Kapitel
25
»Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?«
Hans Christian hält die Zeichnung vor sich. Jetzt werden sie erfahren, ob die Zeichnung ihren Zweck erfüllt und sie die geheimnisvolle Frau finden können.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagt der Mann, der Uhrmacher oder Tabakhändler sein könnte. Sein Backenbart ist grau, hinter seinem Gürtel steckt eine lange Pfeife. »Sieht ein bisschen aus wie meine Frau in jungen Jahren, aber das wird kaum diejenige sein, nach der ihr sucht. Tut mir leid.«
Der Mann geht weiter.
Hans Christian und Molly wechseln sich mit dem Fragen ab. Männer und Frauen, Junge und Alte, alle, deren Weg durch die enge Gasse führt. Und jedes Mal bekommen sie in leichten Abwandlungen die gleiche Antwort: Kopfschütteln, ein unfreundliches Nein, ein Schulterzucken.
Molly ist vor einem Laternenpfahl stehen geblieben und sieht sich ein Plakat an. Hans Christian liest über ihre Schulter mit. Gesucht wird nach einem kleinen Jungen, der im Vergnügungspark verschwunden ist. Der Sohn eines Arztes. Es ist eine Belohnung ausgelobt für den, der ihn findet. Gefolgt von der abschließenden Aufforderung, den Jungen in die abendlichen Gebete einzubeziehen.
Und wer betet für Hans Christian? Einen unschuldigen Mann, der eines schweren Verbrechens beschuldigt wird? In der Gasse kommen sie nicht weiter. Der Plan mit der Zeichnung ist erfolglos.
»Das führt zu nichts«, sagt Molly und setzt sich auf eine Steinstufe.
Hans Christian sieht sie an. Für einen Lidschlag sieht er die
Erschöpfung seiner Mutter in Mollys Zügen.
»Bist du sicher, dass sie Ähnlichkeit mit der Waschfrau hatte?«, fragt Molly.
»Ganz sicher«, sagt er. »Lass uns zurück zu ihrer Kammer gehen, vielleicht kommt sie noch einmal dorthin zurück. Oder wir fragen die Nachbarn, ob jemand die Frau auf der Zeichnung kennt.«
Molly schüttelt den Kopf.
»Wenn die beiden Frauen sich so ähnlich sehen, wie du sagst, werden die Bewohner der Borgergade natürlich die tote Waschfrau wiedererkennen, wenn du ihnen deine Zeichnung zeigst. Wenn wir sie finden wollen, müssen wir hier bleiben, wo du sie aus den Augen verloren hast.«
Die Schatten werden länger, bald wird es ganz dunkel sein. Mit der Dämmerung liegt plötzlich ein Hauch von Herbst in der Luft, Wolken senken sich auf die Stadt herab.
Molly hat recht. Sie ist praktischer veranlagt als Hans Christian. Und im Moment haben sie keinen anderen Anhaltspunkt. Sie suchen die Umgebung nach Bewohnern ab, die sie fragen können. Die Zeichnung beginnt zu verwischen, nachdem sie durch so viele Hände gegangen ist und immer wieder auf- und zusammengefaltet wurde. Und jetzt fallen auch noch ein paar schwere Regentropfen darauf und drohen sie ganz zu zerstören.
Eine kleine Frau läuft gebückt an der Mauer entlang. Sie meidet routiniert die Stellen, an denen der Regen in kräftigen Strahlen von den Dächern spritzt.
»Frag sie«, sagt Molly und stößt Hans Christian einen Ellbogen in die Seite. »Alte Frauen sehen und erinnern sich an alles.«
»Entschuldigen Sie, gnädige Frau. Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?«, fragt Hans Christian und muss sich bücken, um ihr die Zeichnung zu zeigen. »Es ist sehr wichtig, dass ich sie treffe.«
Die Frau sieht die Zeichnung an, dann Hans Christian und
schließlich Molly.
»Die habe ich noch nie gesehen«, sagt sie und geht kopfschüttelnd davon.
»Sie lügt, so wahr ich hier stehe«, flüstert Molly ihm ins Ohr. Ihr warmer Atem streicht über seine Wange, sie ist ihm näher, als ihm seit sehr langer Zeit eine Frau war. Ein Kribbeln läuft ihm den Rücken hinunter.
»Ja, das Gefühl habe ich auch«, sagt er und sieht der Frau hinterher.
»Komm«, sagt Molly. »Wir folgen ihr.«
Hans Christian spürt, dass sie sich etwas nähern. Am liebsten würde er losrennen. Molly hält ihn mit einem beherzten Griff zurück.
»Nicht Hals über Kopf losstürzen, sonst geht es wie beim letzten Mal.«
Hans Christian bleibt stehen, wohl wissend, dass Molly wieder einmal recht hat. Er fällt auf wie ein Reiher in einer Wasserpfütze.
»Lauf du hinter ihr her, ich folge euch mit ein wenig Abstand«, schlägt er vor.
Molly stimmt ihm zu und läuft allein voraus. Ein Paar ist in der Menschenmenge schneller wiederzuerkennen als eine einzelne Frau. Molly schlüpft leichtfüßig zwischen den vornehmen Herren und Damen mit ihren aufgespannten Schirmen hindurch, vertraut mit dem Rhythmus der Straße. Überhaupt ist sie viel lebendiger, viel interessanter als irgendeine der Frauen, die er kennt. Ihr Gesicht lebt, wenn sie spricht oder nachdenkt, man sieht es ihr an, die wachen Augen, die Pupillen, die sich wie bei einer Katze zusammenziehen, wenn sie ihn ansieht …
Der Regen fällt jetzt dichter. Ein paar Fischer laufen los und suchen Schutz in einem Wirtshaus.
»Alles in Ordnung?« Molly ist zurück und zieht an seinem Ärmel. »Ich habe gesehen, wo sie reingegangen ist.«
Er folgt ihr durch die Gasse, in der Bleiche-Marens Doppelgängerin verschwunden ist. Etwa in der Mitte bleibt sie vor ein paar aufeinandergestapelten Kisten und Fässern stehen. Molly schiebt sie ein Stück zur Seite und zeigt auf die Tür, die kaum als Tür bezeichnet werden kann, es ist eher eine Luke, durch die Waren ein- und ausgeladen werden.
Hans Christian fährt mit der Hand über das Holz, ertastet mit den Fingern das Kreuz, das er am Abend zuvor dort eingeritzt hat.
»Molly, hier ist es«, sagt er und hofft, dass die Luke sie einer Aufklärung und Antwort näherbringt. Damit er von dem Verdacht freigesprochen wird, sie Annas Mörder zu fassen bekommen und Molly ihren inneren Frieden findet.
»Sollen wir?«, fragt Molly.
»Nach dir«, sagt Hans Christian.
Sie stemmt sich gegen die Luke, die nur langsam nachgibt. An den Seiten des dahinter liegenden Absatzes sind ein Paar Kufen angebracht, um Handkarren leichter über die Schwelle schieben zu können. Hinter der Tür ist kein Haus, sondern ein sechskantiger, von den Rückseiten der Häuser geformter Innenhof. Der Boden ist mit großen Steinen gepflastert, das Muster erinnert an Muscheln. Es ist dunkel, nur ein paar Fenster weiter oben sind erleuchtet.
Außer ihnen ist kein Mensch zu sehen. Es gibt keine Türen, keine Winkel zum Verstecken, nichts.
Und keine alte Frau.
»Wo ist sie abgeblieben?«, fragt Molly. »Sie kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen.«
Hans Christian hält den Atem an. Zuerst die Tote in der Fäkaliengrube, die eine Doppelgängerin hat. Und nun eine alte Frau, die sich wie ein Geist in Luft auflöst. Er geht an den Mauern entlang auf der Suche nach einer verborgenen Tür oder einem Griff, der den Weg zu einem geheimen Gang öffnet. So wie in den Abenteuergeschichten,
die er gelesen hat. In Victor Hugos neuestem Roman findet der Krüppel ständig neue Geheimtüren in der Kirche von Paris.
Aber in diesem Innenhof in Kopenhagen gibt es nichts.
»Bist du sicher, dass es hier war?«, fragt er.
»Ganz sicher«, antwortet Molly. »Sie ist hier reingegangen.«
»Sei kurz still«, sagt Hans Christian und lauscht.
»Sei selbst still, du redest doch.«
»Schhh«, sagt er. Vielleicht hören sie die Frau in ihrem Versteck jammern oder husten. Weit weg ist Musik zu hören, das Brüllen eines störrischen Esels und der Regen, der in dicken Rinnsalen von den Dächern plätschert. Er folgt dem Lauf des Wassers, das in sechs abgesenkten Rinnsteinen in die hintere Ecke des Hofs geleitet wird, wo es durch ein Loch verschwindet. Er bückt sich und erkennt schemenhaft den Handgriff an einer Bodenklappe. Ohne zu zögern, umfasst er den Griff, zieht die Klappe hoch und starrt in ein tiefes schwarzes Loch. Das Wasser rauscht an den Seiten herunter. Der moderige Geruch von Katakomben und Grabkapelle strömt ihm entgegen.
»Da wird sie doch wohl nicht runtergegangen sein?«, sagt Molly und schaut wie Hans Christian in das dunkle Loch. »Was ist das überhaupt? Ein Brunnenschacht oder Keller?«
»Das ist ein Tunnel«, sagt Hans Christian aufgeregt. »Wie in dem Vers vom Latrinenmann. Wir sind auf der richtigen Spur.«
Plötzlich blitzt unten im Tunnel ein Licht auf.
»Was war das?«, flüstert Molly. »Eine Kerze? Eine Fackel?«
Er nickt. Auch er hat das Licht aufscheinen sehen. Jetzt ist es nicht mehr da. Jeder Zweifel ausgeschlossen, die Frau ist auf diesem Weg durch den unterirdischen Tunnel verschwunden. Er kniet sich vor den Einstieg, schiebt den Kopf und einen Arm in die Dunkelheit, tastet den Rand ab.
»Was machst du da?«, fragt Molly ängstlich. »Was hast du vor?«
»Sie hat diesen Weg genommen.« Seine Finger tasten über die Schachtwände und finden einen Metallbügel, dann noch einen, wie die Sprossen einer Leiter. »Und wir werden ihr folgen«, sagt er und schiebt seine langen Beine in den Schacht.
»Warte«, sagt Molly und läuft zurück zu der Eingangsluke. »Ich besorge uns eine Kerze oder Lampe, damit wir nicht im Dunkeln herumtappen. Ich bin gleich zurück.«
Er bleibt auf dem Rand des Einstiegs sitzen und hofft im Stillen, dass die alte Frau jeden Moment an einem der Fenster zum Hinterhof auftaucht und sich als ganz gewöhnliche Krämerfrau erweist, die nichts von Waschfrauen und Huren mit abgeschnittenen Brüsten weiß. Rotes Blut auf blasser Haut. Wenn Weiß sich in Rot verwandelt. Es wurmt ihn, dass er noch immer keinen Sinn in die wirren Reime des Latrinenmannes bringen kann. Vielleicht hat er sie ja ganz falsch gedeutet. Vielleicht erwartet sie dort unten das Grauen. Er mag gar nicht daran denken.
Kurz darauf ist Molly zurück mit einem Talglichtstummel und einem Schwefelholz.
»Das zünden wir unten an.«
Hans Christian atmet tief ein, sein Herz pocht.
»Was bedeutet Ewigkeitsduell?«, fragt er.
»Ist das jetzt wichtig?«, fragt Molly.
»Das ist die letzte Zeile aus dem Vers des Latrinenmannes«, erklärt er. »Wird im finsteren Tunnel aus Weiß erst Rot, finden wir im Ewigkeitsduell – ich weiß nicht mehr, gegen wen – den Tod. Ich verstehe einfach nicht, was das heißen soll.«
»Wir haben den Tunnel gefunden. Wir sind auf der richtigen Spur. Ich bin direkt hinter dir.«
Hans Christian setzt den Fuß auf die erste Eisensprosse, sie gibt leicht nach.
Ein Duell zwischen Gut und Böse, zwischen Mut und Furcht, denkt
er. Ein niemals endender Kampf zwischen den Toten und den Lebenden. Über ihm verschwindet das Licht aus Mollys Gesicht. Gleich darauf hat die Dunkelheit ihn verschluckt.