Kapitel 4
Madame Krieger sieht, wie sie sich verabschieden. Der Dichter geht in Richtung Hafen, die Dirne schlägt einen anderen Weg ein.
Sie folgt Andersen.
Er muss der Mann gewesen sein, über den die Tante der Ankleiderin im Theater gesprochen hat. Aber warum ist er mit einer Zeichnung in ihrem Viertel herumgelaufen und hat nach der Frau gefragt? Madame Krieger kann sich nicht erklären, wie er Johanne auf die Spur gekommen ist. Wie viel weiß er? Sie ist ihm in Bielkes Salon gefolgt und hat sich an den Tisch hinter ihm gesetzt, bis er schließlich aufgesprungen und in die Küche im Untergeschoss gerannt ist. Madame Krieger konnte ihm nicht dorthin folgen, hat aber herausgefunden, was der Grund für seine Aufregung war. Allem Anschein nach ging es um Zucker. Sie hat ihn und die Dirne belauscht, die in den Salon gekommen war und ihm einen Tee spendiert hatte. Kurz darauf war es dann zu der seltsamen Szene in der Küche gekommen. Irgendetwas muss dieser Andersen herausgefunden haben. Die Sache war ebenso rätselhaft wie beunruhigend.
Die Dirne war blass am Tisch sitzen geblieben und hatte auf ein Papier gestarrt, das vor ihr lag.
Als Andersen zurückgekommen war, hatte er noch aufgeregter gewirkt als zuvor, und kurz darauf waren sie unter den protestierenden Rufen des Kellners aus dem Lokal gestürzt.
»Sie können nicht einfach so gehen! Sie müssen bezahlen!«
»Ich übernehme das«, hatte Madame Krieger gesagt, als die beiden außer Sichtweite waren. »Wenn Sie mir zeigen, was er getan hat.«
Es war ihr daraufhin erlaubt worden, einen Blick in die Küche und auf den zerrissenen Zuckersack zu werfen. Da war ihr schlagartig aufgegangen, was Andersens sonderbares Verhalten ausgelöst hatte. Offenbar war im Zuckersack etwas Rotes gewesen. Roter Zucker. Aus Westindien. Madame Krieger kam der schreckliche Verdacht, dass der rote Zucker etwas mit ihr zu tun haben könnte. War das Blut der Dirne oder der anderen Frau durch die Dielenritzen in den Lagerraum gelaufen und von dort in den Zucker getropft? Wollte sie irgendjemand auf die Probe stellen? Der Gott des Arztes? Oder Schneiders Doktrin?
Andersen hatte eine Spur. Wie verrückt und seltsam er auch wirken mochte, er hatte sich in etwas festgebissen. Daran gab es keinen Zweifel. Warum und wie er auf diese Spur gekommen war, wusste sie nicht. Die Sache konnte gefährlich werden. Gefährlich für sie und ihren Plan. Zum Glück hatte sie es rechtzeitig bemerkt und Andersen schnell gefunden, nachdem sie sich rund um das Gerichtsgebäude umgehört hatte. Einer der Männer in den Zellen hatte ihr für ein Stück Brot und eine Wurst bereitwillig Auskunft gegeben. Der Mann hatte ihr berichtet, dass Andersen wegen des Mordes an der Dirne festgenommen worden war, dass ihm dann aber ein wichtiger Herr mit Namen Collin geholfen habe. Und ein Wachmann hat ihr erzählt, Andersen sei ein Dichter, der von den Almosen der Reichen lebe und in Nyhavn 20 zur Miete wohne.
Von da an hatte sie Andersens Wohnung nicht mehr aus den Augen gelassen. Erst hatte sie eine Stunde im Regen auf der anderen Straßenseite gewartet, dann war sie um das Haus herum in den Botanischen Garten gegangen. Gegen elf Uhr war er nach Hause gekommen. Müde, vielleicht etwas angetrunken, hatte er eine Kerze angezündet und war eine Weile in seiner Wohnung auf und ab gelaufen. Sie hatte gehofft, dass er bald die Kerze ausblasen und ins Bett gehen würde, und hatte bereits in Erwägung gezogen, in seine Wohnung einzusteigen und ihn zu betäuben. Vielleicht konnte sie ihn in der Waschschüssel ertränken oder seine Wohnung in Brand stecken und es wie einen Unfall aussehen lassen. Aber er hatte das Licht nicht gelöscht. Als sie gerade nach Hause gehen wollte, um am nächsten Morgen zurückzukehren, kam die Polizei, angeführt vom Polizeidirektor persönlich. Sie hörte die Männer die Treppe hinaufpoltern und sah Andersen vom Bett aufstehen und mit wedelnden Armen durchs Zimmer rennen, bevor er ans Fenster trat und panisch ins Dunkel starrte. Dann hatte er das Fenster geöffnet, war an einem Seil nach draußen geklettert und durch den Botanischen Garten geflohen, als die Polizei seine Wohnung stürmte und die Flucht bemerkte. Unsicher, was sie als Nächstes tun sollte, war Madame Krieger ihm bis zu dem Hurenhaus in der Ulkegade gefolgt. Danach war sie nach Hause gegangen, um zu schlafen. Tatsächlich hatte sie aber die ganze Nacht wach gelegen und versucht, eine Verbindung zwischen dem Dichter und der Dirne zu finden. Die Dirne hatte ihn angespuckt, als Annas Leiche aus dem Kanal gezogen wurde, doch jetzt traten diese beiden erbärmlichen Gestalten plötzlich als Paar auf, das sich gegen sie verschworen hatte. So fühlte es sich jedenfalls an.
Am Morgen hatte sie dann wieder vor dem Hurenhaus gestanden. Erst war die Dirne herausgekommen, dann Andersen, der wie zufällig herumspaziert und schließlich in Bielkes Salon verschwunden war. Sie hatte den seltsamen Drang verspürt, ihn anzusprechen, und war ihm in das Lokal gefolgt. Er hatte am Nachbartisch gesessen, doch dann hatte die Sache mit dem Zucker alles kaputt gemacht.
Er ist auf dem Weg zu den Lagerhäusern. Madame Krieger ist dicht hinter ihm. Es gibt ihr ein Gefühl von Macht, von Unüberwindlichkeit, alles für einen ganz konkreten Plan zu tun. Alles zu opfern. So vieles im Leben vertändelt man aus Eitelkeit, Höflichkeit und falscher Bescheidenheit. Sie erweist Schneider die Ehre, indem sie seine Worte umsetzt und handelt. Würden doch nur mehr Menschen auf ihn hören. Versuchen, zu verstehen, dass dem Fortschritt nichts im Wege stehen darf.
Madame Krieger betrachtet Andersens seltsamen Gang. Bei jedem Schritt wippt er kurz auf die Zehenspitzen. Er wirkt so unschuldig, so harmlos, trotzdem kann er ihr gefährlich werden und all ihre Pläne durchkreuzen. Schneider würde ihr sicher zustimmen. Schneiders Lehre basiert auf den griechischen Philosophen Sokrates und Platon, ergänzt durch die Entwicklungen in der modernen Welt und die Kolonisation fremder Gebiete. Es geht ihm um den idealen Staat, in dem Wissenschaft und Logik die treibenden Kräfte sind. Um die Erschaffung eines Gebildes, in dem der gewöhnliche Bürger, der Handwerker und Bauer die inneren Organe sind, das Militär und die Polizei das loyale Herz und die Wissenschaftler und Denker das Gehirn, das die Wahrheit wie eine Fackel voranträgt. Ganz unten, am liebsten außerhalb des Systems, rangiert die Kunst, das nutzlose Spiel mit dem Nichts, das sinnlose Fabulieren, das Narren zu Königen macht und die Wahrheit zu einer Frage des Geschmacks verkommen lässt. Diese Dinge dürfen nie Macht und Einfluss bekommen, man muss nur nach Frankreich und England schauen und sich bewusst machen, was dort passiert ist. Madame Krieger hat Schneider nie persönlich kennengelernt, aber seinen Werdegang vom einfachen Soldaten zum Kapitän und vom Seefahrer zum Kaufmann verfolgt, bis er schließlich der moderne Staatsmann wurde, der er jetzt ist. Sie hat einige seiner Schriften gelesen und ihn ein paarmal in Sophienholm reden hören, wo Schneider sein Publikum mit starken Worten und klugen Zitaten bekannter Philosophen begeistert hat. Schneider ist ein Visionär, ein Mann, der weit in die Zukunft schauen kann. Verglichen mit ihm, ist ein Künstler nicht mehr als ein Maulwurf, ein blindes Wesen ohne Ziel.
Ist dieser Andersen auch blind, oder hat er wirklich etwas entdeckt? Seine Neugier verunsichert Madame Krieger, andererseits kommt es ihr entgegen, dass er nun auf dem Weg zu den Lagerhäusern ist, die einsam am Rand der Stadt liegen. In dieser Jahreszeit ist dort nur wenig los, nur wenige Male am Tag kommen Händler und holen Waren aus einer der unteren Etagen. Üblicherweise am Vormittag. In den oberen Etagen hat die Handelskompanie eine Zuckerraffinerie nach englischem Modell errichtet. In der Zuckersaison laufen pro Monat zwei oder drei Schiffe mit Rohzucker aus Dänisch Westindien ein. Danach brodeln dann die Kochapparate, und das ganze Gebäude riecht wie eine Konditorei. Ist diese Arbeit getan, verschwinden die Arbeiter wieder. Madame Krieger kennt das Lager mittlerweile sehr gut. Sie weiß, welche Bodendielen knirschen und welche Tür sie nehmen muss, um dort unbemerkt ein und aus zu gehen.
Und vor allem weiß sie, dass sie diesen Ort für sich hat und dort gleich mit Andersen allein sein wird.