Kapitel 6
Warum immer ich«, murmelt Molly leise vor sich hin, während sie überlegt, wie viel sie für Annas Kleid noch verlangen kann, damit wenigstens Mariechen satt wird. Aber nein, es ist zu abgetragen und mottenzerfressen. Motte müsste man sein, die finden in jedem Schrank etwas zu essen. Sie setzt sich auf die Bettkante, das Kleid über den Knien.
Die Schaulustigen gehen ihr nicht aus dem Kopf. Ihre glühenden, sensationslüsternen Gesichter. Wie sie am Kanalufer gestanden und darauf gehofft haben, mehr zu sehen zu bekommen, um etwas zu erzählen zu haben. Mehr Tod, mehr Tragödie. Obwohl Molly ja aus eigener Erfahrung weiß, wie wunderbar einen das Elend anderer vom eigenen ablenkt. Zumindest für eine kurze Zeit. Das kann überlebenswichtig sein in dieser Stadt voller Elend und Hunger und Gerüchten von der Lungenseuche, die hinter jeder Ecke lauerte. Wie oft hat Molly sich schon am Elend anderer durch den eigenen Tag gehangelt. Im letzten Jahr hat sie gesehen, wie ein Bauernbursche unter einem schweren Pferdekarren zerquetscht wurde. Seine verzweifelten Schreie hatten ihre Gedanken von den Freiern abgelenkt, die mit ungewaschenen Geschlechtsteilen bei ihr lagen, mindestens zwölf an jedem Abend, selbst am Sonntag. Heute gibt es nichts, das Molly ihr Elend vergessen lässt. Nichts, das ihren Zorn bändigen könnte.
Wer auch immer ihrer Schwester das angetan hat, darf nicht ungeschoren davonkommen. Sie sieht ihn vor sich, den Dichter, diesen niederträchtigen Schurken mit dem langen Zinken. Molly wird bei seiner Hinrichtung in der ersten Reihe stehen, sie wird ihn anspucken, ihn anschreien, bis sie keine Luft mehr in den Lungen hat.
Da, ein Geräusch. Ein leiser, kaum hörbarer Laut.
»Ist da jemand?«, fragt Molly, greift nach ihrem Hurensäbel, der Haarnadel, und sieht sich um.
Keine Antwort. Dort ist nichts als der im letzten Nachmittagslicht tanzende Staub. Und doch hat sie das ungute Gefühl, nicht allein zu sein. Ist Annas Seele noch im Zimmer? Molly hängt das Kleid zurück und öffnet das Fenster, um Staub und Seele ins Freie zu entlassen. Sie glaubt eigentlich nicht an solche Dinge. Wenn Anna tatsächlich eine Seele hat, die außerhalb ihres Körpers weiterexistiert, wäre sie wohl kaum in diesem Raum geblieben, sondern bei Mariechen, um ihr tröstende Worte ins Ohr zu flüstern. Oder auf dem Weg heim nach Onsevig, um am Grab des Vaters ihren Frieden zu finden.
Aber was weiß denn sie schon von solchen Dingen? Sie hat keine Ahnung vom Leben nach dem Tod. Genauso wenig wie vom Leben vor dem Tod. Sie weiß nur, dass Anna und die kleine Marie ihr leidtun.
Und sie selbst sich auch, wagt sie für einen ganz kurzen Augenblick zu denken.
Drei lange Tage hat sie versucht, die Polizei davon zu überzeugen, nach Anna zu suchen. Sie hat vorm Gerichtsgebäude in der Schlange gestanden und mehreren Wachmännern ihr Anliegen vorgetragen, von denen der eine oder andere wusste, dass sie eine Dirne ist. Die anderen haben es spätestens erfahren, als sie ihre Meldepapiere vorzeigen musste. Keiner von denen hat sie ernst genommen. Nur ein älterer, pflichtbewusster Beamter hat sich Zeit für sie genommen. Er hat sich sogar Notizen gemacht, als Molly ihm von Annas Verschwinden erzählt hat und seit wann sie vermisst wird. Und alles, was sie über Andersen wusste, diesen perversen Papierschnippler, den Molly als letzten Freier des Tages zu Anna hineingehen sehen hatte.
Vor dem Fenster von Annas Kammer erzählen ein paar Leute von einer ertrunkenen Frau. Die Neuigkeiten verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Bald werden es alle wissen, tagelang wird Anna das Gesprächsthema im Viertel sein, denn nur eins lieben die Kopenhagener noch mehr als saftigen Tratsch, und das sind grauenvolle Tragödien, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Wieder spürt Molly die Wut in sich aufsteigen. Sie will nicht, dass die Leute über Anna tratschen, schon gar nicht über einem schäumenden Bier.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, lässt sie nicht los, und wieder muss sie an den großen, blassen Mann mit den Scherenschnitten denken. Er hatte sehr erschrocken und völlig entgeistert ausgesehen, als der Mob sich auf ihn stürzte.
Molly schaut sich im Raum um. Auf dem Bord über dem Bett steht eine kleine Schatulle mit ein paar wertlosen Ringen und einem flachen weißen Stein.
Unter dem Bett findet sie einen Beutel mit ein paar Habseligkeiten, für die sie im Glücksfall einen Viertelschilling bekommt. Molly findet es furchtbar, hier zu stehen und zu überlegen, was die Sachen ihrer Schwester auf dem Markt einbringen könnten. Als wäre das ihr einziger Wert. Die Kammer kommt ihr mit einem Mal fremd und bedrohlich vor. Aber vielleicht liegt das auch an der Wärme und dem heute besonders schlimmen Gestank von der Straße.
Sie fährt suchend mit der Hand durchs Bett, findet aber nichts anderes als zerknüllte Laken und das eine oder andere Schamhaar. Andenken an die vielen Freier, die zum Abzahlen der Judashöhle beigetragen haben, all die Burschen, Knechte, Kerle, Männer, die sie gestreichelt und geschlagen hat, geblasen und geleckt, gekratzt, gebissen und gevögelt. Und nun ist Anna tot – und alles war umsonst. Molly wirft die Haare aus dem Fenster und versucht, nicht an ihr Leben zu denken. Das alles taugt nichts, sie muss nach vorne schauen, sich etwas einfallen lassen, wie sie überleben kann. Für die kleine Marie.
Neben dem Bett steht eine Kiste mit Schwefel und Hölzern und eine Flasche, deren Inhalt wie Schlamm aussieht und nach Scheiße stinkt. Die Kiste steht dort seit dem letzten Winter, als Anna glaubte, sie könnten ihrem Elend durch den Verkauf selbst gemachter Schwefelhölzer entkommen. Das schwarze Elixier hatten sie einem englischen Händler abgekauft, der behauptete, daraus ließen sich die besten Streichhölzer machen, viel besser als die alten, und dass sie ein Vermögen damit verdienen könnten. Aber die Herstellung der Streichhölzer war viel zu umständlich und der Winter zu mild. Trotzdem war die Idee gut gewesen. In einer klammen, kalten Februarnacht hat niemand Geduld für alte Feueranzünder und feuchtes Brennholz, Zähneklappern und Kälte sind gnadenlose Feinde, schlimmer als Einsamkeit, das hat Molly am eigenen Leib erfahren. Die Furcht vor der Einsamkeit treibt den Menschen an, seltsame Dinge zu tun, wie dafür zu zahlen, zu Frauen ins Bett zu steigen, die einen hassen. Aber die Kälte übertrifft alles. Eine mondblasse Winternacht lässt Menschen wie kranke Wölfe heulen oder sich erfrorene Gliedmaßen abschneiden. Selbst Großmütter würden für einen kurzen Augenblick an einem wärmenden Ofen töten. Solche Nächte wären der richtige Rahmen, um Schwefelhölzer und sommertrockenes Brennholz zu überhöhten Preisen zu verkaufen. Leider hat es im letzten Winter keine solche Nacht gegeben, weshalb sie nun auf einem Pfund Schwefel, Hölzern, dem magischen Elixier und Sägespänen sitzen, die im Sommer völlig wertlos sind, weil kein Mensch weiter als einen Tag nach vorne schauen kann. Molly beschließt, Annas Schwefelholzkiste zu behalten. Vielleicht kann sie im nächsten Winter mit der Not anderer Geld machen.
»Tante? Bist du das?«, ist Mariechens Stimme zu hören.
Molly antwortet nicht, sie will nicht, dass die Kleine in die Kammer kommt.
Sie hört Salomine etwas Beruhigendes sagen. Die Alte hat einen Narren an dem Mädchen gefressen und passt gerne auf sie auf. Anna war immer dagegen, weil Salomine oft krank ist und Marie sich leicht ansteckt. Außerdem flucht Salomine wie ein Bierkutscher, und obwohl das hässlich und nur ganz selten komisch ist, saugt Marie alles wie ein trockener Schwamm auf und erinnert sich an jedes einzelne Wort. Sie konnte schon Arschloch, Pimmelrotz und Mösenjucken sagen, bevor sie ihren eigenen Namen aussprechen konnte. Darum wollten sie ja hier weg und das Gasthaus übernehmen. Mariechen sollte Lesen und Rechnen lernen, die Hühner im Hinterhof versorgen und die Einnahmen zusammenrechnen, wenn der letzte Gast sich verabschiedet hatte. Sie sollte das schreckliche Leben in der Ulkegade hinter sich lassen und vergessen. Aber was wird jetzt aus Mariechen werden? Und aus Molly? Und wie soll Molly der Kleinen beibringen, dass ihre Mutter nicht zurückkommen wird? Molly hat ihr erzählt, dass Anna heim nach Onsevig gefahren ist und bald zurückkommen wird. Sie bringt es nicht übers Herz, die grausamen Worte auszusprechen: Deine Mutter ist tot . Aber es wird nicht lange dauern, bis die Huren im Haus die Gerüchte von Annas Tod gehört haben, so auch Salomine, und spätestens dann wird Mariechen es erfahren. So ist das.
Molly nimmt ein anderes Kleid aus dem Schrank, das sich hoffentlich verkaufen lässt, schließt die Schranktür und rafft die anderen Habseligkeiten zusammen.
Da sieht sie vor der Wand ein Tuch auf dem Boden liegen. Hat Anna das dort fallen lassen? Als Molly es aufhebt, erkennt sie, dass es ein Schal ist, den sie noch nie gesehen hat. Sie klopft den Staub von dem Stoff. Der hübsche Schal ist dicht gewebt, mit einem Muster, das an Fische oder Tropfen erinnert. Solche Tücher kriegt man nicht beim Krämer, eher in der vornehmen Boutique in der Østergade, wo Molly so gerne vor dem großen Schaufenster stehen bleibt. In eine Ecke des Tuchs sind drei Buchstaben gestickt. Sie erkennt ein A, weil das der erste Buchstabe vom Alphabet und Annas Namen ist, bei den anderen beiden ist sie sich unsicher. Sie schnuppert an dem Tuch, es duftet fremd und merkwürdig. Das ist bestimmt wertvoll, denkt sie. Allein schon die Seide. Das reicht für eine Woche Abendessen für sie und die kleine Marie. Seltsam, Anna hätte doch sicher davon erzählt, wenn sie von einem Freier so ein kostbares Geschenk bekommen hätte. Und sie hätte es niemals achtlos fallen lassen. Dem Scherenschneider gehört der Schal auf jeden Fall nicht. Er ist ein Kauz mit abartigen Gelüsten, aber so vornehm ist er nicht. Molly sieht sich noch einmal die drei Buchstaben an, ohne schlau daraus zu werden, und bindet sich schließlich das Tuch um den Hals. Sie öffnet die Tür, duckt sich unter dem Sperrschild der Polizei hindurch und schließt die Tür hinter sich. Auf dem Gang ist es still, die Sonne spiegelt sich auf den Fensterscheiben des Nachbarhauses, als die Frau gegenüber sich aus dem Fenster lehnt, um Wäsche an die Leine zu hängen.
Molly versteckt den Sack mit Annas Habseligkeiten in ihrer Kammer. Vielleicht kann sie die Sachen morgen für ein paar Schillinge verkaufen, wenn sie die passenden Kunden findet, einen Bauern vom Land oder einen einfältigen Stallburschen, der ein Geschenk für seine Verlobte sucht. Beim Krämer fällt sicher weniger für sie ab, der will ja selbst damit Gewinn machen. Ihr schlechtes Gewissen meldet sich. Anna ist kaum tot, gerade eben erst aus dem Wasser gezogen worden, und schon rechnet Molly sich ein Geschäft mit ihren Sachen aus. Aber sie tut das für die Kleine. Außer etwas Trockenfisch haben sie seit vorgestern nichts mehr gegessen. Wenn sie die Sachen verkaufen kann, reicht es vielleicht für etwas Brot und Fleisch.
Sie tritt in Salomines Kammer und sieht Mariechen auf der Bettkante sitzen. Salomine selbst liegt auf dem Stroh.
»Erzähl nicht zu wilde Geschichten, Salomine, wenn ich dich nicht ins Zuchthaus schicken soll.«
Molly nimmt die kleine Marie auf den Arm, als ihr ein Gedanke kommt.
»Salomine, du kannst doch lesen, oder?«
»Selbstverständlich kann ich lesen, ich komm ja nicht von Lolland!«, sagt die Alte.
Molly zeigt ihr den Seidenschal.
»Die drei Buchstaben … der erste ist ein A, nicht wahr?«
Die alte Dirne kneift die Augen zusammen und hält den Schal am ausgestreckten Arm gegen die Sonne.
»A V K.«
»AVK ? Was bedeutet das?«, fragt Molly.
»Das sind Initialen.«
»Ini-was?«
»Initialen. Von dem, dem der Schal gehört. Du weißt schon. Alberte Viggo Knudsen zum Beispiel.«
Molly steht mit Mariechen auf dem Arm da und denkt über Salomines Worte nach. Sie kennt keine Alberte Viggo Knudsen. Salomine reicht Molly das Tuch, die mit Marie in ihre eigene Kammer geht. Am Ende des Flures sieht sie eine Gestalt, wahrscheinlich einen Freier, über die Treppe nach unten verschwinden. In der Luft hängt ein ganz schwacher, ungewöhnlicher Duft. Derselbe Duft wie in dem Schal. Sie will nicht weiter grübeln, der Scherenschneider ist, wo er hingehört, für ihn ist nur das Schlimmste gut genug. Später sitzt Molly neben der Kleinen auf der Bettkante und denkt über die Buchstaben nach, während sie sich das neu gelernte Wort auf der Zunge zergehen lässt. Initialen . A und V und K.
AVK .