Kapitel 9
Das Leichenhaus. Der Gestank ist unverkennbar. Hans Christian braucht nicht einmal die Augen zu öffnen, um zu wissen, wo er sich befindet, und doch tut er genau das. Zuerst das eine … das andere lässt sich nicht öffnen. Wer weiß, vielleicht braucht man als Toter nur noch ein Auge, wie ein Zyklop. Aber wo sind die Engelstrompeten und die himmlische Musik, auf die er gehofft hatte? Er weint, das geschlossene Auge brennt schmerzlich. Er beweint seinen Tod, was ja wohl erlaubt ist. Wenn nicht einmal der eigene Tod beweint werden kann, was dann?
Hans Christian stemmt sich mühsam auf einen Ellbogen hoch. Lebendig oder tot, gibt es denn gar keinen Unterschied?
Nach wie vor spürt er seinen geplagten Leib wie den Nachhall eines fernen Schmerzes, nach wie vor verspürt er sein Streben, die Welt in Verzückung zu versetzen, erinnert sich an die Gesichter geliebter Menschen. Man könnte meinen, der Tod habe versäumt, seine Erinnerungen auszuwischen, als er ihn in das Rohr geschubst hat …
Dann fällt es ihm wie Schuppen von den Augen.
»Ich bin gar nicht tot«, flüstert er und sieht sich schaudernd um. Er liegt umgeben von Toten im spärlich beleuchteten Leichenhaus. In der Ecke das Kind mit der grünen Hand, neben ihm der Mann mit dem abgerissenen Arm. Aber man gewöhnt sich niemals an die Gesellschaft des Todes. So häufig man ihn auch sieht, wie alltäglich er auch sein mag, bedeutet er doch immer die Abwesenheit all dessen, was einem lieb und teuer ist.
Er ist gefallen. Und wurde gefunden.
Offenbar haben sie ihn für tot gehalten und hierhergebracht. Vielleicht ist er ja auch tatsächlich tot gewesen. Für ein paar Minuten oder sogar Stunden. Aber nun ist er zurückgekehrt, hat eine zweite Chance bekommen, seine Angelegenheiten zu klären. Daran, dass er tot ausgesehen haben muss, zweifelt er nicht. Zerschlagen, leichenblass. Und was hatte es mit dem Tuch auf sich, das der Mörder ihm auf Mund und Nase gepresst hat? Es roch merkwürdig, fremd und gefährlich, und dieser Geruch hat ihm wie durch Zauberhand schlagartig alle Kräfte genommen. Vermutlich haben die Männer, die ihn gefunden haben, nicht viel Zeit darauf verschwendet, ihn genauer zu untersuchen oder gar wiederzubeleben. Der ist hinüber, werden sie gesagt und dann zwei Hafenarbeiter aufgefordert haben, ihn zum Leichenhaus zu bringen. Sie werden ihn auf das erstbeste Brett gelegt und zurückgelassen haben. Ruhe in Frieden.
Er klettert von dem Brett herunter, schiebt sich tastend durch den dunklen Raum und findet die Tür.
Sie ist von außen verschlossen. Wie kann es auch anders sein.
Er dreht sich um und lässt seinen Blick über die Leichen schweifen. Ganz in der Nähe liegt ein Zwillingspärchen, Hand in Hand, daneben eine alte Frau mit schwarzen Fingernägeln. Ob auch sie von den Toten erwacht sind, sich aber ihrem Schicksal ergeben haben, nachdem sie gemerkt haben, dass sie im Leichenhaus eingesperrt sind?
Vor dem Kellerfenster sieht er Beine.
»Hallo, ich lebe!«
Die Beine bleiben zögernd stehen. Als überlegten sie, so schnell wie möglich das Weite zu suchen.
»Hier unten. Ich bin nicht tot!«, ruft Hans Christian und nimmt sich vor, in Zukunft nur noch mit einem Zettel in der Tasche das Haus zu verlassen, auf dem steht: Ich bin nur scheintot .
X
Molly ist nicht zu Hause. Hans Christian weiß nicht, wo er sonst hingehen soll, und sackt vor der Haustür auf den Boden.
Die Passanten kümmert es nicht, und als er die Beine ausstreckt, steigen sie einfach darüber hinweg. In dieser Stadt liegen an allen Ecken und Enden Menschen herum. Er ist gerade am Wegnicken, als er Schritte hört und Molly vor ihm steht.
Erst sieht sie ihn erschrocken an, dann wirft sie ihm ihren Hut an den Kopf.
»Wo warst du bloß? Wo hast du gesteckt?«
Er legt den Finger an die Lippen, versucht, auf die Beine zu kommen.
»Ich habe den Zucker gefunden, die roten Zuckerkristalle, den Tunnel, Molly. Ich bin mir sicher, dass er es dort getan hat, in dem Speicher!« Er spricht so aufgeregt und schnell, dass er sich wie ein Irrer anhört.
Molly beugt sich vor und mustert ihn argwöhnisch, ihr Gesichtsausdruck verrät ihm, wie er aussieht.
»Was ist passiert?«, fragt sie.
Was passiert ist? Er ist von den Toten zum Leben erwacht. So ist das. Ein Hans Christian Andersen hat mehr als nur ein Leben, das weiß er nun.
Oben in ihrer Kammer zündet Molly erst einmal das Talglicht an und deckt Mariechen zu, die mit verknoteten Armen und Beinen in ihrem Bettkasten schläft. Dann setzt Molly sich hin und sieht Hans Christian an.
»Und jetzt erzähl mir, was passiert ist«, sagt sie, feuchtet eine Ecke ihres Halstuches mit Spucke an und tupft ihm das Auge, die Lippen und die Wangen ab, eine warme Hand auf seiner Schulter.
Und so erzählt er die ganze Geschichte. Von dem Moment, als er im Hafen angekommen ist, bis zu seinem Erwachen im Leichenhaus.
Während er spricht, bemerkt er Mariechens leicht geöffnete Augen. Sie tut so, als würde sie schlafen, und lauscht doch aufmerksam der Geschichte. Er übertreibt ein wenig bei der Beschreibung der Leichen im Leichenhaus und sieht den sich aufgeregt auf und ab bewegenden Brustkorb des Mädchens.
»Wie sah der Mann aus? Hast du ihn gesehen?«, fragt Molly.
»Oh ja, ich habe ihn gesehen«, sagt Hans Christian. »Und auch wieder nicht. Er hat mir ins Gesicht geschlagen. Hart. Mit eiserner Faust.«
»Könnte das auch ein Stock oder Knüppel gewesen sein?«, schlägt Molly vor.
Hans Christian denkt nach.
»Ich habe eine Hand gesehen. Eine geballte Faust.«
Die Szene spielt sich noch einmal vor seinem inneren Auge ab. Und wieder. Es ist, als könnte er die Zeit anhalten. Er sieht die Hand in der Luft hängen, ehe sie ihn trifft.
»Wie dumm kann man sein«, sagt Molly und zieht an seinem Ohr. »Sich einfach so an einen Ort zu begeben, wo der Mörder sein könnte.«
Sie steht auf, um das Fenster zu schließen.
Mariechen nutzt die Gelegenheit, um aus ihrem Bettkasten zu klettern und zu Hans Christian zu laufen.
»Lausemädchen«, sagt Molly überrascht, als sie das Mädchen auf Hans Christians Schoß klettern sieht.
»Ist schon in Ordnung«, sagt Hans Christian.
»Nein«, widerspricht Molly. »Die Kleine soll schlafen.«
»Hat dir jemand aufs Auge gehauen?«, fragt Mariechen neugierig und betastet sein Gesicht.
Er nickt.
Molly dreht ihnen den Rücken zu, erledigt ein paar Dinge, packt einen in fettiges Papier gewickelten Trockenfisch aus.
»Und jetzt möchtest du natürlich wissen, wie es im Schloss gelaufen ist, nicht wahr?«
Hans Christian wendet seinen Blick von Mariechen ab und sieht Molly an.
»Wie ist es im Schloss gelaufen?«
»Ich habe für zweihundert Gäste Besteck geputzt und über dreißig Betten gemacht«, sagt sie und sieht ihn unschuldig an. »Und ich habe die geheimnisvolle Frau gefunden. Johanne heißt sie und ist die Ankleiderin der Prinzessin.«
Molly erzählt ihm von ihrer Entdeckung. Von der derben, bösartigen Prinzessin, von der Ankleiderin in ihrem gelben Kleid und dem heimlichen Treffen hinter der geheimen Treppe.
»Der Liebhaber kann nur Prinz Frederik sein, der doch eigentlich nach Jægerspris verbannt wurde, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Wie passt das alles zusammen? Und was ist die Verbindung zwischen der Ankleiderin und der Waschfrau? Es gibt einen Hinweis, dass Bleiche-Maren im Bett der Ankleiderin gelegen hat und vielleicht aus diesem Grund umgebracht wurde. Nun fürchtet die Ankleiderin um ihr Leben und hat Angst, die Nächste zu sein, die sterben muss. Und sie glaubt, dass es morgen bei dem Maskenball passieren wird.«
»Das heißt, dass der Mörder zu dem Ball kommt?«, sagt Hans Christian und zuckt zusammen, als Mariechen ihren kleinen Finger auf die Wunde an der Stirn drückt.
»Da drinnen ist was«, sagt Mariechen. »Wie ein Gesicht.«
Molly schaut nach. Hält das Talglicht an Hans Christians Stirn.
»Sie hat recht. Da ist ein Abdruck. Wie von einer Stockspitze.«
»War der Mann böse auf dich?«, fragt Mariechen. »Weil du den finden willst, der Mama umgebracht hat?«
Molly verstummt. Hans Christian sieht Mariechen an und nickt.
Molly beugt sich vor und sieht sich die Wunde genauer an.
»Als hätte dir jemand einen Stempel auf die Stirn gedrückt. Erinnerst du dich an den Moment des Schlags? Hat er dich mit einem Stock oder Stab oder irgendwas in der Art geschlagen?«
Hans Christian schüttelt den Kopf. Er erinnert sich nur an eine Hand, etwas Glitzerndes.
»Die Hand ist wie ein wild gewordener Bock auf mich zugeschossen«, sagt er. »Und an der Spitze seiner Hörner hat er ein Zeichen getragen, das wie Blitz und Donner eingeschlagen ist.«
»Könnte es ein Ring gewesen sein?«, fragt Molly. »Hat er einen Ring getragen?«
»Möglich«, antwortet Hans Christian und streicht Mariechen über die Haare.
»So, Zausemaus, jetzt ab ins Bett mit dir.«
Molly hilft Mariechen wieder in das piksende Strohbett, wo die Kleine noch eine Weile herumwühlt, bis sie richtig liegt. Molly drückt ihr einen Kuss auf die Stirn und bläst das Talglicht aus. In der Kammer ist es jetzt fast dunkel, nur das schwache Licht von der Straße fällt herein, wo noch eine Laterne brennt.
Hans Christian hat sich an etwas festgebissen, das Molly gesagt hat.
»Du sagst, die Ankleiderin fürchtet um ihr Leben, weil sie glaubt, dass der Mörder es eigentlich auf sie abgesehen hat und gar nicht auf Bleiche-Maren?«
»Das schreibt sie in ihrem Tagebuch«, antwortet Molly.
»Das ergibt Sinn«, sagt Hans Christian und sieht ein buntes Theaterstück vor sich, das gut aus seiner Feder hätte stammen können. Der Vorhang öffnet sich, und ein Prinz betritt die Bühne, Fritz, und fasst sich an sein durchlöchertes Herz. Oh, Johanne. Er ist unglücklich verliebt in die Ankleiderin seiner Gemahlin. Seine Liebschaft wurde aber dummerweise vom König entdeckt, seinem mächtigen Schwiegervater, der den Prinzen nach Jægerspris verbannt, wo sich sein heißblütiges Gemüt beruhigen soll.
»Das ist Stoff für einen ordentlichen königlichen Skandal«, sagt Hans Christian. »Wenn den Bänkelsängerinnen zu Ohren kommt, dass der Prinz eine Affäre hat … und dann noch mit einer Nichtadligen, einer einfachen Ankleiderin.«
»Die Leute wären begeistert. Die Ankleiderin hat den Prinzen geohrfeigt, er war gar nicht zu bändigen.«
Molly erzählt Hans Christian, wie Fritz sich über Johanne hergemacht hat wie über sein Leibgericht.
»Das«, flüstert Hans Christian, »passt zu allem, was über den Prinzen gemunkelt wird. Er ist maßlos und gierig wie ein Bär auf dem Honigmarkt. Und jetzt ist Johanne sein Honigtopf. Damit er sie nicht mehr treffen kann, hat der König ihn in ein ödes Schloss außerhalb der Stadt verbannt, von wo er nur für äußerst seltene Visiten in die Stadt kommt. Oder eben heimlich. Unterdessen hat der König überall Spione, die ein scharfes Auge auf alle Bediensteten im Schloss haben, damit niemand nachts in der Gegend herumschleicht.«
»Aber, aber, aber«, mischt Molly sich ein. »Johanne hat eine Frau gefunden, die ihr ähnlich sieht, vielleicht auf dem Markt oder an der Bleiche.«
»Genau. Maren sieht ihr ähnlich genug, um nachts in ihrem Dienstbotinnenbett als Johanne durchzugehen, während diese sich heimlich mit dem Prinzen trifft. Johanne schmuggelt Maren durch den Geheimgang, der bei den Stallungen endet, ins Schloss und in ihre Kammer. Vielleicht hat die Ankleiderin die arme Waschfrau sogar öfter für ihre Dienste bezahlt. Zum Exempel mit der hübschen Haarbürste. Aber einige Nächte bevor … deine Schwester ebenfalls ermordet wurde …«
»Anna«, flüstert Molly und sieht zu Marie, die endlich eingeschlafen ist.
»… ist Bleiche-Maren aus Johannes Kammer entführt worden. Der Mörder merkt nicht, dass er die falsche Frau mitgenommen hat. Aber eine der königlichen Wachen sieht ihn mit Maren über der Schulter aus dem Schloss kommen. Er hält ihn auf, worauf der Mörder den Soldaten niederschlägt und flüchtet.«
»Und das hat der Latrinenmann gesehen?«, sagt Molly.
»Ja. Der Latrinenmann kommt gerade mit dem königlichen Urin auf seinem Karren vom Schloss. Er sieht, wie der Mörder die Wache niederschlägt, und will dem Soldaten zu Hilfe eilen. Und die Prinzessin, die wegen des Lärms aufgewacht ist, sieht nur den über den Soldaten gebeugten Latrinenmann und schreit um Hilfe. Haltet den Mörder, ruft sie. Der Latrinenmann flieht, er hat keine andere Wahl. Wer glaubt schon einem Narren wie ihm, der nur in Reimen spricht. Er hängt sich an die Fersen des Mörders, in sicherem Abstand, und folgt ihm bis in den Speicher im Hafen. Er verschmilzt mit den nächtlichen Schatten und verschwindet in geheimen Räumen, bis er das obere Speicherstockwerk erreicht und das Blut im Zucker sieht, die jungen Mädchen, an denen herumgeschnippelt wird, und …«
Molly hebt eine Hand.
»Nicht weiter. Das ist …«
Hans Christian ist zu aufgeregt, er kann nicht aufhören.
»Er sieht, wie die Mädchen geschändet werden. Sieht den Mörder, der Anna ins Meer wirft und die Tonne mit der Waschfrau zu der Fäkaliengrube fährt. Es ist früh am Morgen, die Stadttore sind gerade erst offen, als der Mörder seine Karre aus dem Amager-Tor schiebt. Der Latrinenmann folgt ihm, sieht, wie der Mörder Bleiche-Maren im Exkrementensumpf versenkt. Kurz darauf sind alle Hofwachen und Polizeibeamte ihm auf den Fersen, die Prinzessin hat sein Schicksal besiegelt. Er beteuert die ganze Zeit über seine Unschuld, aber niemand hört ihm zu, niemand versteht seine seltsamen Reime. Und darum ahnt auch niemand, was er gesehen hat.«
»Niemand außer dir«, sagt Molly.
Das ist die größte Anerkennung, die ihm je zuteilgeworden ist.
»Aber wieso?«, fragt Molly. »Wieso ist der Mörder hinter Johanne her? Und was wollte er von Anna?«
Hans Christian denkt nach. Der Mörder sehnt sich nach etwas. Aber wonach?
»Ich weiß es nicht«, antwortet er schließlich.
»Aber nun hat er eine Spur hinterlassen. Eine sehr deutliche Spur«, sagt Molly und steht auf.
»Was meinst du?«, fragt Hans Christian.
»Auf deiner Stirn«, sagt Molly und hält ihm einen gesprungenen Spiegel vors Gesicht.
In dem spärlichen Licht erahnt Hans Christian die Schwellung um die Wunde mehr, als dass er sie sieht.
»Wenn wir herausfinden, was er dir da gegen die Stirn geschlagen hat, haben wir vielleicht auch Annas Mörder.«