Kapitel 23
Es sieht aus wie ein Schmuckkästchen aus dem Orient, nur der Inhalt passt nicht dazu. Das Kästchen liegt in Madame Kriegers Händen, sie ist vollkommen ruhig, überzeugt davon, dass der Finger des Jungen den Vater beeindrucken wird. Erst wollte sie ihn in den Briefumschlag stecken, war dann aber zu dem Schluss gekommen, dass es so besser ist.
Erst der Brief und die Vereinbarung des Treffens.
Dann der Finger, um den Arzt vollends davon zu überzeugen, wie ernst sie es meint. Gerade in der Konfrontation kommt es darauf an, sein Gegenüber davon zu überzeugen, dass man den Willen zum Sieg hat. So viel hat sie gelernt. Der Ausgang eines Kampfes entscheidet sich, bevor die Schlacht beginnt.
»Mein Herr«, sagt der Wachmann am Tor, legt den Finger an den Hut und lässt sie auf die Straße treten, wo sie dem Zaun, der sich um den Rosenborg Garten zieht, folgt. Ihre Verkleidung wirkt. Das ist gut. Der Ort ist mit Sorgfalt gewählt. Das solide Gitter zwischen Straße und Garten gibt ihr Sicherheit, und von dem Ort, an dem sie steht, sieht sie jederzeit, ob sich jemand nähert.
In diesem Moment taucht der Arzt unter den dicht belaubten Bäumen auf und wirft einen Blick auf seine Taschenuhr. Es ist kurz vor fünf, er ist unruhig. Um fünf Uhr beginnt er, auf und ab zu gehen. Kurz nach fünf nimmt er den Hut ab und tupft sich mit einem Tuch die verschwitzte Stirn ab. Er flucht.
Madame Krieger wartet, um sicherzugehen, dass er allein ist und sich an ihre Forderung hält. Die Frau des Arztes ist nicht dabei, ebenso wenig die Polizei. Er scheint auch niemanden angeheuert zu haben, sich in den Büschen zu verstecken.
»Benyamin«, sagt sie und tritt an das sie trennende Gitter. Zuerst reagiert er nicht. Vermutlich ist er es nicht gewohnt, beim Vornamen genannt zu werden.
Sie ruft den Namen noch einmal lauter: »Benyamin!«
Er dreht sich um und erblickt sie, sichtlich überrascht, dass das Treffen auf diese Art stattfinden soll – getrennt durch ein Gitter –, und kommt zögernd näher.
»Sie sind das!«, sagt er und legt die Finger um die Gitterstangen, als wollte er sie auseinanderbiegen.
»Ich war in all Ihren Vorlesungen, trotzdem bemerken Sie mich erst jetzt.«
»Wo ist er?«
»Halten Sie den Mund«, sagt sie und freut sich, dass es ihr so leicht gelingt, den so wortgewandten Mann zum Schweigen zu bringen. Sie reicht ihm das Kästchen.
Er sieht es lange an. Als spürte er bereits, dass der Inhalt ihn beunruhigen wird. Dann öffnet er es.
Ein Schrei kommt über seine Lippen. Ähnlich dem seines Sohnes. Er faucht und beginnt schließlich zu schluchzen.
Ein Mann kommt angelaufen. Er gehört zu einer Gruppe, die in der Nähe Hufeisen werfen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt er.
»Jaja«, sagt der Arzt verbissen und wischt sich den Mund ab. »Alles in Ordnung.«
»Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein. Lassen Sie uns in Ruhe«, sagt der Arzt.
Der Mann ist erst überrascht, dann spuckt er auf den Kies, dreht sich um und geht erzürnt zu den anderen zurück und berichtet ihnen, dass er nur helfen wollte und als Dank von diesem Juden auch noch beleidigt wurde.
»Das ist … widerwärtig. Sie sind ein Unmensch«, faucht der Arzt. »Mein Sohn hat Ihnen nichts getan. Lassen Sie ihn gehen. Dann können wir reden.«
»Ich habe Sie um Hilfe gebeten. Um Ihre Barmherzigkeit«, flüstert Madame Krieger. »Aber Sie wollten nicht hören.«
»Er stirbt, wenn ich ihm nicht helfe«, sagt der Arzt.
»Nein, er stirbt, wenn Sie mir nicht helfen.«
»Mein Isak, mein kleiner Prinz!« Der Arzt verbirgt sein Gesicht in seinem Taschentuch.
Das Schluchzen verrät Madame Krieger, dass der Widerstand des Arztes endgültig gebrochen ist. Er hat aufgegeben, seine Niederlage eingesehen. Er kann an nichts anderes mehr denken, als seinen Sohn zurückzubekommen. Lebendig.
Er nimmt das Tuch weg und sieht sie an.
»Was soll ich tun? Wollen Sie Geld? Ich kann Ihnen Geld beschaffen, Gold, sagen Sie mir, was Sie wollen.«
»Ich will weder Gold noch Geld.«
»Tun Sie das, weil wir Juden sind?«
»Nein«, sagt sie. »Damit hat das nun wirklich nichts zu tun. Bis auf Weiteres sollen Sie einfach nur das tun, was Sie immer tun.«
»Das kann ich nicht. In meinem Haus steht alles kopf. Meine Frau hatte gestern einen Zusammenbruch. Ich kann nicht arbeiten. Wir haben überall Suchmeldungen aufgehängt.«
»Sagen Sie Ihrer Frau, dass Ihr Sohn in Sicherheit ist. Bei mir. Alles ist gut. Er wird in einer Woche zurückkommen. Wenn Sie tun, was ich sage.«
»Und das wäre?«
Madame Krieger sieht am Gitter entlang. Zwei Männer kommen auf sie zu. Sie sehen kräftig aus, tragen Mützen. Polizei?
»Haben Sie jemandem von unserem Treffen erzählt?«, fragt Madame Krieger.
»Nein! Niemandem«, antwortet der Arzt ängstlich.
Trotzdem stimmt mit diesen Männern etwas nicht. Die Art, wie sie gehen, als versuchten sie, etwas zu verbergen, als wollten sie bewusst entspannt wirken. Sie beginnt, in die andere Richtung zu gehen.
»Wollen Sie jetzt etwa gehen?« Der Arzt folgt ihr auf der anderen Seite des Gitters. »Lassen Sie mich meinen Jungen sehen. Ich bitte Sie. Lassen Sie mich seinen Finger verbinden. Dann tue ich alles, was Sie von mir wollen.«
»Nehmen Sie den Finger mit nach Hause. Und warten Sie auf eine Nachricht. Ich werde Sie holen lassen.«
Der Arzt sieht Madame Krieger entgeistert an.
»Wie können Sie so etwas tun? Was habe ich verbrochen?«
»Nichts«, sagt Madame Krieger und bleibt kurz stehen. »Ich würde sogar sagen, dass ich Sie bewundere. Sie haben mir gezeigt, was möglich ist. Und jetzt ist die Zeit gekommen, da Sie es der ganzen Welt zeigen können. Bleiben Sie hier. Folgen Sie mir nicht. Sollte mir etwas zustoßen, stirbt Ihr Sohn.«
»Mein Sohn.«
Der Arzt bricht erneut in Tränen aus und sackt auf die Knie.
»Nutzen Sie die Wartezeit, um zu üben.«
»Was üben?«
»Das, worüber wir gesprochen haben«, sagt Madame Krieger verärgert. Manche Menschen denken wirklich nur an sich selbst.
»Was … worüber haben wir gesprochen?«
»Über meine Schwester. Darüber, ihr ihre Weiblichkeit zurückzugeben und sie wieder zu der zu machen, die sie in Wahrheit ist.«
Madame Krieger geht über die Straße. Sie folgt der Dronningens Tværgade und sieht sich an der Ecke noch einmal kurz um, bis sie sicher ist, dass weder der Arzt noch jemand anderes ihr folgt.
Die Dämmerung bricht herein. Die Wächter zünden die Lampen an, und die Händler am Nytorv packen ihre Waren zusammen und gehen nach Hause. Die Kastanien vor der Hauptwache beugen sich unter dem Gewicht der im Dämmerlicht grün leuchtenden Früchte.
Ein Gefühl des Glücks übermannt sie, ihr Plan scheint aufzugehen. Sie hat den Arzt in der Hand und den Jungen als Absicherung. Jetzt fehlt ihr nur noch die Frau. Die Ankleiderin der Prinzessin. Die sie von Anfang an hatte haben wollen.