KAPITEL 60
1989
Er hat Mum nicht angefasst, sie nur angesehen. Hauptsächlich ihre Füße, die gegen das Ende der Couch drückten. Die dunklen, pflaumenfarben lackierten Nägel. Mit der Zeit wurden ihre Füße schmaler und knotig wie Wurzeln. Blass, grünbläulich. Aber vielleicht lag das auch daran, wie das Licht durch die Vorhänge fiel.
Er lauschte für den Fall, dass Mum sich wieder zu bewegen begann und nach ihm rief. Für den Fall, dass sie versuchte, sich auf ihre verdrehten Füße zu stellen, durchs Zimmer zu gehen und die Klinke herunterzudrücken.
Wusstest du, dass deine Mutter tot ist, Gil?
Warum hast du keine Hilfe geholt, Gil?
Gab es niemanden, dem du es sagen konntest, Gil?
Die freundliche Polizistin versuchte, ihn zu verstehen. Sie lächelte, um Gil zu zeigen, dass sie auf seiner Seite war – als wollte sie sagen, wer bin ich, dass ich dich verurteile?
Es waren die Fliegen, die es verrieten. Wie sie sich am Fenster die Köpfe einrammten. Mums Chef zog sich den Hemdsärmel herunter, bedeckte Mund und Nase damit, schob Gil zur Seite und ging den Flur hinunter. Er würgte, als er zurückkam, wankte wie ein Betrunkener und starrte Gil einfach nur an.
Gil könnte in ein Kinderheim gehen. Mit regelmäßigen Schlafenszeiten. Und vielleicht ein paar Freunde finden. Auch ohne Mum, nimmt Gil an, muss er nicht wie alle sein. Mit Mum war es ihm egal, ob er komisch war. Sie hatte ihn so gemacht oder es aus ihm rausgeholt. Er muss nur immer daran denken, dass er einzigartig ist und sie ihn alle mal können.
Da er nicht schlafen kann, geht er hinaus. Er hat Angst, aber sollte er auf Roper treffen, wird er wegrennen. Er ist schnell und kennt alle Pfade. Er klopft Enkidu zum Abschied auf den Panzer und klettert aus dem Fenster.
Er geht zum Lumpenbaum und setzt sich, den Weg voll im Blick. Am Himmel zucken Blitze, einer erleuchtet den Horizont, aber das Meer bleibt finster, voller böser Absichten. Er kann die geisterhaften Einzelheiten der Geschenke für Little May erkennen. Den verrosteten Kreisel, die vom Wetter gezeichneten Puppen, die ausgeblichenen Bären. Er fragt sich, was sie davon hält. Er sieht die Bänder im Busch flattern. Die aufgehende Sonne wirft Bahnen aus Licht aufs Wasser. Sie sehen aus wie Makrelenstreifen. Gil wird plötzlich kalt, und er steht auf und stampft sich Leben in die Füße. Er nimmt den Hexenstein aus der Tasche, legt ihn behutsam unter den Busch und verabschiedet sich, obwohl doch niemand da ist.
Der Wind trägt den Geruch von Feuer heran. Mal stärker. Mal schwächer. Gil bleibt stehen, geht zurück, ändert die Richtung, um die Quelle zu finden.
Draußen auf dem Wasser, ein Stück vom Ufer entfernt, liegt Ropers Boot vor Anker und brennt. Die Flammen wüten vom Bug bis zum Heck. Asche treibt in die Höhe, wechselt die Richtung und fällt ins Meer. Eine schwarze Rauchwolke steigt auf. Ein Signal, das man meilenweit wird sehen können.