihn weiter. Silvia!

Das Rettungsboot springt über die Wellen. Es sind nur noch vier leuchtende Kappen zu sehen.

Gil schließt die Augen.

Lass sie durchkommen. Lass sie durchkommen. Lass sie durchkommen.

Wiederhole es dreimal. Dreimal drei macht neun. Dann von vorne.

Lass sie durchkommen. Lass sie durchkommen. Lass sie durchkommen.

Bei Mum hat es einmal funktioniert.

Die Sanitäter redeten laut, rissen Beutel mit Plastikschläuchen und Gesichtsmasken auf. Dawn. Dawn. Kannst du uns hören? Sie ist drogensüchtig. Ist sie deine Mum? Hast du jemanden, den du anrufen könntest? Mrs Baxters Nummer lag beim Telefon. Sie kam herüber, mit rotem Gesicht und in ihrem Hausmantel. Ja, ja, sie werde sich um ihn kümmern. Nein, nein, er könne nicht ins Krankenhaus mit Mum. Mum müsse da alleine hin. Aber sie war ja nicht allein, da waren die Sanitäter, und im Krankenhaus warteten Ärzte auf sie.

Mrs Baxter stellte Gil den Fernseher im Wohnzimmer an. Er setzte sich und roch, was sie gekocht hatte, Zwiebeln und Gulasch. Aber das Essen war vergessen, denn Mrs Baxter hing am Telefon und erzählte den Leuten von Mum. Jedes Mal erzählte sie die Geschichte anders: wie viel Sanitäter es gewesen seien, wo und wie die Ärmste gefunden worden sei und welche Rolle sie in dem Drama gespielt habe. Dann senkte sie die Stimme und sagte, es sehe nicht gut aus, und es sei das Kind, das ihr so leid tue. Mr Baxter kam mit einem Netz Orangen herein und sagte Mrs Baxter, sie solle verdammt noch mal mit der Telefoniererei aufhören, damit das verdammte Krankenhaus sie erreichen könne. Mr Baxter gab Gil eine Orange. Mrs Baxter überlegte, ob sie ihre Tochter in Cheltenham in England anrufen sollte, aber da war der Zeitunterschied.

Gil starrte die Orange in seiner Hand an.

Lass sie durchkommen. Lass sie durchkommen. Lass sie durchkommen.

Bill Nord steht im Wasser und blickt zum Rettungsboot hinaus. Die Menge hält den Atem an. Birgit bekommt nichts mit und schwimmt weiter, der Sieg ist ihr sicher. Zwei andere Schwimmerinnen haben den Wettkampf abgebrochen und schwimmen auf der Stelle. Die dritte liegt weit zurück. Das Rettungsboot schwankt heftig, als die Männer Silvia an Bord ziehen. Der Jubel der Menge ist irrsinnig. Gil wird erst mitjubeln, wenn Silvia an Land ist.

Lass sie durchkommen. Lass sie durchkommen. Lass sie durchkommen.

Sie waren die Station hinuntergegangen, er und Mrs Baxter. Sie waren an Mums Bett vorbeigelaufen, obwohl ihr Name doch auf einer weißen Tafel an der Wand über ihr stand.

Dawn Hurley.

Klein, blass und jung sah sie aus, mit Kissen im Rücken und in einem Krankenhaushemd. Sie zitterte, als flösse ein leichter Strom durch sie hindurch. Sie wollte eine Zigarette. Sie wollte etwas Kaltes zu trinken, für ihren Hals. Sie hatte aufgesprungene Lippen, und seitlich an ihrem Mund konnte man sehen, wo die Schläuche in sie hineingeführt hatten. In ihrem Handrücken steckte eine Nadel, an der ein Tropf angeschlossen war, und sie trug ein Plastikarmband mit ihrem Namen. Mrs Baxter hatte ihr bei Target ein neues Paar Pantoffeln gekauft, und Mum machte sich hinter dem Rücken des alten Mädchens über sie lustig. Gil hasste sie dafür.

Als sie gingen, fasste Mum Gil beim Arm und zog ihn zu sich heran. Ihr Atem roch schlecht. Sie flüsterte in sein Ohr. Sie sagte, es sei ein Unfall gewesen. Sie sagte, sie würde ihn nie allein lassen. Er wisse das, oder? Dass er ihre ganze Welt sei?

Mrs Baxter wusch Gils Sachen, alle, und bügelte sie. Mrs Baxter bügelte alles, weil das Bügeln sie bei Verstand hielt. Tischdecken, Unterhosen, Vorhänge, Geschirrtücher, Mr Baxters Unterwäsche und Taschentücher. Gils gründlich gewaschene Sachen machten den Unterschied. Das und dass Mum einen Rock trug und sich die Haare zu einem Knoten hochband wie eine organisierte Sekretärin. Ja, sie könnten zusammenbleiben, sagte das Sozialamt, es gebe einen Betreuungsplan. Mum hatte eine Mappe mit all ihren Terminen, die auf dem Weg nach draußen im Müll landete. Noch am selben Abend verließen sie die Stadt. Zeit, sich von Mrs Baxter zu verabschieden, blieb keine.

Silvia ist an Land. Die Menge applaudiert, auch Gil. Sie schüttelt Hände wie eine Berühmtheit. Lässt sich wie eine Heldin auf die Schultern klopfen. Jemand gibt ihr ein Bier, ein Handtuch. Gil drängt sich vor, getrieben vom Bedürfnis, sie zu berühren, um sich zu versichern, dass sie tatsächlich überlebt hat. Als sie seine Hand auf dem Arm spürt, dreht sie sich um und nimmt Gil rasch in den Arm. Er schluchzt gegen ihren Hals, dann ist sie weg.

Die Inselbewohner begleiten die Schwimmerinnen in bester Laune den Anleger hinunter. Ist es nicht toll, dass keine von ihnen ertrunken ist? Das Versorgungsschiff erscheint als kleiner Punkt am Horizont, und Birgit, noch im Schwimmzeug, verschwindet in ihrer Hütte. Die anderen Wissenschaftler haben die Ausrüstung bereits heruntergeschleppt und sind abfahrbereit. Sie warten rauchend auf dem Anleger.

Das Versorgungsschiff legt an. Ostervorräte für die Insel werden ausgeladen, und die Wissenschaftler gehen mit ihren in Kisten verstauten Fundstücken und allem anderen an Bord. Birgit kommt den Anleger herunter, begleitet von Bill Nord, der sie wie eine Königin aufs Schiff geleitet. Sie trägt Kakishorts, ein Männerhemd und ihren breitkrempigen Hut. Ihr Haar ist in der Vormittagssonne fast schon wieder getrocknet. Sie sieht sich um, als suchte sie in der Menge nach jemandem. Gil duckt sich hinter einen Tisch für den Fall, dass er es ist.

Das Versorgungsschiff legt ab. Bill Nord steht mit erhobener Hand auf dem Anleger, ganz ernst und vornehm wie eine Gestalt aus alter Zeit. Er hat immer noch seine Schiedsrichterpfeife um den Hals hängen.

Gil sieht, wie sich Birgit von der Insel abwendet und aufs offene Meer hinausblickt.

Er sitzt auf einer Kiste, in der Nähe von einigen Leuten, aber nicht bei ihnen. Es ist ein Platz, von dem er alles im Blick hat, die Mums, wie sie herumglucken und ohne Unterlass reden, und die Männer mit ihren Bierflaschen, die mehrere Grills in Gang setzen. Es raucht ganz fürchterlich.

Roper und seine wilden Kumpane lassen sich nicht weit weg nieder. Sie reden darüber, ob Birgit ihn tatsächlich für ein Wochenende der Leidenschaft ins Hotel in Gero bestellen wird. Ropers Ohren glühen, sein Lächeln ist forciert. Er ist zutiefst beleidigt, kann es aber nicht zeigen. Silvia treibt durch die Menge, immer noch mit einem Handtuch um die Schultern, und erzählt wieder und wieder die Geschichte von ihrem beinahe tödlichen Krampf. Gil bekommt einen Burger und isst ihn, ein Auge immer bei Ropers Jungs, die zu ihrem Vater gerannt sind. Der Große, Paul, steht schlecht gelaunt neben dem Stuhl seines Vaters, der Kleine, Mikey, rennt zwischen den versammelten Männern herum. Starre jemanden lange genug an, und er guckt zurück. Gil sollte das wissen.

Gil sieht sich über die Schulter. Mikey rennt auf und neben dem Pfad. Paul stampft verbissen hinter ihm her und versucht ihn einzuholen.

»Warte, verfickte Scheiße!«

Gil beschleunigt seinen Schritt, versucht aber nicht zu rennen. Rennen löst eine Art Instinkt in so einem Jungen aus. Paul kommt auf Gils Höhe, rot im Gesicht, aber er hält mit. Gil sieht die Schweißflecken auf seinem zu engen T-Shirt.

»Du wohnst beim alten Hurley.«

Gil geht weiter.

»Ist er ’ne Tunte wie du?«

Gil geht weiter.

»Deine Mum hat sich selbst die Lichter ausgeknipst, oder?«

Gil geht weiter.

»Und du hast es wochenlang keinem erzählt, du kranker Wichser.«

Mikey kommt näher an seinen Bruder heran und lässt ein Heulen hören.

»Halt die verfickte Fresse, Mikey.«

Mikey dreht ab und grinst. Gil wird schneller.

»Warte, ja?« Paul kommt mühsam mit. »Wie sah sie aus, als sie verfaulte?«

Gil wird noch schneller.

»Du trägst die Klamotten von deiner Granny, oder?«

Mikey lacht wild.

»Tunte!« Paul spuckt.

Mikey nimmt das Wort auf: »Tunte, Tunte, Tunte.«

Gil rennt jetzt. Eine ätzende Übelkeit steigt in ihm auf. Sein Herz rast. Er sieht sich um. Mikey rennt noch immer herum. Paul ist stehen geblieben und würgt Rotz aus den Tiefen seiner Seele.

»Halt dich fern von uns«, schreit er, »oder Dad nimmt dich mit raus aufs Meer und ersäuft dich!«