Kapitel
2
Auf dem Weg zum Schloss spürt Molly eine kribbelnde Unruhe in ihrem Körper. Sie hat noch nie für eine derart feine Stellung vorgesprochen. In ihrem Gewerbe muss man nur die Augen schließen und an etwas anderes denken können, um es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Und immer daran denken, sich vorher das Geld geben zu lassen.
Sie hat das Schloss noch nie von innen gesehen, natürlich nicht. Es ist aber nicht nur das bevorstehende Gespräch, das sie nervös macht, sondern auch Hans Christians Worte über den sehnsuchtsvollen Mörder. Sie hat nicht recht verstanden, was er damit meint. Wer bringt denn einen anderen Menschen aus Sehnsucht um?
Trotzdem glaubt sie ihm. Hans Christian sieht Dinge, die andere nicht sehen. Und wenn es einen Mörder gibt, der wegen irgendeiner Sehnsucht andere Menschen umbringt, dann wird er nicht damit aufhören, bis diese Sehnsucht gestillt ist. Und Sehnsucht hört nie auf, das weiß Molly aus eigener Erfahrung. Sie hat sich ihr ganzes Leben lang nach irgendwas gesehnt. Zuerst nach Glück und Liebe, dann nach einem besseren Leben, und jetzt nach Gerechtigkeit.
Die Sonne spiegelt sich auf dem vornehm lackierten Parkettboden der Halle. Eine Kommode mit chinesisch anmutenden Intarsien, vielleicht ja ein Geschenk des Kaisers. An der tiefroten Wandtapete hängen golden gerahmte Gemälde von Ruinen und antiken Säulen. Was manche Leute als Motiv interessant finden, denkt Molly, wo es doch so schöne, noch nicht verfallene Häuser gibt. Sie bleibt vor einem ovalen Spiegel stehen und wundert sich, wie klein sie in der eleganten Umgebung wirkt.
Ihre Finger klammern sich um das Heft, das Hans Christian für sie angefertigt hat. Wenn sie wenigstens lesen könnte, was er darin geschrieben hat. Eine lange Liste vornehmer Häuser, in denen sie gearbeitet haben soll. Auf Gut Hanherred, im Haus Corselitze auf Falster und an anderen feinen Orten, von denen Molly noch nie etwas gehört hat. Das Ganze ist von Anfang bis Ende erdichtet, aber seine geschwungene Handschrift ist hübsch anzusehen.
»Wo kommen Sie her?«, fragt die Hauswirtschafterin, eine alte Frau mit einer blau schimmernden Puderschicht im Gesicht und kalten, leblosen Augen.
»Aus Køge«, antwortet Molly. »Nicht weit von hier.«
»Danke, ich weiß, wo Køge liegt«, antwortet die Mamsell eingeschnappt. »Unter mir haben schon Mädchen aus jedem gottverlassenen Kaff im ganzen Land gearbeitet. Und diese naiven Dinger glauben allesamt, ein Leben in Kopenhagen würde sie ihrem Glück näherbringen«, sagt die Mamsell und streckt die Hand aus, ohne Molly anzusehen. Molly reicht ihr das Leumundszeugnis.
So, jetzt fliege ich auf, denkt sie. Jetzt geht der schöne Plan den Bach hinunter. Wie konnte ich nur glauben, dass eine einfache Dirne wie ich eine Anstellung am Hofe des Königs findet?
»Hm«, sagt die Vorsteherin und überfliegt die Seite mit Mollys angeblichen Dienststellen. Die Hauswirtschafterin hat Molly noch kein einziges Mal angesehen, und ihre Körpersprache signalisiert, dass Molly Luft für sie ist. Sie lässt sich viel Zeit, sieht das Heft gründlich durch und genießt es sichtlich, Molly auf die Folter zu spannen.
Molly hatte bereits eineinhalb Stunden mit einem Dutzend anderer junger Frauen in sehr viel ordentlicheren Kleidern und spitzeren Ellbogen in der großen Halle des Palastes gewartet. Bereits dort hatte sie den Eindruck gewonnen, dass das Schloss ein Ort ist, an dem alle viel Zeit haben. Niemand schien ein bestimmtes Ziel zu haben, jedenfalls keine der feinen Damen in Chemisekleidern, die an Molly
und den anderen Mädchen vorbeischlenderten, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Ganz anders als in der Ulkegade: In Mollys Welt herrschte von früh bis spät in die Nacht Trubel. Freier wollten bedient werden, und den betrunkenen Soldaten musste man das Geld aus der Tasche ziehen, ehe sie es sich anders überlegten.
Die Mamsell legt das Buch auf den Tisch, noch immer, ohne Molly anzusehen. Jetzt kommt es, denkt Molly. Jetzt kommt der Betrug ans Licht.
»Kein Zweifel, Sie haben wahrhaft Erfahrung, davon bin ich überzeugt«, sagt die Mamsell und zupft an den Fransen ihres Kleides.
Die Sonne scheint durch die hohen Fenster herein. Staub wirbelt in der drückenden Luft herum, die Luft ist unangenehm stickig.
»Offensichtlich waren Sie in ausschließlich guten Häusern. Gut Hanherred ist mir nicht bekannt, aber ohne Zweifel besser als Bregentved, wo sie, weiß Gott, warum, nicht in der Lage sind, ordentliche Dienstmädchen heranzuziehen. Und wie ich sehe, habe Sie eine positive Empfehlung von Herrn Collin. Ein sehr umsichtiger Mensch. Das scheint mir doch alles ganz ausgezeichnet.«
»Danke, Mamsell«, sagt Molly. Ihr ist gar nicht wohl in ihrer Haut. Bedrückende Erinnerungen an ihre Krankenhausjahre werden wach. Nicht die harte Arbeit, der Gestank oder der Anblick menschlichen Leidens hatte sie dort tagein, tagaus belastet, sondern es ist die Unterwürfigkeit, die vorgeschobene, verlogene Freundlichkeit, die Molly nicht erträgt. Und das ist durch ihre Arbeit noch verstärkt worden. Sie weiß besser als irgendein anderer Mensch, dass die Leute unter ihren Kleidern, egal ob elegant oder zerlumpt, am Ende gar nicht so verschieden sind.
»Also, was soll ich sagen?«, sagt die Vorsteherin und gibt Molly das Heft zurück. »Zuerst einmal gratuliere ich Ihnen zu den vorzüglichen Empfehlungen, so etwas können die wenigsten vorweisen …«
»Danke, Mamsell«, sagt Molly. »Ich werde mein Bestes tun.«
»… aber obgleich uns immer noch ein Mädchen fehlt, kann ich Sie nicht brauchen. Ich notiere hiermit, dass die Bewerberin Nummer 23 abgelehnt wurde. Der Ausgang ist dort drüben.«
Molly steht wie versteinert da und versteht die Welt nicht mehr. Warum wird sie abgelehnt? Hat die Mamsell herausgefunden, dass Molly weder schreiben noch lesen kann? Dass es sich bei dem Heft um eine in aller Hast produzierte Fälschung handelt?
»Jetzt fragen Sie sich doch sicherlich, was Sie falsch gemacht haben«, sagt die Mamsell. »Wie es sich alle jungen Mädchen fragen, die eine Absage von mir bekommen. Aber schauen Sie, nach siebzehn Jahren in diesem Haus weiß ich eins: Seeländer mögen aufgeweckte Menschen sein, aber häufig sind sie auch faul und träge. Sie sind nicht aus dem Stoff, der einen dienenden Geist nicht nur gut, sondern exzellent macht. Menschen von Fünen sind nobel, aber querulant bis ins Unerträgliche. Bornholmer sind stark, aber stur und nicht sonderlich schlau. Ein Nordjütländer kann unter Umständen brauchbar sein, aber nur der Südjütländer hat den rechten Geist, die Aufmerksamkeit und den Eifer zu dienen, wie es dieses Haus verlangt. Darum bedanke ich mich bei Ihnen und wünsche Ihnen alles Gute.«
In Molly steigt Zorn hoch. Am liebsten würde sie der Mamsell ins Gesicht spucken, und nicht nur ihr, sondern der ganzen aufgeblasenen Vornehmheit dieses Ortes und aller Leute, die hier herumlaufen. Nicht einer der vornehmen Männer und Frauen, die sich hier tummeln, wissen auch nur annähernd, was es heißt, ums Überleben zu kämpfen, um satt zu werden oder ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Mamsell hat Molly nicht ein einziges Mal in die Augen gesehen. Nicht ein Blick, keine Bestätigung, dass ihre Anwesenheit überhaupt wahrgenommen wurde. Trotzdem verneigt Molly sich und geht.
Es geht nicht um mich, denkt sie. Es geht weder um das, was ich denke, noch um meine Belange. Es geht um Anna. Darum, ihren Mörder zu finden. Das Böse zu entlarven, egal, in welchem Haus es
wohnt und wie sehnsuchtsvoll der Mörder auch sein mag.
Molly tritt hinaus in den Hof und schaut in den Saal, in dem die noch verbliebenen sieben Bewerberinnen schweigend und nervös auf das Klingeln der Glocke warten, die die Nächste hereinruft.
Ein Mädchen mit breiten Hüften erhebt sich, sucht ihre Unterlagen zusammen und trippelt nervös auf der Stelle. Sie sieht aus wie eine Kopenhagenerin, denkt Molly, vermutlich hat sie in den feinen Häusern der Stadt gedient. Ihr Gesicht strahlt angelernte Wichtigkeit aus. Die blonden Locken sitzen perfekt, die Stiefel glänzen. Sie strebt zweifellos die Stellung am Hof an, um auf andere herabsehen zu können und sich in bizarrer, aufgeblasener Selbstbeweihräucherung zu suhlen, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Da spielt es keine Rolle, dass ihre Aufgabe doch nur darin besteht, die Kotze des Königs vom Boden aufzuwischen. Molly überlegt kurz, ob sie sie warnen, ihr von dem absurden und vorurteilsbelasteten Schubladendenken der Mamsell erzählen soll, nach dem sie die Bewerberinnen beurteilt.
Da kommt ihr eine Idee. Warum versucht sie es nicht einfach ein zweites Mal, schließlich hat die Vorsteherin sie ja nicht einmal mit dem Hinterteil angesehen? Beim zweiten Versuch wüsste sie genau, was sie sagen musste. Das einzige Problem ist das Leumundszeugnis. Das kann sie kein zweites Mal vorlegen, ohne bei ihrem Betrug ertappt zu werden. Molly muss sich etwas einfallen lassen.
Sie geht zurück in den Saal und erntet wie erwartet fragende Blicke der anderen Mädchen.
»Sie will mich noch einmal sehen«, erklärt Molly und spürt die Missgunst, die ihr entgegenschwappt. Kein Lächeln, keine Glückwünsche, nur ein verächtlicher Kommentar: »Dann hat die Mamsell offenbar nichts gegen dreckige Nägel und zu große Schuhe«, sagt ein mageres Mädchen, das Molly gegenübersitzt, und wirft ihr einen finsteren Blick zu.
Die Glocke klingelt. Die nächste Kandidatin ist dran.
»Sag unbedingt, dass du von Seeland kommst«, sagt Molly. »Darum bin ich in die zweite Runde gekommen. Wie viele von euch sind von Seeland?«, fragt sie die anderen Mädchen.
Bis auf zwei melden sich alle.
»Wenn ich euch sage, dass die Mamsell selber von Seeland kommt und die übrigen Landesteile nicht sonderlich mag, verrate ich wohl nicht zu viel«, sagt Molly. »Und es ist sicher kein Nachteil, jemanden aus Bregentved zu kennen.«
Das Mädchen mit den Locken geht hinein, die anderen bleiben schweigend zurück.
Die Halle ist wirklich beeindruckend. Doch je länger Molly sich umschaut, desto mehr unschöne Details entdeckt sie: etwa, dass der Parkettboden ganz abgetreten ist von zu vielen Schuhabsätzen und die Blumen in den riesigen Vasen die Köpfe hängen lassen. Die Ecken der roten Kissen auf den Sitzbänken sind verschlissen, überall drücken Daunenkiele durch den Bezug.
Kurz darauf wird die Stille durch ein lautes Schluchzen zerrissen. Das Mädchen mit den breiten Hüften kommt heraus, ihre blonden Locken scheinen nun leicht aus der Fasson geraten. Sie läuft über den Innenhof und wird von zwei Wachen durch das große Tor gelassen.
Mollys hinterhältiger Rat scheint geholfen zu haben.
Die Glocke läutet. Das nächste Mädchen geht auf die Tür zu. Die Unruhe unter den übrigen Bewerberinnen wächst spürbar. Zwar haben sie jetzt eine Konkurrentin weniger, das Schluchzen der Lockigen weckt aber die schlimmsten Befürchtungen.
So geht es weiter, ein Mädchen nach dem anderen geht zur Mamsell hinein, und selten dauert es länger als ein paar Minuten, bis die Bewerberinnen mit gesenktem Haupt das Weite suchen und die Mamsell erneut die Glocke betätigt.
»Oh mein Gott, was soll ich denn bloß tun?«, sagt das letzte Mädchen verzweifelt. Die junge Frau ist kräftig, hat ein breites
Froschgesicht und trägt eine eng anliegende Haube. Sie sieht genau richtig aus, denkt Molly. Nicht wie die anderen mageren, steifen Mädchen, sondern wie eine, die schwere Möbel verrücken und den ganzen Tag Wäschekörbe tragen kann, ohne eine Miene zu verziehen. Doch jetzt zeichnen sich vor Aufregung rote Flecken auf ihrem Gesicht ab, und unter den Achseln hat sie zu schwitzen begonnen.
»Darf ich einen Blick in dein Heft werfen?«, fragt Molly.
Das Mädchen hält es ihr hin. Das leichte Zittern verrät ihre Anspannung.
»Ein guter Leumund«, sagt Molly, ohne ein Wort lesen zu können.
Das Mädchen verfügt garantiert über die gesuchten Fähigkeiten, das sieht man an ihren Armen und Händen. Sie kann kehren und ackern, waschen und backen, schrubben und melken, ernten und waschen und einen Knicks machen, seit sie Laufen gelernt hat. Den vollgeschriebenen Seiten nach zu urteilen, war sie bei vielen vornehmen Familien, die ihr gute Zeugnisse ausgestellt haben. Das Mädchen ist in jeder Hinsicht perfekt, echte Ware. Unter der Fuchtel der Mamsell wird sie sich wahrscheinlich zu Tode schuften und trotzdem mit schlechtem Gewissen ins Grab gehen.
»Beeindruckend«, sagt Molly.
»Ja?«, fragt das Mädchen unsicher und steht auf. Ihre Knie zittern.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagt Molly. »Warte vor dem Schloss auf mich, dann werde ich unterdessen bei der Mamsell ein gutes Wort für dich einlegen. Du möchtest nicht wissen, was dich dort drinnen erwartet.«
»Meinst du?«, fragt das Mädchen. Molly sieht die Versuchung und ein ganz klein wenig Argwohn in ihren Augen.
»Und ob«, sagt Molly. »Ich habe einen kleinen Vogel singen hören, dass möglicherweise sogar noch zwei Stellen frei sind. Das Beste wird sein, dass ich für dich spreche. Und dann komme ich raus zu dir und berichte.«
Das Mädchen strahlt Molly an.
»Würdest du das wirklich für mich tun? Tausend Dank, das ist sehr freundlich.«
Molly nickt und lächelt.
»Wie heißt du?«, fragt sie.
Das Mädchen sieht Molly verwundert an.
»Cathrine Pedersen«, sagt sie und zeigt auf das Heft. »Das steht doch da.«
»Ach, natürlich, Cathrine«, sagt Molly lächelnd und verabschiedet sich mit einer kurzen, freundschaftlichen Umarmung.
Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen sieht sie das Mädchen aus dem Saal gehen. Nein, denkt sie, solche Gefühle dürfen nicht der Suche nach Annas Mörder im Weg stehen. Ganz davon abgesehen, erweist sie dem Mädchen vermutlich einen Dienst damit, ihr die Stelle an diesem furchtbaren Ort abzuluchsen.
Sie atmet tief ein.
Sie ist jetzt Cathrine Pedersen.
Die Glocke läutet.
Molly hält die Luft an. Die letzte Chance, denkt sie und erhebt sich.