KAPITEL 55
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An diesem Morgen ist das Krankenzelt leer, nur Aris schiebt blutiges Bettzeug mit einem Stecken zum Feuer am Eingang. Mayken läuft zu ihm. Er hält einen Finger an die Lippen und schüttelt den Kopf. Vom Rauch des Feuers laufen ihm Tränen übers Gesicht.
Mayken sucht die ganze Insel nach John Pinten ab. Da ist ein Steinhaufen, und da ist einer, nur kann sie sich nicht erinnern, welche neu und welche alt sind. Und würden sie die Ermordeten begraben oder einfach ins Meer rollen? Das machen sie jetzt auch. Sie geht den Uferpfad entlang und sucht das Wasser ab für den Fall, dass er da irgendwo im Flachen liegt. Mit einem der in ihren Rock eingenähten Edelsteine hat sie Vasthouden ein Begräbnis gekauft. Ein flaches Grab unter Steinen, ausgehoben von einem Netzflicker.
Keine Spur von dem englischen Soldaten. Kein Knopf, kein Haar.
Sie erträgt den Gedanken nicht, zurück ins Prädikantenzelt zu gehen. In der beklommenen Düsternis zu sitzen und dem nervösen Gebetsgeflüster zu lauschen. Bei jedem Geräusch zusammenzufahren. Sie bleibt draußen bei den kreisenden Seevögeln, dem Wind und den Wellen.
Als sie zu ihrem alten Unterschlupf in den Büschen mit den flatternden Bändern kommt, ist da Jan Pelgrom.
Er sitzt unter den Zweigen, geduckt und schief mit seinen langen untergeschlagenen Beinen. Er ist dünner denn je, obwohl es ihm als Diener des Kommandanten besser geht als den meisten hier. Als Cornelisz’ Anhänger ihren Treueeid auf ihn geschworen haben, haben sie wunderbare Materialien bekommen, um sich Kleider zu schneidern, roten Wollstoff, Goldborten und silberne Spitze, auch Pelgrom. Er hat sich einen Kragen genäht und einen kurzen Umhang. In seinem Aufzug sieht er aus wie der Hund eines Straßenhändlers. Er winkt sie herein.
Es ist feuchtkalt in Maykens Unterschlupf mit dem Bett aus Seetang. Vor dem Eingang sind noch die aschfahlen Geister ihrer kleinen Feuer zu sehen. So wie sie dahocken, berühren sich ihre Knie und Schultern fast. Pelgrom hält eine ihrer Muscheln in der Hand, und Mayken widersteht dem Drang, sie ihm aus der Hand zu schnappen. Aber die Muschel spielt nur eine untergeordnete Rolle in ihrem Spiel vom Haarlemer Markt, sie ist ein Straßenhändler, vielleicht auch eine fette Taube.
»Du weißt, dass es keine Hengste, Rosen und Marmorhäuser für dich geben wird, liebe Mayken?«
Mayken macht sich daran, ihre wichtigen Muscheln auf ihre Seite zu holen.
»Es gibt keine Rettung«, sagt er. »Wir kommen hier niemals weg.«
Sie nimmt die sternförmige Smoert-Muschel.
»Und nach Rechnung unseres ehrenwerten Kommandanten reichen unsere Vorräte nur noch zwei Wochen angesichts der gegenwärtigen Anzahl Menschen auf der Insel.«
Sie nimmt Vasthouden, das wunderbar gesprenkelte Turbanschneckenhaus.
»Verstehst du, was er zu tun versucht?«
Sie nimmt John Pinten, die stachelige Anemone.
»Der Kommandant will diese Insel von Verrätern reinigen. Verrätern, die unsere Vorräte und unser Essen stehlen. Stell dir das vor! Wer würde, wenn es nicht genug für alle gibt, den Hungrigen etwas stehlen? Den Schwachen?«
Pelgrom greift nach einer weiteren Muschel und dreht sie in seiner Hand. Sie stellt einen unbeliebten Haarlemer Metzger dar.
Sein Gesicht verändert sich, es verliert alle Spannung, und seine Stimme klingt plötzlich matt. »Ich will etwas beichten. Hörst du mir zu?«
Mayken antwortet nicht.
»Weißt du, was auf der Robbeninsel passiert ist?«
Mayken hat Gerüchte gehört, und Lichter sind schon lange nicht mehr zu sehen.
»Sie sind hingefahren und haben alle Männer umgebracht«, sagt er. »Die Frauen haben sie am Leben gelassen. Die Schiffsjungen sind weggelaufen und haben sich versteckt.«
Mayken betrachtet die Muscheln auf ihrem Schoß. Sie benennt sie im Stillen, Vasthouden, John Pinten, Smoert …
»Ich bin mit ihnen wieder hin, um beim Säubern zu helfen. Wir haben den Frauen die Kehlen durchgeschnitten und sie ins Wasser gezogen. Die Jungen haben wir erstochen und ihnen die Köpfe eingeschlagen.«
Sie will, dass er aufhört.
»Ich habe deinen Freund umgebracht, Mayken. Ich habe den Küchenjungen getötet.«
Es geschah kurz vor Tagesanbruch. Ein Überraschungsangriff, sagt Pelgrom. Als er zuschlug, habe er, Jan Pelgrom, geschrien und geschrien, als täte es ihm selbst am meisten weh. Smoert habe einen verletzten Fuß gehabt, so sei es leicht gewesen, ihn zu fangen. Er, Pelgrom, habe an Robben gedacht, als er den Jungen ins Meer zog. Wie sie im Wasser spielen, eine gut gelaunte Schar, und an ihre lieben Hundegesichter.
Pelgrom schluchzt. Er drückt sich die Fingerknöchel in die Augen und holt tief Luft. Dann sieht er sie mit einem tränennassen Lächeln an. Er deutet auf den Eingang zu ihrem Unterschlupf. »Ich habe die Sachen für dich da hingelegt.«
Pelgrom war die gute Seele. Mayken wendet den Blick ab.
»Bleib hier. Verstecke dich. Ich bringe dir, was du brauchst.« Sein Ton ist eindringlich. »Versprich mir, dass du nicht zurück ins Zelt des Prädikanten gehst.«
Pelgroms Knie kratzen über die Korallenstücke, die einen Teil von Haarlem darstellen. Er reißt die Kirche und ein Eckhaus ein.