Kapitel 26
Madame Krieger folgt der Ankleiderin jetzt schon den ganzen Tag.
Sie ist gut gekleidet, sticht aus der Gruppe heraus, aber Ankleiderinnen kennen sich ja auch mit Kleidern aus. Vielleicht hat der Prinz deshalb ein Auge auf sie geworfen. Sie ist besser gekleidet als die Prinzessin, die mit ihrem roten Kleid wie eine Kirchenglocke aussieht, und die beiden langweiligen Hofdamen, denen jeder Sinn für Farbe und Form fehlt.
Johanne hingegen ist so elegant und leichtfüßig, dass es Madame Krieger nicht leichtfällt, sie aus ganzem Herzen zu hassen. Ihr Haar ist so seidig, der Hals schlank und weiß wie bei einer Marmorstatue. Und die Brust wohlgeformt und straff gebunden und vorn am Dekolleté mit einer Schleife verziert. Wie ein Geschenk, das danach verlangt, geöffnet zu werden. Madame Krieger kann die Augen nicht von ihr wenden. Johanne unterhält sich angeregt, und wenn sie mit den anderen lacht, bebt und wippt ihr Busen unter dem Korsett, sodass Madame Krieger vor erregter Wut und Vorfreude kocht. Das letzte, noch fehlende Detail, dann hat sie alles. Beim vorigen Mal ist ihr die Ankleiderin auf unerklärliche Weise entwischt, aber heute, heute wird es klappen.
Am Nachmittag hat sie nach dem Jungen gesehen. Er lag wie ein krankes Tier am Boden des Käfigs. Eigentlich hätte er etwas essen müssen, aber sie konnte sich nicht aufraffen, ihn zu füttern. Bevor sie gegangen ist, hat sie die Fesseln und den Knebel nachgezogen. Sicherheit ist wichtiger als Mitgefühl.
Jetzt darf nichts mehr schiefgehen. Der Arzt ist bereit. Die Experimente durchgeführt.
Die Prinzessin und ihr Gefolge verschwinden immer wieder in den Läden auf der Silke- und Sværtegade. Madame Krieger bleibt in der Nähe und tut so, als interessiere sie sich für die Schaufensterauslagen oder die auf der Straße ausgestellten Waren der Händler. Sie sieht zu, wie die Prinzessin eine Unzahl von Hüten anprobiert, Handschuhe, Stiefeletten, ja sogar Korsetts. Ihre Ankleiderin bleibt geduldig und lächelt, sogar als die Prinzessin in einem Kleid stecken bleibt und der Textilhändler sie schließlich mit einer Schere aus dem Stoff befreien muss.
Jetzt verlassen sie die Konditorei, wo sie Sahnetorte gegessen haben, und flanieren über die Lille Kongensgade. Die Prinzessin voraus, gefolgt von den Hofdamen. Johanne bildet das Schlusslicht.
Es beginnt zu regnen. Madame Krieger grüßt einen Kadetten, der wegen ihrer Uniform salutiert hat, verhält sich ansonsten aber so unauffällig wie möglich.
Die Damen der kleinen königlichen Gesellschaft öffnen ihre Regenschirme, dann hört sie eine der Hofdamen Johanne zurufen: »Wir müssen uns beeilen. In einer Viertelstunde läuten die Glocken.« Sie laufen über die Straße in Richtung Kongens Nytorv, wo es von Menschen nur so wimmelt. Spaziergänger fliehen vor dem Regen, während die Händler hastig ihre Waren verpacken. Madame Krieger sieht das rote Kleid der Prinzessin aufblitzen, als das Gefolge im Königlichen Theater verschwindet.
Natürlich, das Theater. Deshalb sind sie in den letzten Stunden mehr oder weniger um den Platz gekreist.
Madame Kriegers erster Impuls ist, ihnen zu folgen, doch dann hält sie inne.
Wie will sie im Theater jemanden entführen? Der Ort ist zu belebt, zu viele Augen. Und die Hauptwache liegt gleich nebenan. Andererseits könnten das Dunkel des Theaters, die Unterhaltung und die ablenkenden Geräusche es ihr auch erleichtern, Johanne in die Finger zu bekommen – im Vergnügungspark hat ihr schließlich auch der Aufruhr um die entflohenen Affen geholfen, den Jungen zu entführen. Mit etwas Glück und Dreistigkeit lässt es sich vielleicht anstellen. Sie muss Johanne im Theater betäuben und dann nach draußen tragen. Sollte sie dabei von einem Ordner aufgehalten werden, könnte sie vorgeben, die Frau sei ohnmächtig geworden und müsse zu einem Arzt oder an die frische Luft gebracht werden. Es würde niemanden verwundern, dass ein junger Offizier sich einer jungen Dame annimmt und sie nach draußen trägt.
»Eintrittskarten für die Abendvorstellung? Acht für eine, vierzehn für zwei.«
Madame Krieger dreht sich um. Die schneidende Stimme gehört einer Frau, die unter einem Dachvorsprung am Theatergebäude lehnt. Sie hat ein hässliches Kind auf dem Arm, ein anderes hockt neben ihr auf dem Boden. »Kaufen Sie bei mir, bei mir sind die Karten günstiger.«
»Was kostet ein Logenplatz?«, fragt Madame Krieger.
»Die sind teurer. Zwölf Schilling für eine Karte«, sagt die Verkäuferin und spuckt aus.
Madame Krieger vergeudet keine Zeit mit Handeln. Sie drückt der Frau die Münzen in die Hand und nimmt die Karte entgegen. Dann hastet sie zum Vestibül und hält nach der Prinzessin und ihrer Ankleiderin Ausschau, aber die Frauen sind längst in Richtung ihrer Plätze verschwunden. Die Glocke hat bereits mehrmals geläutet. Bei den billigsten Plätzen in den hintersten Reihen und am oberen Rand der Galerie herrscht noch Gedränge, während die mit Veloursteppich bespannten Treppen hinauf zu den Logenplätzen fast menschenleer sind. Madame Krieger zeigt ihre Karte vor, läuft die Treppe hoch und schlüpft in die kleine Loge rechts von der Bühne, gerade als das Orchester mit dem Stimmen der Instrumente fertig wird.
Im Theatersaal ist es heiß wie in einer Schmiede.
In den Galerien über Madame Krieger und auch unten im Parkett sitzen die einfachen Leute. Kinder, Frauen und Männer. Es wird geweint, gelacht, gegessen, und hier und da sieht sie Hände unter Röcken verschwinden. Flaschen klirren, und einige Leute rufen quer durch den Saal, um ihre Plätze zu finden. Einer der Gäste stürzt fast über die Brüstung der Galerie auf die darunter stehenden Zuschauer, doch dann hebt sich der Vorhang, und alles ist vergessen.
Auf der Bühne steht ein Narr mit einem viel zu großen Hut. Die Gitarre passt nicht zu seinen kurzen Armen.
»Hört die Geschichte über Ivanhoe, den tüchtigsten aller Ritter, der jemals im Krieg zwischen der roten und weißen Rose gekämpft hat«, ruft er. »Dies ist sein Abenteuer, dies ist sein Kampf um das Herz der Angebeteten.«
Die Zuschauer pfeifen und johlen und fordern rhythmisch Ivanhoes Auftritt. Einige wenige lachen, während andere altes Brot oder intime Kleidungsstücke in Richtung Bühne werfen.
Madame Krieger ist erst zweimal zuvor im Theater gewesen, für das Singstück hat sie kein Interesse. Ihr Blick wandert zu den Logen. Grüne Öllampen werfen ihr Licht in das Theater, und der Gestank des brennenden Trans erfüllt den ganzen Saal. Madame Krieger erkennt die Prinzessin in der Ehrenloge in der Mitte, halb verborgen hinter einem rosafarbenen Fächer. Die Hofdamen sitzen rechts von ihr – und in der angrenzenden Loge entdeckt Madame Krieger die Ankleiderin. Aber Johanne ist nicht allein. Sie teilt sich die Loge mit einer älteren, recht derb aussehenden Frau, die direkt hinter ihr sitzt und den Hut aufbehalten hat. Möglicherweise eine reiche Kaufmannsgattin, der die Spielregeln des Theaters nicht bekannt sind.
Madame Krieger spürt das Blut in den Schläfen pochen. Wie soll sie zu Johanne gelangen, wenn diese Frau dort sitzt? Warum muss sie ein solches Pech haben? Doch Madame Krieger hat noch nie an Prophezeiungen oder Flüche geglaubt. Sie vertraut auf Schneiders Worte. Glaube und Aberglaube, Mitleid und Mitgefühl sind widernatürliche Eigenschaften, die der Fortentwicklung des Menschen im Wege stehen.
Ein Ritter betritt, begleitet von einem Trommelwirbel, die Bühne. Das Publikum jubelt. Auch Johanne.
Kann sie Johanne irgendwie auf den Flur locken? Aber was, wenn ein Kontrolleur die Billetts sehen will? Oder die Prinzessin etwas mitbekommt?
Der Gesang des Ritters lenkt Madame Krieger ab. Das Publikum trampelt rhythmisch.
Sie wirft erneut einen Blick zur Loge der Ankleiderin. Das Bild hat sich verändert. Die Kaufmannsfrau hat die Augen geschlossen. Sie scheint zu schlafen. Sollte das Glück ihr doch gewogen sein?
Madame Krieger springt aufgeregt von ihrem Sitz auf und läuft auf den Flur. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, an einer Wand liegen Essensreste. Madame Krieger zählt die Türen bis zur Mittelloge, in der die Prinzessin sitzt. Gleich darauf ist sie bei der Loge der Ankleiderin. Sie tritt ein und bleibt hinter dem dicken, weinroten Vorhang stehen, der die Loge von der Tür trennt. Durch den Spalt sieht sie Johanne auf ihrem Stuhl wippen und jedes Mal auflachen, wenn der Narr die Bühne betritt. Die Kaufmannsfrau sitzt links hinter Johanne. Sie bewegt sich nicht, wirkt aber nicht mehr so zusammengesunken wie zuvor. Hat sie sich im Schlaf bewegt, oder ist sie kurz davor, aufzuwachen? Vorsichtig tippt Madame Krieger der Frau auf die Schulter. Sie grunzt leise, aber das Kinn auf ihrer Brust bewegt sich nicht.
Plötzlich bricht das Publikum in Jubel aus. Beifallsstürme, ein Mann ruft: Es lebe der König! Bis zur Pause kann es nicht mehr lang dauern. Madame Krieger muss handeln, jetzt.
Vorsichtig tröpfelt sie etwas von dem Engelsatem in ihr Tuch. Nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel, sonst wacht Johanne nie mehr auf. Ihr Tod würde alles kaputt machen. Das Blut muss durch den Körper zirkulieren, sonst geht es nicht. Madame Krieger schiebt das Fläschchen zurück in die Tasche und holt vorsichtig Luft. Im gleichen Moment geht die Tür der Loge auf. Eine kleine Frau schlüpft durch den Vorhang. Sie ist so erregt, dass sie Madame Krieger nicht bemerkt, obwohl sie fast über ihre Füße stolpert.
»Ich habe überall nach dir gesucht, Johanne. Überall«, sagt sie.
»Tante? Was machst du denn hier? Du bist ja ganz durchnässt.«
»Komm mit nach draußen«, sagt die Tante mit einem Seitenblick auf die schlafende Frau. »Wir müssen reden!«
»Mach dir um die keine Gedanken. Sag mir, was los ist.« Johanne klingt ungeduldig, verärgert, dass jemand sie mitten im Theaterstück stört.
Die Tante flüstert: »Ich habe es dir gesagt. Ich habe dir gesagt, dass du aufpassen musst. Jemand hat etwas herausgefunden, du bist entdeckt worden.«
Madame Krieger bleibt regungslos stehen und spitzt die Ohren, aber die Stimmen der beiden ertrinken in der Musik und dem Säbelgeklirr, das von der Bühne heraufschallt. Sie beugt sich vor und sieht die Silhouetten der beiden Frauen. Sie sehen nervös aus, die kleine Frau hat Johanne die Hände auf die Schultern gelegt.
»Du bist entdeckt worden, er sucht nach dir«, sagt die Tante. »Sie haben eine Zeichnung von dir.«
»Wer? Was für eine Zeichnung? Du redest wirr.«
»Er hat sie mir gezeigt. Auf der Straße. Danach habe ich mich gleich auf die Suche nach dir gemacht.«
»Aber woher hat er diese Zeichnung?«
»Keine Ahnung«, sagt die Tante. »Aber der Kerl war Furcht einflößend, groß und dünn, mit Locken und einem Riesenzinken. Wenn du mich fragst, sah der aus wie der Tod persönlich.«
Madame Krieger zieht sich etwas zurück. Unten auf der Bühne ist es still geworden. Nur der Narr tanzt herum und zieht ein paar Kinder auf.
Von wem reden die beiden? Könnte das der … Scherenmann sein? Die Beschreibung würde passen. Aber haben sie den nicht ins Gefängnis geworfen?
»Hast du mit anderen gesprochen?«, fragt die Ankleiderin. »Weiß sonst noch jemand davon?«
»Nein, niemand. Ich bin sofort gekommen, als ich gehört habe, dass du hier bist. Johanne, das muss aufhören. Hörst du? Deine Mutter würde mir niemals verzeihen, wenn sie wüsste … was du tust.«
»Hör auf! Mutter war keinen Deut besser, das weißt du ganz genau. Außerdem ist jetzt bald der Maskenball. Danach reist er ab, und dann sehe ich ihn nie wieder.«
»Ich flehe dich an. Vergiss diesen Maskenball«, sagt die Tante.
»Ich muss jetzt gehen«, sagt Johanne und ist mit drei schnellen Schritten beim Vorhang und durch die Tür der Loge verschwunden, ohne Madame Krieger zu bemerken.
»Johanne! Halt!«, ruft die Alte und folgt ihrer Nichte.
Madame Krieger bleibt stehen. Allein mit der schlafenden Frau. Soll sie den beiden folgen? Nein, es ist zu still, denkt sie. Sie braucht den Lärm, das Spektakel, das die Aufmerksamkeit der Menschen gefangen nimmt. Erst als die Glocke erneut läutet und das Stück weitergeht, tritt sie auf den Flur.
An der Treppe liegen Betrunkene, auf den Stufen türmt sich der Abfall. Gedankenverloren verlässt Madame Krieger das Theater und tritt auf den Kongens Nytorv.
Was ist hier gerade geschehen?
Ist sie erneut gescheitert, oder tut sich hier eine neue, unerwartete Möglichkeit auf?
Ein Maskenball? Ein Fest, auf dem jeder, versteckt hinter einer Maske, zeigen kann, wer er wirklich ist. Das ist fast schon komisch, eine bessere Gelegenheit wird sich wohl nicht mehr bieten. Ihre letzte Aktion im Schloss war gründlich schiefgegangen. Sie hatte sich in Johannes Kammer geschlichen, aber erst als das Mädchen sie zitternd anflehte, hatte sie erkannt, dass es nicht Johanne war. Die Gesichtszüge waren ähnlich, aber die Brust des Mädchens war bei Weitem nicht so üppig, und auch an Ausstrahlung mangelte es ihr. Anschließend war sie dann noch in ein Handgemenge mit der Wache und dem Latrinenmann verwickelt worden, der ihre Pläne um ein Haar für immer zunichtegemacht hätte. Aber sie hatte ihre Lehre daraus gezogen.
Dies ist die Gelegenheit, endlich alles perfekt durchzuziehen und wieder in Ordnung zu bringen.
Ihr wahres Ich zu zeigen.
Zuvor aber muss sie diesen Scherenmann loswerden. Er darf ihren Plan nicht durchkreuzen. Er ist ihr zu dicht auf den Fersen. Ist das nur ein Zufall, oder weiß er etwas? Immerhin hat er nach Johanne gesucht. Aber wie ist das möglich? Madame Krieger hatte erfahren, dass der Wachmann im Krankenhaus gestorben war, bevor er etwas hatte sagen können. Aber stimmte das? Oder hat er doch eine Aussage gemacht, die dem Scherenmann irgendwie zu Ohren gekommen ist?
Wie auch immer es sich zugetragen hat, Madame Krieger darf kein Risiko eingehen. Sie muss zu Ende bringen, was sie angefangen hat.
Bei dem großen Maskenball im Schloss muss sie Johanne nehmen, was schon immer ihr gehört hat. Bevor es zu spät ist.