KAPITEL 30
1989
Gil sucht sich jetzt ruhige Zeiten zum Herumstreifen, spätabends oder vor Sonnenaufgang. Solange es hell ist, bleibt er im Camp. Gil hat keine Angst vorm Dunkeln oder vor Geistern, die in der Dunkelheit umgehen. Oder sagen wir, er hat weniger Angst vor der Dunkelheit und den Toten als vor den Lebenden – jetzt, wo die ganze Insel weiß, dass er ein Freak ist, der in den Kleidern seiner Granny herumläuft.
Er kann nur raten, wie es Ropers Kinder herausgefunden haben, und er hasst Silvia dafür.
Gil wandert durch die Nacht und sieht die Überbleibsel geschäftiger Tage. Von Grillpartys und Strandpicknicks. Manchmal, wenn er sich im Camp verkrochen hat, glaubt er, lärmende Stimmen und Lachen zu hören, und der Geruch von verbranntem Fleisch wird vom Wind herangetragen.
Meist liegt er auf dem Bett und liest in Birgits Buch über die Batavia.
Was ist übrig von dem mächtigen Schiff und all den Menschen? Kieferknochen und Tonscherben, silberne Bettpfosten und vom Meerwasser durchtränktes Holz.
Man kann die Dinge berühren, die sie berührt haben, oder ein Stück von einem Menschen in der Hand halten. Man kann den Brief eines Priesters lesen, der dabei war, oder das Tagebuch des Oberkaufmanns.
Nichts von alledem war leicht zu finden. Die Kanonen unten auf dem Grund des Meeres haben Hunderte Jahre darauf gewartet, entdeckt und ans Licht gebracht zu werden. Das Zeug da unten wurde von Korallen überwuchert und musste sorgsam freigelegt werden. Die Überbleibsel an Land haben Nest bauende Seevögel durcheinandergebracht. Die Wissenschaftler mussten alles mühsam zusammensetzen, Stück für Stück.
Gil stellt sich die Überlebenden vor. Normale Leute, die wahrscheinlich über das Wetter klagten, und dass sie Fisch mit zu vielen Gräten essen mussten. Und als das Wasser knapp wurde, haben sie sich gegenseitig totgeschlagen. In Birgits Buch ist ein Foto von einem Schädel, dem ein Stück fehlt. Der Mann wurde im Weglaufen getötet, wie sie denken. Wenn man seinem Schädel zuhören würde, ihn wie eine Muschel an sein Ohr hielte, würde man womöglich das Klirren von Schwertern und ein Gluckern hören, und dann ein dreihundertsechzig Jahre langes Nichts. Warum soll es die toten Holländer nicht sauer gemacht haben, als die Fischer kamen, und die Wissenschaftler, um ihre alten Knochen auszugraben und zu versuchen, ihre Geschichte zu erzählen?
Irgendwann zwischen sehr spät und sehr früh beugt sich Gil aus dem Fenster und stellt die Sporttasche nach draußen. Dann steigt er auf seine Nachttisch-Kiste und klettert hinterher. Das ist leiser, als den Flur hinunter und durch die Küche zu knarzen. Draußen dann kann er nichts gegen das Knirschen seiner Schritte auf dem Kies tun. Es ist eine helle Nacht, und so umkreist er die Insel einmal, mit Enkidu in der offenen Sporttasche, damit die Schildkröte die Sterne sehen kann. Gil kennt die Wege so gut, dass er kaum einmal stolpert, selbst im Dunkeln nicht. Der Trick ist, all seine Sinne zu benutzen. Katzen und andere Nachttiere wissen das. Sie haben die Augen weit offen, die Ohren gespitzt, die Fühler zucken, und ihre Pfoten suchen vorsichtig Halt. Bei Nacht ist die Welt eine andere als bei Tage und fühlt sich auch anders an. Wind und Luftbewegungen werden von der Haut gelesen, und die Erde setzt ihre Gerüche frei.
Gil geht den alten Steg hinunter und steigt vorsichtig in das flache Boot. Er stellt Enkidu ab, gibt Leine, und das Boot treibt davon, bis ihr Ende erreicht ist. Wahrscheinlich guckt Little May vom Ufer aus zu. Sie würde keine weitere Seereise riskieren. Manchmal denkt Gil daran, die Leine loszumachen und das Boot davontreiben zu lassen. Über den Fundort des Wracks hinaus und immer weiter. Weg von den Zähnen des Riffs. Sie würden biblischen Stürmen trotzen und der The Sea Tortoise vertrauen. Es würde Katastrophen geben: verlorene Ruder, vergessene Dosenöffner, Haie. Aber am Ende würden sie an einem fernen Ufer stranden, mit viel Grün, Kokosnüssen und menschenleer.
Gil sieht hinauf zu den teilnahmslosen alten Sternen. Und die teilnahmslosen alten Sterne blinzeln kalt und unnahbar zurück.
Besuche in der Hütte der Wissenschaftler sind äußerst gefährlich. Der Anleger ist der geschäftigste Teil der Insel. Expeditionen müssen vor Tagesanbruch unternommen werden, bevor die Fischer zu ihren Booten gehen. Die Hütte der Wissenschaftler ist nicht abgeschlossen.
Drinnen riecht es muffig. Das durch die Fensterläden fallende Mondlicht zeichnet ein Muster auf den Boden. Gil hält die Taschenlampe niedrig und ruhig. Sich bewegendes Licht zieht Aufmerksamkeit auf sich. Wenn er drinnen das Mondlicht sieht, könnte jemand draußen auch das Zucken seiner Taschenlampe sehen.
Die Hütte der Wissenschaftler wirkt verlassen. Die verbliebene Ausrüstung haben sie in Kisten gepackt, die in den Ecken aufgestapelt stehen. Die Regale sind leer, die Fundstücke nicht mehr da. Das Geschirr auf dem Abtropfgestell ist mit einer Schicht Staub bedeckt. Aus dem Wasserhahn kommt nichts, die Zufuhr aus dem Tank ist zugedreht. Einige der Merkzettel sind von der Pinnwand verschwunden. Wo sie hingen, sind dunkle Stellen und Löcher im Kork. Das stählerne Etagenbett im Zimmer, in dem die Männer geschlafen haben, ist ohne Matratzen.
Gil zieht den Reißverschluss der Sporttasche auf und lässt Enkidu frei herumlaufen. Im Licht der Taschenlampe checkt er seine Liste.
Erste-Hilfe-Kasten.
Leuchtsignale.
Karte.
Die Erste-Hilfe-Kiste ist bei der Tür an die Wand geschraubt. Drinnen ist hauptsächlich Verbandszeug. Sonst kann er nichts von seiner Liste finden, aber er wird die Kappe mitnehmen, die er im Zimmer mit dem Etagenbett gefunden hat. Vorne drauf steht Monaco. Er öffnet das Campingbett in der Ecke, das Birgit benutzt hat. Es riecht noch leicht nach ihren Continentals. Er legt sich darauf und lauscht dem herumkrabbelnden Enkidu und dem Klopfen seines Panzers gegen die Wände, während sein Freund das Terrain erkundet.
Gil wacht spätmorgens auf, glaubt er der Uhr auf dem Regal. Zu spät, um ungesehen zurück in Joss Hurleys Camp zu kommen. Draußen sind Stimmen zu hören, das schrille Jammern eines Kindes, das tiefe Poltern eines alten Mannes und das scharfe Blaffen einer Mum. Gil wird hierbleiben und es aussitzen müssen.
Enkidu schläft unter einem Stück Plane. Gil sitzt im Schneidersitz neben seinem Freund. Er leckt über einen Finger und malt ein Bild von Enkidu in den Staub auf dem Boden. Dann eines von sich selbst. Enkidu ist viel größer als er. In Wirklichkeit wäre der danach so groß wie ein kleines Auto. Gil würde noch mal neu anfangen, nur hat er jetzt den sandigen Geschmack des Staubs in seinem trockenen Mund.
Gil starrt ewig durch das Loch in Dutchs Hexenstein, sieht aber nur die Decke, nichts Magisches. Nichts passiert, nur dass Enkidu nach einer Weile wieder aufwacht. Er gibt seinem Freund eine halbe Dose Kondensmilch, die er im Schrank gefunden hat. Enkidu guckt ihn an, als wollte er sagen: Ich bin keine verdammte Katze.
Es dämmert, als Gil die Tür zur Hütte der Wissenschaftler einen Spalt weit öffnet. Niemand zu sehen. Die Fischer werden zu Hause bei ihren Familien sein. Die Boote sind am Anleger festgemacht, der Fang ist sortiert, die Ausrüstung weggepackt. Selbst die Ramona wird wieder da sein, Dutch in der Hütte stehen und kochen, Joss auf der Veranda sitzen und dösen. Gil schiebt die Sporttasche hinter das Campingbett. Er wird ohne überflüssigen Ballast gehen und darauf hoffen, unbemerkt ins Camp zurückzukommen.
Gil hält Enkidu auf dem Arm. Ruhig und waagerecht, weil Enkidu nicht gerne in Schräglage ist. Die frische Luft nach dem Tag in der Hütte fühlt sich gut an. Die Insel ist in gelöster Stimmung. Gil hofft, einen Seeadler zu sehen, eine Robbe, ein paar interessante Seevögel.
Die Sonne ist hinter ihnen, sodass Gil Ropers Jungen erst sieht, als sie direkt auf ihn zukommen, vom Wasser herauf. Sie haben ihr Schwimmzeug an, ihre Haare sind noch nass, und Paul trägt Fußballschuhe, ohne Socken. Mikey ist barfuß, aber es scheint ihm nichts auszumachen.
Paul sieht Gil mit zusammengekniffenen Augen an. »Was ist das?«
»Nichts.«
Mikey flitzt heran. »Lass mich sehen!«
»Zeig sie ihm. Es ist eine Schildkröte, Mikey.«
Gil hält Enkidu etwas tiefer, damit der kleine Junge sie besser sehen kann. Mikey streckt einen Finger aus und will dagegenstoßen.
»Nicht so«, sagte Gil. »Du musst vorsichtig sein.«
»Ich will sie halten!«
»Gib sie ihm!«
Gil sieht entsetzt, wie das Ganze enden wird. Paul ist offenbar nicht mehr gelangweilt, sondern bösartig interessiert. Es war ein Fehler von Gil, zu zeigen, dass ihm die Schildkröte wichtig ist.
»Gib mal!«, sagt Paul.
Mikey verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und streckt den Finger wieder aus. Er stößt gegen Enkidu, der in Gils Händen mit den Beinen rudert. Der Junge dreht sich weg und schreit.
»BAH! BAH! BAH!«
»Halt’s Maul!«, sagt sein großer Bruder. »Verfickt.«
Gil überlegt, ob er wegrennen soll, aber es könnte schiefgehen, und Enkidu kann es nicht ausstehen, durchgeschüttelt zu werden.
»Gib mal.«
Gil gibt Paul die Schildkröte. Enkidu sieht zurück zu ihm. Panik ergreift sein armes, altes Gesicht, der Kopf zuckt zur Seite.
Paul dreht die Schildkröte achtlos um.
Vorsichtig!, möchte Gil schreien. Vorsichtig!
Paul hebt Enkidu vor sein Gesicht. »Hallo, du kleiner Scheißer. Abartiger kleiner Scheißer.«
Gil erträgt es nicht. »Du hast sie gesehen. Gib sie wieder her.«
Ropers Junge lächelt. »Sag Bitte, Schwuchtel.«
»Gib sie mir bitte zurück.«
»Fleh mich an.«
»Ich flehe dich an.«
Ropers Junge lächelt. Er wird die Schildkröte zurückgeben. Immer noch lächelnd lässt er sie fallen und tritt schnell und mit aller Kraft zu. Es gibt einen dumpfen Schlag, als sein Fußballschuh sie trifft. Enkidu fliegt im hohen Bogen durch die Luft und landet mit einem abscheulichen Knacken mit dem Bauch nach oben auf den Steinen. Paul lacht. Mikey dreht sich im Kreis.
Gil, der sich mit einem Mal wieder bewegen kann, hebt seinen Freund auf und rennt.
Joss sieht von seiner Zeitung auf. Gil hätte fast die Fliegentür aus den Angeln gerissen. Er schluchzt mit der Schildkröte im Arm – Enkidu! –, die sicher schon tot ist. Sie hat die Beine eingezogen, ein bisschen von ihrem Kopf ist noch zu sehen, der Panzer ist gebrochen. Aus dem gezackten Riss quillt Blut.
Joss steht auf und nimmt dem Jungen die Schildkröte vorsichtig aus den Händen.
Sie wird auf dem Küchentisch verarztet. Joss legt die Schildkröte auf ein sauberes Handtuch und wischt, was aus ihr hervorquillt, sorgfältig mit nasser Watte weg. Er nimmt ein paar Streifen Verbandsmull und medizinischen Kleber. Gil geht in die Hocke und spricht mit der Schildkröte, auch wenn sich sein Freund immer noch im Panzer versteckt. Dutch ist mit heißem Wasser bei der Hand, wie im Film. Er kocht Tee, den sie mit viel Zucker trinken werden. Ein irisches Hausmittel bei Schock und Katastrophen.
»Enkidu, kannst du mich hören?«, flüstert Gil. »Du kommst wieder in Ordnung.«
Joss legt den Mull in dünnen Streifen über die Risse. Er bestreicht sie mit Kleber, den er vorsichtig in sie hineinreibt. Als er fertig ist, wischt er alles Überschüssige mit einem Lappen ab. Ganz sanft nimmt er die Schildkröte und setzt sie in die Schachtel, die Dutch mit einem zusammengefalteten Handtuch vorbereitet hat.
»Jetzt trinken wir diesen Tee, Dutch«, sagt er.
»Genau.«
Gil und sein Großvater sitzen am Tisch, die Schachtel zwischen sich.
»Du musst ihn an einen ruhigen, dunklen Ort stellen.«
»Danke.«
Der alte Mann sieht zu Dutch, dann wieder zu Gil. »Du könntest Grandpa zu mir sagen, wenn du wolltest.«
Gil nickt. Dutch an der Spüle lächelt in die Teedose.
»Wie geht es dir?«, fragt Joss. »Gilgamesch, dem Kriegerfürsten?«
Gil verzieht das Gesicht und schämt sich, dass da schon wieder Tränen kommen.
Joss steht auf. Er legt dem Jungen eine Hand auf die Schulter. Gil weint.
Gil liegt auf seinem Bett. Er sieht zu, wie Enkidu in einem Nest aus Kissen schläft. Draußen auf der Veranda beginnt Dutch ein leises Lied auf seiner Gitarre zu spielen.
Überzeugt, dass sein Freund sicher ruht, geht Gil hinaus. Dutch klopft auf die Bank neben sich. Gil setzt sich.
»Wo ist er?«
»Er macht einen Spaziergang. Wie geht es Enkidu?«
Gil zuckt mit den Schultern.
»Wir haben getan, was wir tun konnten«, sagt Dutch. »Das Schicksal des tapferen Enkidu liegt jetzt in Gottes Hand.«
Gil sieht aufs Meer hinaus. »Ich hätte ihn verteidigen sollen.«
»Vor einem Jungen, der doppelt so groß ist wie du«, fragt Dutch. »Und gemein wie eine verdammte Ratte?«
»Trotzdem«, sagt Gil.
»Edler Gilgamesch. Wenn es Gerechtigkeit auf dieser Welt gibt, wird dein Freund überleben.«
Später steht Joss in der Tür. Er wankt ganz leicht, und als er weiter in Gils Zimmer kommt, riecht der den Schnaps im Atem seines Großvaters.
Joss legt etwas aufs Fußende des Betts. Gil sieht zwischen den Wimpern hindurch zu und bleibt völlig reglos liegen. Er muss an die Male denken, wenn Mum den Weihnachtsmann gespielt hat. Nächtliches Rascheln und leise Flüche wegen angehauener Zehen, und zurück blieben gefüllte Fußballsocken oder Kissenbezüge.
Joss geht wieder, streicht über den Türrahmen, sieht noch einmal zurück und schließt leise die Tür.
Gil streckt die Zehen aus. Da liegt etwas auf seiner Decke. Er setzt sich auf, um nachzusehen, und findet grünen Brokat, ordentlich zusammengelegt, üppig und festlich im Licht seiner Taschenlampe.