Kapitel 10
Es ist Nachmittag, der Himmel bedeckt, die herbstmüde Sonne hinter den Wolken verborgen, als Hans Christian die Treppe hinunter und auf die Straße geht. Die alte Salomine war nirgends zu finden, weshalb Molly Hans Christian überredet hat, die Kleine mitzunehmen, bevor sie gegangen ist. Sie ist auch ganz brav, hat Molly ihm versichert und die Neugier des Mädchens offenbar völlig vergessen. Sie bleibt an jeder Ecke stehen, beobachtet eine Krähe auf dem Schild eines Hutmachers oder einen Krämer, der mit einem Paar billiger Holzschuhe winkt.
»Da ist einer, sieh doch«, ruft sie aufgeregt.
»Nein, du kleiner Papagei«, sagt er und stürmt weiter. »Wir suchen einen Goldschmied.«
Als Hans Christian in der Sværtegade zwei Wachmänner sieht, greift er nach der Hand der Kleinen und hält sie gut fest. Die Wärme, die von ihrer Hand in seine strömt, weckt die Erinnerung an seine Mutter, die sich so sehr gewünscht hätte, dass er eines Tages selbst eine kleine Familie gründet. In ihren klarsten Momenten, zwischen einem Schluck Schnaps und einem Mundvoll Branntwein, packte sie ihn manchmal im Nacken und ermahnte ihn, doch ja den Namen weiterzuführen, womit sie eine Familie meinte. Frau und Kinder, viele Kinder. Dabei wusste seine Mutter nur zu gut, dass es so nicht kommen würde. Dass in ihm eine andere Kraft wohnte, etwas Fremdes und Wildes in seiner Brust zerrte. Sie konnte es weder in Worte fassen noch verstehen, gespürt hat sie es aber trotzdem. Sosehr seine Blicke und Gedanken von den jungen, braun gebrannten Fischern aus Napoli angezogen wurden, so unwahrscheinlich sind Frau und Kinder, eine Familie. Aber man kann nicht einfach die Augen und Sinne davor verschließen und die Richtung wechseln. Trotzdem hat das Mädchen auf wundersame Weise seinen Blick verändert. Es ist jetzt schon ein paar Tage her, dass er an die zwei Fischer gedacht hat, an jenen Abend im Hafen.
Marie zieht an seiner Hand.
»Bist du mein Onkel?«, fragt sie.
»Nein«, antwortet er.
»Bist du dann mein Vater? Salomine sagt, alle haben einen Onkel, und alle haben einen Vater.«
»Ich bin nicht dein Vater, ich bin der Vater von niemandem«, sagt er und denkt, dass er im Grunde genommen selber noch ein Kind ist.
»Salomine sagt, alle Männer aus der Stadt könnten mein Vater sein, und ich soll mir einfach einen aussuchen.«
»So was«, sagt Hans Christian und sucht nach Worten. Irgendwelchen. Er findet keine.
Zum Glück erreichen sie in dem Moment die Gothersgade, in der drei Goldschmiedewerkstätten nebeneinanderliegen.
Über dem ersten Laden prangt ein geschnitztes Holzschild. Hans Christian klopft an die Tür, es macht aber niemand auf. Der nächste hat in dem Fenster zur Straße eine Auswahl seiner Gold- und Silberarbeiten ausgestellt. Hans Christian nimmt Marie auf den Arm, damit auch sie etwas sehen kann.
»Die ist hübsch«, sagt Hans Christian und zieht an einer Glocke neben der Tür.
Kurz darauf öffnet sich eine Luke in der Wand.
»Haben Sie einen Termin?«, fragt eine ältere Frau.
»Vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich wurde niedergeschlagen«, sagt Hans Christian.
»Wir sind kein Hospital, sondern ein Juweliergeschäft, Kopenhagens vornehmster Goldschmied«, sagt sie, nachdem sie Hans Christian misstrauisch in Augenschein genommen hat, und knallt die Luke zu.
Marie und er gehen weiter zu dem dritten Laden. Er sieht bescheiden aus und liegt in einem zugewucherten Hinterhof. Auf eins der Fenster ist der Schriftzug Hofgoldschmied Meyer gemalt. Durch die Scheibe sieht Hans Christian einen Mann mit einer zusätzlichen Vergrößerungslinse auf dem einen Brillenglas ein Schmuckstück untersuchen.
»Was wollen Sie?«, fragt der Goldschmied, noch ehe Hans Christian angeklopft hat.
»Mein Vater ist geschlagen worden«, antwortet Mariechen.
Die helle Mädchenstimme veranlasst den Goldschmied, von seiner Arbeit aufzuschauen.
»Das tut mir sehr leid, mein Mädchen.« Der Goldschmied mustert Hans Christian. »Ach du je, das sieht aber schlimm aus. Sind Sie überfallen worden?«
»Ja«, sagt Hans Christian und nimmt die Mütze ab.
»Vor der Stadt? Da passiert alle naselang was. Räuber haben es oft auf Leute abgesehen, die gerade von einem Juwelier, Goldschmied oder von der Bank kommen. Sobald sie aus dem Nordtor hinaus sind, schlagen sie zu. Aber wie kann ich Ihnen weiterhelfen? Wurde Ihnen ein Erbstück gestohlen, das Sie nachgemacht haben wollen?«
»Der Verbrecher hat mir ins Gesicht geschlagen und dabei einen Abdruck hinterlassen.«
»Oh ja, ich sehe es«, sagt der Goldschmied.
»Und nun möchte die Polizei gerne mehr über diesen Abdruck erfahren.«
»Das hört sich ungewöhnlich an. Äußerst ungewöhnlich«, sagt der Goldschmied kopfschüttelnd. »Und fällt wohl nicht ganz in mein Berufsfeld. Sie sollten besser einen Arzt konsultieren, oder einen dieser neumodischen Schädelforscher.«
»Mag sein, ja. Ich wollte Sie aber trotzdem fragen, ob Sie mit Ihrer langen Berufserfahrung einen Kennerblick auf den Schaden werfen könnten. Vielleicht erkennen Sie den Ring ja wieder, der diesen Abdruck hinterlassen hat?«
Hans Christian zeigt auf die Wunde über seinem Auge.
Der Goldschmied scheint ein paar Zentimeter zu wachsen.
»Ich habe im Laufe meines Lebens einen ganzen Berg Ringe geschmiedet.« Er wirft einen Blick auf die Wunde. »Aber woher wissen Sie, dass es ein Ring war und nicht ein Stock oder eine Keule, die diesen Abdruck an Ihrer Stirn hinterlassen hat?«
»Weil es eine Hand war, die mich geschlagen hat. Mit einem Ring am Finger«, sagt Hans Christian.
Der Goldschmied seufzt.
»Was soll’s«, sagt er. »Kommen Sie herein. Setzen Sie sich. Und entschuldigen Sie die Unordnung, aber so ist das nun einmal, wenn man so viele Jahre wie ich allein im Geschäft ist. Der starrköpfige Sohn musste ja unbedingt eine Banklehre machen.« Seine letzten Worte sind von einem verbitterten Lächeln begleitet. »Für ihn bedeutet es das Glück auf Erden, in der Zentralkasse zu sitzen und das Geld ehrbarer Menschen zu verwalten. Das verstehe, wer will.«
Hans Christian lässt sich wortlos auf einem dreibeinigen Schemel nieder. Marie steht schräg hinter ihm und drückt sich an ihn. Es ist warm im Raum. Hans Christian sieht, dass der Goldschmied unter seinem braunen Lederschurz keine Hose trägt. Er hat kaum noch Haare auf dem Kopf und braune Zähne, stechend blaue Augen, und seine Hautfarbe erinnert an das Gold, von dessen Verkauf er lebt.
»Dann wollen wir mal schauen«, sagt der Goldschmied und richtet die Vergrößerungslinse auf die Wunde.
Aus dem Augenwinkel sieht Hans Christian Mariechens neugierige Blicke auf eine Reihe von Händen, die an der Wand angebracht sind. An den Fingern stecken und hängen Schmuckstücke, Ketten und Ringe, die in dem gedämpften Licht der Werkstatt schimmern. Im Kamin in der Ecke glimmt ein kleines Feuer, umgeben von verschiedenen Töpfen, Gefäßen und Kannen.
»Das ist vor allen Dingen eine blutige Wunde«, sagt der Goldschmied. »Wenn ich da irgendwas erkennen soll, muss ich sie erst einmal reinigen. Sind Sie damit einverstanden?«
Hans Christian sitzt reglos da und nickt unsicher.
»Sei so gut, Mädchen, lauf die Treppe hoch und bitte meine liebe Frau um eine Schale mit frischem Wasser und einen Lappen«, sagt der Goldschmied mit einem Blick auf Marie.
Marie stürmt los. Hans Christian hört ihre trippelnden Füße über sich. Kurz darauf kehrt das Mädchen mit der Frau des Goldschmieds zurück, die vom Fuß der Treppe beobachtet, wie der Goldschmied die Wunde mit Wasser ausspült und mit kleinen Zangen und einem spitzen Messer bearbeitet.
Es kribbelt, sticht und brennt, am liebsten würde Hans Christian laut schreien. Er hat physischen Schmerz schon immer stärker empfunden als andere Menschen. Er wächst in seinem Körper heran, drängt heraus und zerreißt ihn fast.
»So«, sagt der Goldschmied. »Jetzt kann ich ein wenig besser in die Wunde schauen. Da ist in der Tat ein deutlicher Abdruck, aber was das darstellen soll, wissen die Götter. Haben Sie irgendetwas sehen können, bevor der Schlag Sie getroffen hat?«
Hans Christian denkt nach. Blitz und Donner. Ein wildes Tier.
»Ich habe einen Blitz gesehen, ehe die Faust mich getroffen hat«, ohne zu wissen, was das zu bedeuten hat.
»Ich glaube gern, dass Sie bei dem Schlag einen Blitz gesehen haben, aber weiter kann ich Ihnen leider auch nicht helfen«, sagt der Goldschmied und kratzt sich die Glatze. »Sie sollten wirklich zu einem Arzt gehen.«
Hans Christian weiß nicht, was er erwartet hat. Er steht auf. Marie hält ihn an einer Jackentasche fest.
»Es sei denn«, sagt der Goldschmied und sieht seine Frau an. »Marthe, wenn du mir einen Becher kochendes Wasser bringen würdest. Ich habe eine Idee, aber ich kann nicht versprechen, dass es klappt. Na, das werden wir bald sehen.«
Die Frau geht zu der Feuerstelle. Hans Christian hört sie mit den kleinen Töpfen und Kesseln hantieren. Kurz darauf gießt der Goldschmied etwas kaltes Wasser in die kochende Flüssigkeit und gibt ein graues Pulver aus einem Beutel hinzu. Es entsteht ein blasser, zäher Teig, der nach faulen Eiern stinkt.
Jetzt drückt der Goldschmied ein kleines Metallrohr auf die Wunde. »Meine Kleine, würdest du wohl die Hand deines Vaters halten? Das wird gleich ordentlich wehtun«, sagt er.
Mariechen nimmt Hans Christians Hand und sieht ihn an.
»Sie müssen jetzt ganz still sitzen und dürfen sich nicht bewegen. Wenn dieser Stoff Ihnen in die Augen läuft, kann ich für nichts garantieren …«
Hans Christians erster Impuls ist, laut zu schreien. Aus Angst, sein Augenlicht zu verlieren. Die Augen, die ihm solche Freude bereitet, ihm so viel gegeben haben. Er will nicht durch die Stadt irren wie ein einäugiger Bettler. Was für ein unerträglicher Gedanke. Aber ehe er noch etwas sagen oder tun kann, hat der Goldschmied schon den grauen Brei in das Rohr gegossen. Als die zähe Masse auf die offene Wunde trifft, jagt der Schmerz einen Blitz durch seinen Körper. »Was machen Sie mit mir?«, wimmert er.
»Nicht reden, guter Mann, sitzen Sie still. Das muss jetzt trocknen. In der Wartezeit kann Ihre Tochter mit meiner Frau hoch in die Küche gehen und sich ein Plätzchen abholen.«
Hans Christian drückt Maries Hand. Sie sieht aufgeregt und etwas unsicher, aber zugleich fasziniert aus. Sie ist noch nie in einem fremden Haus gewesen und hat Plätzchen angeboten bekommen. Sie geht mit der Frau die Treppe hoch. Hans Christian hofft inständig, dass sie nichts verrät. Von Anna, dem Hurenhaus und dem Mörder.
Der Goldschmied dreht sich zu einem kleinen Tisch um und überlässt Hans Christian eine Weile sich selbst. Wie lange wird er warten müssen? Die Zeit rennt davon, bald geht der Maskenball los, und Molly erwartet ihn am Tunnelausgang bei den Stallungen. Und er hat noch keine Verkleidung.
»Der Gips dürfte jetzt trocken sein. Sehen wir es uns doch mal an«, sagt der Goldschmied und nimmt das Rohr von der Stirn. Es fühlt sich an, als würde er an der Wunde reißen. Dann setzt er wieder die Linse vor das Brillenglas und betrachtet ausgiebig sein Werk, ehe er endlich etwas sagt.
»Ich bin nicht sicher, was das darstellen soll. Sie sagten, dass Sie einen Blitz gesehen haben, aber das hier erinnert eher an ein Kreuz.«
Er reicht Hans Christian den Abguss, in dem die Ränder der Wunde zu erkennen sind und der Abdruck, den der Schlag hinterlassen hat.
Der Goldschmied hat recht. Es könnte ein Kreuz sein. Oder eine Flagge. Es sieht ein bisschen aus, als würde die Flagge brennen, aber das ist schwer zu erkennen.
»Haben Sie als Hofgoldschmied jemals einen Ring hergestellt, der so aussieht? Oder repariert?«, fragt Hans Christian. »Es könnte sein, dass mein Angreifer aus dem Schloss kommt.«
»Nicht, soweit ich mich erinnere«, sagt der Goldschmied mit sorgenvoller Miene. »Sie sind doch nicht in etwas Ungesetzliches verwickelt?«
»Nein«, beeilt Hans Christian sich zu sagen. »In keinster Weise.«
Der Goldschmied sieht sich den Abguss noch einmal an.
»Augenblick mal, womöglich habe ich das Symbol tatsächlich schon einmal gesehen. Warten Sie kurz.«
Er verschwindet in einem kleinen Kabuff unter der Treppe und kommt mit einer schwarzen Ledermappe zurück, die er auf die Arbeitsplatte legt. Dann blättert er durch die darin enthaltenen Papierbögen mit hübschen Skizzen, Monogrammen und allen möglichen Symbolen. Kronen, Äxte und Zepter. Wölfe, Bären und Adler.
»Ich habe eine Reihe Siegel und einzigartige Schmuckstücke für den Adel und verschiedene Orden angefertigt. Auch für Richter und Bürgermeister«, sagt er.
Er holt eine neue Mappe. Blättert immer schneller.
»Da.« Er hält inne und zeigt auf ein Schild, ein Wappenzeichen.
Ein Anker mit einem Banner in der Mitte. Auf dem Banner eine Löwenpfote, die ein langes Goldmesser hält. Über dem Anker prangt eine Krone.
»Interessant, sehr interessant«, sagt der Goldschmied. »Sehen Sie das?«
Hans Christian hält den Abguss neben das Wappenzeichen. Es könnte das Gleiche sein. Unter dem Zeichen steht ein kurzer Text.
»Was steht dort? Wo kommt das her?«
Der Goldschmied ist fast so aufgeregt wie Hans Christian.
»Seekadetten-Akademie«, liest Hans Christian. »Das sagt mir nichts.«
»Die Offiziersschule der Marine«, erklärt der Goldschmied.
»Dann ist mein Angreifer Offizier?«
»Es sieht so aus. Vielleicht hat er aber auch nur den Ring eines Offiziers gestohlen.«
Ein Seemann, denkt Hans Christian erregt, während er versucht, das Ganze in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Das würde zu dem Speicher im Hafen passen. Die Verbindung zum Königshaus, zu dem viele Mitglieder der Flotte gehören.
Er schüttelt dem Goldschmied die Hand.
»Ich danke Ihnen, tausend Dank«, sagt er und wischt sich mit dem Lappen über die noch immer schmerzende Wunde. Er ist schon durch die Tür, als der Goldschmied hinter ihm herruft:
»Vergessen Sie Ihre Tochter nicht.«
Hans Christian bleibt stehen.
»Ach ja, meine Tochter«, sagt er und wartet, bis das Mariechen aus der Tür kommt, in jeder Hand drei Plätzchen und dazu den Mund voll. Hans Christian nickt dem Goldschmied noch einmal zu, ehe er den Innenhof verlässt. Von einer Kirche hört er die Glocke sieben Mal schlagen.
Bald wird Molly an der verabredeten Stelle auf ihn warten.
Und ihm fehlen noch ein Kostüm und eine Maske.