Kapitel
5
Auf dem Weg zum Dienstboteneingang des Schlosses fallen Molly die anerkennenden Blicke der Kinder und Frauen auf, die auf der Straße an ihr vorbeigehen. So etwas hat sie noch nie erlebt. Sie kennt lüsterne Blicke oder das herablassende Getue von Männern wie Frauen. Aber so etwas nicht. In dem kurzen wohlmeinenden Nicken liegt fast so etwas wie Respekt. Molly freut und erzürnt das gleichermaßen. Warum müssen Frauen wie Anna und sie ein Leben im Schatten fristen mit einem allenthalben Abscheu weckenden Gewerbe, während andere sich in der Anerkennung einer Arbeit sonnen können, die weniger fordernd und mindestens genauso unterwürfig ist? Manchmal sind die Dinge wirklich auf den Kopf gestellt und jeder Menschenverstand ausgeschaltet.
Als sie die neue Dienstkleidung anzieht, denkt sie darüber nach, was wohl die Strafe dafür ist, sich unter falschem Namen und mit gefälschten Papieren in das königliche Schloss zu mogeln. Ist das schon Hochverrat? Spionage? Sie wagt es nicht, den Gedanken zu Ende zu spinnen, sich der Wahrheit zu stellen, dass sie gerade ihr Leben aufs Spiel setzt.
Das ist gar nicht gut, Cathrine Pedersen.
Aber es ist ihre einzige Chance, um die Frau von Hans Christians Zeichnung zu finden. Sie ruft sich das Gesicht ins Gedächtnis. Die Oberlippe mit dem leichten Aufwärtsschwung, wie es Männer, besonders die älteren, so mögen. Sie mustert jede Frau aufmerksam, die ihr in den langen Fluren, auf den engen Korridoren und in den trubeligen Sälen begegnet, versucht, Mund, Nase und Haar von der Zeichnung in ihre Züge zu übertragen.
Bis jetzt hat sie noch keine Person entdeckt, die Ähnlichkeit aufweist.
Auch hat sie noch nie so viel Reichtum auf einen Haufen gesehen, solch vulgären Überfluss. Kandierte Früchte in tiefen Porzellanschalen aus China und Amerika. Wein in vornehmen Karaffen, überbordende Gebäckplatten auf den Tischen und Fensterbänken, Kronleuchter und orientalische Seidenteppiche, Goldknäufe an Schränken, Türen und sogar Staubwedeln. Die königlichen Herrschaften würden nicht einen Tag ohne die guten Geister überleben, die für sie putzen, kochen, Wein einschenken, Tücher plätten, Besteck putzen, Betten machen und hinter ihnen herwischen, wenn sie sich den Magen verrenkt und zu viel getrunken haben.
»Komm mit«, sagt eine kräftig gebaute Vorsteherin mit Monokel, die mit zackiger Stimme die Arbeit organisiert und verteilt.
»Sehr wohl«, sagt Molly, wie es ihr eingetrichtert wurde, und folgt ihr und den anderen Mädchen. Sie haben Eimer und Lappen, kleine Flacons mit Duftwasser zum Besprühen der Vorhänge und Puder gegen den Schimmelgeruch bei sich. Molly ist erst seit wenigen Stunden hier, trotzdem hat sich bei ihr bereits der Eindruck gefestigt, dass die Mitglieder der Königsfamilie seltsame Wesen sein müssen, die mehr Nahrung zu sich nehmen, mehr Platz brauchen, mehr herumsauen, mehr scheißen, mehr Unordnung machen und mehr feiern als irgendwer sonst, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen für sie hätte. All ihre Wünsche werden augenblicklich erfüllt. Außerdem scheint es unendlich viele Familienmitglieder zu geben. Prinzen und Prinzessinnen, Ehefrauen und Geliebte, kleine und große Kinder, ehelich und unehelich, Comtessen, Grafen und Gräfinnen sowie vornehme, weiß gepuderte Damen mit Titeln, von denen Molly noch nie etwas gehört hat.
Dennoch nimmt sie die Mühen auf sich, nickt und knickst und
scharrt mit den Füßen und füllt ihre Rolle so gut wie möglich aus. Obgleich sie nur eins unter Dutzenden anderer Mädchen ist, fühlt sie sich wichtig. Sie hat eine Aufgabe, und sei es, einer Gräfin einen Tropfen von der Nase zu wischen.
Der Vormittag vergeht mit Putzen und Bettenmachen und dem Entstauben eines Rittersaals, in dem die Spinnen zwischen den Kronleuchtern regieren.
Bis auf ein paar Dienstmädchen und die Vorsteherin hat noch niemand mit ihr gesprochen, sieht man von einem älteren, blasierten Grafen ab, der sie mit einer kurzen Handgeste aufgefordert hat, sich umzudrehen, damit er genüsslich ihre Figur in Augenschein nehmen konnte. Manche Dinge sind überall gleich.
»Beeil dich, Cathrine Pedersen«, ermahnt die Vorsteherin Molly. »Hier ist keine Zeit für Trödeleien.«
Molly muss sich beherrschen, nicht zu widersprechen.
Der Palastflügel des Schlosses verwirrt sie mit seinen über- und unterirdischen labyrinthischen Gängen. Sie durchqueren einen Rittersaal nach dem anderen, vorbei an Bibliotheken, Balkonen und Goldspiegeln, laufen auf Dienstbotentreppen auf und ab, reserviert für die Köche und Küchenmädchen, Dienstmädchen und Hofdamen, Hofmarschalls, Stallmeister und Knechte, die herbeigeeilt kommen, sobald eine Glocke schellt oder jemand laut genug ruft. Bei jedem neuen Gesicht achtet Molly ganz genau auf jede noch so kleine Ähnlichkeit mit Hans Christians Skizze. Hätte sie diese doch nur dabei, um sie den anderen Mädchen zu zeigen, das würde die Suche sicher vereinfachen. Oder aber Misstrauen schüren und die Gerüchteküche anheizen, und das heißt es zu vermeiden.
»Wird’s bald«, sagt die Vorsteherin und beordert die Mädchen auf die Knie.
Durch die Fensterritzen ist beim letzten starken Regen Wasser eingedrungen. Die dicken Teppiche haben sich ordentlich damit
vollgesogen. Die Mädchen wringen die Wischlappen aus und leeren die vollen Eimer aus den Fenstern aus.
»Mach hin, Cathrine Pedersen.« Die Vorsteherin mustert Molly mit ihrem durch das Monokel vergrößerten Auge, als wolle sie feststellen, aus welchem Holz Molly geschnitzt ist. »Hier wird nicht bei jedem Eimerleeren aus dem Fenster gestarrt. Ich weiß, dass du neu bist, aber wenn wir hier fertig sind, muss die Tafel im Gildesaal abgeräumt und in der Küche das Porzellan gespült werden. Streng dich an, wenn du die Woche bis zum Ende überstehen willst, was sag ich, den Tag. Hast du verstanden, Cathrine Pedersen? Die Prinzessin duldet keine Tagträumereien.«
Molly nickt eilig, während sie durch die Tür in den nächsten, lichtdurchfluteten Raum schielt, wo sie hohe Spiegel und goldene Kommoden an den Wänden erblickt. Als die Inspekteurin mit den anderen beiden Dienstmädchen beschäftigt ist, die gerade ihre Eimer ausleeren, stößt Molly vorsichtig die Tür ein wenig weiter auf und sieht die Prinzessin – splitternackt. Sie steht am Fenster, weiße Speckwülste hängen vom Bauch und von den Hüften herab. Ein paar Zofen, die der Prinzessin Kleider und Strümpfe vorführen, ernten nur höhnisches Kopfschütteln. Plötzlich entdeckt sie Molly.
»Was rutschst du da auf den Knien herum?«, fragt die Prinzessin mit gekünsteltem Lachen.
Ein kalter Schauder durchrieselt Molly. Sie hat das Gefühl, ganz dicht an etwas dran zu sein. Diese Prinzessin hat den Überfall des Latrinenmannes bezeugt. Ihr Wort hat ihn in den Tod geschickt. Molly kämpft gegen das unbändige Bedürfnis an, wegzulaufen. Die wenigen Worte aus dem Mund der Prinzessin reichen, um unsägliche Abscheu zu empfinden.
»Auf dem Boden steht Wasser, Eure Königliche Hoheit, vom Regen«, sagt Molly und rutscht auf den Knien in den Raum.
Die Zofen kichern hinter vorgehaltener Hand, aber Molly schert
sich nicht darum. Sie macht sich daran, die Teppiche unter den Fenstern zu trocknen, als hätte sie nie etwas anderes getan. Die Prinzessin und ihre Zofen sagen nichts mehr und widmen sich wieder der Kleiderschau für die Prinzessin, die nun die Arme zur Seite ausgestreckt hat, um sich Dekolleté, Hals und Gesicht mit einer großen Quaste pudern zu lassen.
»Wo bleibt sie nur?«, fragt die Prinzessin ungehalten.
»Sie wird bald hier sein, Königliche Hoheit«, sagt eine der Zofen und neigt den Kopf. Molly starrt sie an. Die Oberlippe ist wie auf der Zeichnung, aber der Mund passt nicht. Sie ist es nicht.
»Ja, sie wird bald eintreffen«, sagt die andere Zofe, die das Haar der Prinzessin frisiert. Molly kriecht hinter einen Standspiegel und beobachtet sie. Die kleine, dunkelhaarige Zofe hat nichts mit der Frau von Hans Christians Zeichnung gemein. Gerade flicht sie der Prinzessin weitere Strähnen ins Haar, das danach schulterlang ist. Die Stimmung ist nervös, beide Zofen sind angespannt. Sie schwitzen und schnaufen, obgleich es im Raum eher kühl ist. Mit vereinten Kräften ziehen sie der Prinzessin ein dünnes Unterkleid über den Kopf, das sich aber an einer Haarnadel verfängt. Als schließlich alles am richtigen Platz sitzt, glüht das Gesicht der Prinzessin rot unter dem weißen Puder.
Die Ohrfeige kommt ohne Vorwarnung. Ein kurzes, lautes Klatschen.
Danach Stille.
»Sieh mich an«, flüstert die Prinzessin der Dunkelhaarigen zu, die gehorsam aufschaut.
Da schlägt die Prinzessin ein zweites Mal zu, fester, als hätte das erste Mal nur ihren Appetit geweckt.
»Gut«, sagt die Prinzessin erleichtert.
Die Zofen arbeiten schweigend weiter.
Molly wringt ihren Lappen mit aller Kraft aus, um wenigstens ein
paar Tropfen Wasser in den Eimer zu bekommen, da sie sonst keine Entschuldigung für ihre Anwesenheit hat und hinausgeschmissen werden kann. Wenn nicht noch Schlimmeres.
»Ah, Fräulein Poulsen«, sagt die Prinzessin. »Haben Sie doch noch Zeit für mich gefunden.«
Die Tür ist aufgegangen. Eine junge Frau in einem leuchtend gelben Kleid steht im Türrahmen, den Blick gesenkt wie alle erfahrenen Mädchen. Trotzdem wirkt sie einen Hauch selbstbewusster.
»Warum um alles in der Welt kommen Sie nicht, wenn ich nach Ihnen rufe, Kind?«
»Das tue ich doch, Eure Königliche Hoheit, ich bin ja hier. Ich komme gerade von Eurer geliebten Schwester, die meine Hilfe erbeten hatte.«
»Sie sind meine
Ankleiderin und nicht die meiner Schwester, wie oft habe ich das schon gesagt. Sie können nicht einfach verschwinden, solange ich noch nicht angekleidet bin.«
Molly versucht, unauffällig die Richtung zu wechseln und ans andere Ende des Raumes zu gelangen, um einen Blick auf die Ankleiderin zu erhaschen, die ihr bis jetzt den Rücken zudreht.
»Ihr habt natürlich recht, Eure Königliche Hoheit«, sagt die Frau. »Es wird nie wieder vorkommen.«
»Und meine Schwester soll sehen, wie sie alleine klarkommt. Ihr Ferdinand hat ja ohnehin keinen Blick für sie übrig.«
»Ja, Eure Königliche Hoheit«, sagt die Ankleiderin und führt vorsichtig einen Arm der Prinzessin durch ein aufgeschnürtes Korsett, danach den anderen. Mit großer Sorgfalt fädelt sie die Schnur durch die Ösen, bindet das Korsett und geht einmal um die Prinzessin herum, sodass Molly ihr Gesicht nun im Spiegel sehen kann.
Molly hält die Luft an.
Das ist die Frau von der Zeichnung. Hans Christian hat sie mit fast unheimlicher Präzision wiedergegeben. Nur ihre einzigartige
Schönheit hat er nicht eingefangen. Den natürlichen Liebreiz ihres Mundes. Und auch den beeindruckenden Busen hat er ausgelassen.
»Fräulein Poulsen«, sagt die Prinzessin, als die Ankleiderin das Korsett noch ein wenig straffer schnürt. »Ich war einigermaßen empört, dass Sie uns im Theater einfach verlassen haben. Ohne meine Zustimmung.«
»Verzeiht mir, Eure Königliche Hoheit. Meine Tante kam mit traurigen Neuigkeiten«, sagt die Ankleiderin.
»Inwiefern traurig, Fräulein Poulsen?«
Ein neuer Unterton hat sich in die Stimme der Prinzessin geschlichen. Als würde sie eine Schwäche wittern, einen Riss in der perfekten Fassade der hübschen, jungen Frau.
»Mein Vater ist krank, er liegt im Sterben«, sagt die Ankleiderin. »Die Lungenseuche.«
Die Prinzessin wedelt mit einer Hand vor der Nase herum, als wäre schon das Wort an sich ansteckend.
»Ist er nicht schon länger krank? Ich meine mich zu erinnern. So dringend wird es schon nicht gewesen sein, dass Sie so Hals über Kopf eine Vorstellung verlassen mussten?«
Die Ankleiderin drückt den Rücken der Prinzessin nach vorne und schnürt das Korsett fester. Die Prinzessin gibt ein Stöhnen von sich, als ihr die Luft aus den Lungen gepresst wird.
»Es wird nicht wieder vorkommen«, sagt die Ankleiderin.
Molly kann keinen einzigen Tropfen mehr aus dem Lappen wringen und befürchtet, das Misstrauen der Zofen zu wecken. Da entdeckt sie auf einem Ecktisch eine schlanke Vase. Keine der Anwesenden bekommt mit, wie sie den Inhalt auf den Teppich kippt. Unterdessen bindet die Ankleiderin ein Kissen auf das Hinterteil der Prinzessin und eine Krinoline um ihre Hüfte. Das abstehende Unterteil ist sperriger als alles, was Molly je an Kleidungsstücken gesehen hat. Wie ein um die Taille geschnallter Käfig. Molly ist dankbar, dass nicht sie solche
Kleider tragen muss. Und doch muss sie eingestehen, dass das grüne Kleid sehr hübsch und elegant ist.
Eins der anderen Dienstmädchen gibt Molly von der Tür aus Zeichen, aber Molly zeigt auf den Boden. Ich bin hier noch nicht fertig, versucht sie zu sagen. Das Dienstmädchen zuckt gleichgültig mit den Schultern und geht wieder. Wenn sie nur nicht die Vorsteherin holt.
»Und Ihr geht also mit zu der Maskerade«, sagt die Prinzessin. »Gibt es dort vielleicht einen jungen Mann, der Euch im Sinn hat?«
Die Zofen senken die Blicke.
»Wer sollte das sein, Eure Königliche Hoheit?«, sagt die Ankleiderin, während sie Schleifen ins Haar der Prinzessin bindet.
Molly ist beim letzten Fenster angelangt, aber dort muss nichts mehr aufgewischt werden. Es ist auch keine Vase in greifbarer Nähe.
Ein Mädchen tritt über die Schwelle und reicht der Ankleiderin ein zusammengefaltetes Papier. Sie liest die Nachricht, steckt es in eine verborgene Tasche ihres Kleides und widmet sich weiter den Schleifen, ehe sie ein paar Schritte beiseitetritt und die Frisur der Prinzessin begutachtet.
»Ihr müsst mich entschuldigen, Eure Königliche Hoheit, aber ich soll in die Weberei kommen, wenn Ihr gestattet.«
»Und was ist mit meinen Handschuhen?«, sagt die Prinzessin.
»Es ist zu warm für Handschuhe. Eure Königliche Hoheit, außerdem seid Ihr nie reizender gewesen als in diesem Moment.«
Der sarkastische Unterton ist kaum zu überhören.
Es entsteht eine Pause. Der Prinzessin gefällt die Selbstständigkeit der Ankleiderin gar nicht. Andererseits liebt sie die Schmeicheleien. So nickt sie schließlich und mustert die Ankleiderin, die sich rückwärts Richtung Tür schiebt und den Raum verlässt. Molly verneigt sich tief vor der Prinzessin und verlässt mit ihr das Zimmer.
Auf der anderen Seite der Tür atmet sie tief durch. In der angespannten Stimmung ist ihr fast die Luft weggeblieben. Im letzten
Sommer kursierte das Gerücht, dass die Prinzessin einen jungen Mann wegen ein paar ungezügelter Blicke hinter Schloss und Riegel gebracht hat, als sie eines Nachmittags an Madsens Gang vorbeigefahren war. Die Prinzessin ist eine schwelende Kraft, hinterhältig wie eine Kreuzotter, die geduldig auf ihre Beute lauert, ehe sie zuschlägt.
Statt den direkten Weg zur Vorsteherin zu nehmen, folgt Molly der Ankleiderin, die mit gerafftem Rock durch die Räume und dann über die Dienstbotentreppe nach unten in den Keller läuft, wo die Küchen sind.
Zur Weberei geht es hier nicht, so viel weiß Molly.
Warum hat die Ankleiderin gelogen? Was will sie im Küchentrakt?
Molly hastet mit gesenktem Blick an den anderen Bediensteten vorbei und versucht, geschäftig auszusehen, während sie nach einer guten Erklärung sucht, warum sie der Ankleiderin der Prinzessin auf den Fersen ist. Aber niemand spricht sie an, der unfreundliche Blick einer fetten Zofe ist das einzige ihr begegnende Hindernis.
Molly läuft durch Räume mit Tischleinen, Platten und Kerzenständern in hohen Regalen. Einige Dienstmädchen putzen Besteck, ein Diener füllt Wein in Flaschen. Am anderen Ende der Küche erhascht sie einen kurzen Blick auf das gelbe Kleid der Ankleiderin. Ein Koch steckt gerade einen riesigen Vogel in einen Kochtopf, ein Bäcker klopft auf einen Teigklumpen ein und verschwindet in einer Mehlwolke. Molly schnappt sich eine Schale mit Äpfeln und Birnen und eigentümlichen roten Früchten, die sie noch nie gesehen hat. Dies soll ihr als Alibi dienen. Ein Stück abseits schimpft ein Koch einen Küchenjungen lauthals aus, während die anderen Köche lachend auf ihre Töpfe schlagen.
Molly schiebt eine schmale Tür mit dem Ellbogen auf und steigt eine Treppe hoch, die in einen großen Rittersaal führt. Der Saal ist leer, aber sie hört ein Knarren. In letzter Sekunde sieht sie die Ankleiderin, eher einen gelben Hauch von ihr, durch eine hinter einer
großen Malerei verborgene Tür verschwinden, ehe diese zuschlägt. Von dieser Tür hat sie bereits von den anderen Dirnen gehört. Das heimliche Trepplein
. Sie stellt die Schale ab und zieht an dem Türknauf. Dahinter verliert sich eine steile, schmale Treppe im Dunkel. Sie lauscht. Auf ein Türknarren, Stimmen, Schritte.
»Du solltest nicht hier sein«, sagt die Ankleiderin.
Molly fährt erschrocken zusammen, glaubt, entdeckt worden zu sein, als eine Männerstimme antwortet: »Ich tue, was mir passt. Leg dich hin.«
»Ums Verrecken leg ich mich nicht auf dein unappetitliches Essen«, sagt die Ankleiderin.
Auf leisen Sohlen schleicht Molly die Treppe hoch, bis sie das flackernde Licht eines Talglichtes unter der Decke sieht. Wer könnte der Mann sein? Ein Soldat oder ein Bediensteter?
»Ich bin nicht hier, um Löcher in die Luft zu starren und auf dich zu warten, wenn sie mich schon für ein paar Tage in die Stadt geschmuggelt haben. Und jetzt komm her, du dummer kleiner Fasan«, sagt der Mann.
Etwas Schweres poltert zu Boden und rollt über die Dielen.
»Du unvorsichtiger Dummkopf. Es ist uns jemand auf die Schliche gekommen. Sie weiß etwas, da bin ich mir sicher«, sagt die Ankleiderin.
Molly geht vorsichtig ein paar Stufen weiter, sie wagt kaum zu atmen.
»Wilhelmine?«, erwidert er. »Ach, die hat doch nur Augen für ihr gepudertes Hinterteil.«
Noch eine Stufe. Zwei. Jetzt kann sie in den Bodenraum hineinsehen.
»Nein, hör auf, lass mich los«, kichert die Ankleiderin. »Ich meine das ernst. Ich bin verfolgt worden. Durch die Gassen.«
Etwas kippt um, ein Glas oder Porzellan.
»So sind sie, die Männer. Lüstern, verrückt nach dir. Wie ich.« Er saugt an etwas. »Probier das hier, komm schon.«
Das Geräusch einer Ohrfeige. Und noch einer. Molly erstarrt.
Es setzt hier im Schloss ja mehr Backpfeifen als in der Ulkegade.
»Hör auf. Das war nicht irgendein Kerl, der verrückt nach mir ist, sondern ein ganz eigenartiger Kauz. Groß und klapperdürr. Wie eine Vogelscheuche. Er hat nach mir gesucht, rumgefragt.«
»Du hast doch nichts gesagt, oder?« Der Mann klingt ungehalten. »Zu deinen kleinen Freundinnen? Oder zu deiner Tante? Ich bring dich verdammt noch mal aufs Schafott.«
»Bist du so dumm? Oder hältst du mich für so dumm? Niemand weiß etwas.«
Molly versucht, den Tonfall zu deuten. Ist das ein Spiel oder Ernst? Sie reden wie Kinder. Den Unterton in der Stimme des Mannes kennt sie von den Freiern im Hurenhaus. Wachsende Geilheit kurz vor dem Ausbruch. Ungezügelte Lust. Ein steifer Schwanz unter dünnem Hosenstoff.
»Und halt bloß deinen Bleistift fort von dem kleinen Büchlein«, warnt der Mann sie.
»Was weißt du darüber? Warst du etwa in meiner Kammer? Hast du darin gelesen?«
In der Stimme der Ankleiderin schwingt echter Zorn mit.
»Du kannst schreiben, was du willst, Johanne. Über alles. Über deine lächerlichen Freundinnen und deine Theaterausflüge. Was kümmert’s mich? Solange du nur nicht über das hier schreibst. Keine süßen Bekenntnisse oder romantischen Gefühlsduseleien.«
Die Ankleiderin schnaubt wütend.
Molly steigt vorsichtig auf die zweitletzte Stufe.
»Ich bin ein Jäger, und du bist mein Fasan«, sagt er.
Das Geräusch zerreißenden Stoffes.
»Au, verdammt«, zischt die Ankleiderin.
Noch eine Stufe.
Jetzt kann Molly über den Boden schauen. Entenschlegel und Bratäpfel liegen darauf verstreut. Die Ankleiderin liegt mit dem Bauch auf einem Tisch, das nackte Hinterteil nach hinten gestreckt. Der Mann steht mit einer Serviette im Hemdkragen und Messer und Gabel in der einen Hand über sie gebeugt, während er mit der freien Hand versucht, die Hose aufzuknöpfen.
Da steigt die Ankleiderin auf den Tisch und wirft mit Entenflügeln, Rosenkohl und Obst nach ihm, ein Klecks rote Konfitüre trifft ihn im Gesicht und tropft wie Blut auf sein weißes Hemd. Er ist ein großer, beleibter Mann. Dicke Finger mit protzigen Ringen. Er grinst selig.
»Mein Fasan«, sagt er lachend, zieht sie an einem Bein an die Tischkante und beißt ihr in den Po. Sie kreischt und strampelt mit beiden Beinen.
»Jetzt lieg schon still«, sagt er, nimmt die Sauciere und gießt warme Soße über ihre Pobacken, worauf sie sich heulend herumwirft und ihn mit einer Entenbrust bewirft. Er kann sich rechtzeitig ducken, während sie ans andere Tischende rutscht und das weiße Tischtuch herunterreißt. Wein, rote Grütze und Kohl, Braten und Backpflaumen fliegen in alle Richtungen.
Molly duckt sich in den Treppenschacht, um nicht von der Ankleiderin entdeckt zu werden, die jetzt von dem Mann um den Tisch gejagt wird. Die Hose hängt ihm noch immer an den Kniekehlen. Die Bodendielen wackeln und geben unter seinem Gewicht nach. Er drängt sie gegen die Wand, zerrt an ihren Kleidern, bis die eine Brust schwer aus dem Korsett springt, die Brustwarze dunkel und hart. Sie umschließt seinen Schwanz mit den Fingern.
»Ich will endlich Taten sehen, verstehst du?«, sagt sie.
Er sieht sie an, ihr ungebändigtes blondes Haar, genau wie Hans Christian sie gezeichnet hat, und schubst sie weg.
»Weib, du treibst mich in den Wahnsinn.«
»Du hast versprochen, es zu sagen, Fritz. Damit es einfacher wird. Aber für dich ist es weiter nur ein spannendes Spiel.«
Fritz? Ist das etwa Prinz Frederik, der Gemahl von Prinzessin Wilhelmine, der Schwiegersohn des Königs? Molly hat reichlich Gerüchte über ihn und seine Gier nach immer neuen, jüngeren, üppigeren, hübscheren Frauen gehört. Obgleich sie mehr als die meisten über die unstillbaren Triebe der Männer weiß, hat sie den wilden Geschichten nie ganz geglaubt. Jetzt sieht sie es mit eigenen Augen und empfindet fast ein bisschen Mitleid mit der biestigen Prinzessin.
»Du verstehst das nicht. Es ist nicht so einfach, wie du glaubst. Ich habe hier nicht das Sagen. Noch nicht. Sie haben mich verbannt, der Stadt verwiesen, ich bin ein Mann ohne Land, verstehst du? Was, glaubst du, wird passieren, wenn ich es jetzt sage? Es heißt, sie überlegen, mich nach Island zu schicken. Das wird kein glückliches Ende nehmen, so viel kann ich dir versprechen.«
»Dann ist es aus, Fritz«, sagt die Ankleiderin und rückt ihr Korsett zurecht. »Aus und vorbei.«
Wenn die Ankleiderin jetzt geht, wird sie die ungebetene Zeugin entdecken. Molly bewegt sich also langsam rückwärts die Treppe hinunter und zur Tür hinaus, die viel zu laut knarrt.
»Still, was ist das?«, fragt der Mann.
Molly durchquert den Rittersaal mit klopfendem Herzen und so schnell ihre Füße sie tragen. Hinter sich hört sie die geheime Tür aufgehen und den Prinzen durch den Saal rufen: »Wer da? Stehen bleiben!«
Aber Molly ist bereits auf der nächsten Treppe nach unten zur Küche, als ihr die Obstschale einfällt. Hoffentlich bringt die niemand mit ihr in Verbindung.
Dienstmädchen laufen an ihr vorbei. Der Kellermeister verkostet Wein mit zwei Köchen und dem Zeremonienmeister, der an seiner
schwarzen Perücke zu erkennen ist. Sie biegt nach links ab und findet sich in einem Lager voller Körbe mit Kohlköpfen, Kaninchen und Walnüssen wieder. In der Ecke steht ein Schemel, auf den lässt sie sich erst einmal fallen und atmet tief durch.
Sie kann kaum fassen, was sie gerade gesehen hat. Und bringt es nicht zusammen mit Anna und der toten Waschfrau. Aber die Ankleiderin ist wichtig, so viel ist gewiss.
Vor allem aber scheint ihr Tagebuch von Bedeutung zu sein.
Molly ist sich so gut wie sicher, dass darin die Lösung zu finden ist. Die Antworten, nach denen sie suchen. Wenn sie doch nur lesen könnte.