Kapitel 13
Madame Krieger ist erschüttert. Andersen lebt. Wie ein Phantom, ein Wiedergänger.
Sie ist überzeugt, dass er es ist. Er und seine Dirne. Die Hure hat sie wegen des Schwanenkostüms und der weißen Maske nicht gleich erkannt, aber die spröden Lippen und die großen Schneidezähne sind unverkennbar. Wie sie es fertiggebracht hat, die Anstellung im Schloss zu ergattern, und wie Andersen den Sturz im Zuckerspeicher überlebt hat, ist ihr ein unlösbares Rätsel. Klar ist ihr aber, dass die beiden ihretwegen hier sind. Sie wollen ihren Plan vereiteln.
Madame Krieger hastet durch den Korridor zu der Treppe im nördlichen Palastflügel, die zu den Kammern der Bediensteten führt. Es wimmelt von Dienern und Dienstmädchen, aber niemand hält sie auf oder fragt, was sie hier will. In den Augen der anderen ist sie ein maskierter Offizier, nichts weiter. Der Zeremonienmeister schaut kurz auf, als Madame Krieger mit einem Gruß an ihm vorbeiläuft.
Wie Andersen und seine Dirne darauf gekommen sind, dass sie es auf Johanne abgesehen hat, ist in diesem Moment nicht von Bedeutung. Sie muss ihre Aufmerksamkeit jetzt ausschließlich auf Johanne richten, sie darf die Gelegenheit, an sie heranzukommen, nicht verstreichen lassen.
Madame Krieger hat Johanne den ganzen Abend nicht einen Moment aus den Augen gelassen. Nicht einmal, als sie den Tanzsaal verlassen hat und in Richtung Dienstbotentreppe gelaufen ist. Aber jetzt ist sie plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.
Sie kann nur diesen Weg genommen haben, denkt Madame Krieger und läuft die Treppe zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf.
Im ersten Stockwerk geht es über einen großzügigen Treppenabsatz und durch eine offene Tür in einen langen Korridor. Am Eingang der Kolonnade sieht sie eine weitere offene Tür am Ende des Säulenganges.
Johanne ist zum Palais Levetzau hinübergelaufen.
Madame Krieger schließt die Tür hinter sich und schiebt eine schwere Truhe davor, um Andersen und seiner Dirne den Weg zu versperren. Sie werden den Umweg über den Schlossplatz oder über eine Treppe in einem anderen Teil des Palais in Kauf nehmen müssen.
Beides wird sie Zeit kosten, wenn sie sich nicht schon in den Gängen mit den vielen Türen und Zimmerfluchten verirren. Vielleicht laufen sie ja auch den Wachen in die Arme, die überall nach Andersen suchen. Madame Krieger kann jede Hilfe gebrauchen.
Sie läuft durch den Geheimgang mit der niedrigen Holzdecke, der in aller Hast gebaut worden war, als es dem König wichtig war, sich unbemerkt zwischen den Palästen hin und her bewegen zu können. Dass es sich um eine inoffizielle Abkürzung handelt, ist schon an der spärlichen Beleuchtung zu erkennen. Nur wenige der weit verteilten Talglichter brennen.
Das andere Ende des Gangs mündet in einen Raum mit einem Schreibpult und drei um einen kleinen Tisch herum platzierten Stühlen.
Da die Bediensteten in diesem Teil des Schlosses nicht mit Gästen rechnen, brennt auf jedem Treppenabsatz nur eine Lampe. Da. Eine weitere offene Tür. Madame Krieger hört Geräusche aus der nächsten Etage. Sie hastet die Treppe hinauf und wäre um ein Haar mit einem Mann zusammengestoßen, der, geplagt von übermäßiger Völlerei, vornübergebeugt nach Luft schnappt. Als der Mann sich umdreht, um nachzuschauen, wer die Treppe hochgelaufen kommt, setzt Madame Kriegers Herz einen Schlag aus. Das ist er, ihre große Liebe, der Mann, um den sich alles dreht.
Der Prinz. Ihr Prinz.
»Wer da?«, fragt der Prinz, als er ihr Offizierskostüm sieht. »Was macht Ihr in diesem Palais?«
»Eure Königliche Hoheit«, begrüßt sie ihn und geht ein paar Schritte auf ihn zu, ehe sie die weiße Maske in die Haare schiebt. »Wir scheinen beide auf Abwege geraten zu sein.«
Im ersten Augenblick sieht der Prinz enttäuscht aus. Dann lacht er. Etwas angetrunken, aber mit einem warmen Lächeln.
»Ihr könnt nicht mit mir sprechen«, sagt der Prinz. »Ich bin nämlich gar nicht hier. Ihr habt mich also nicht gesehen.«
Er tut so, als würde er davonschleichen.
»Euer Geheimnis ist bei niemandem besser aufgehoben als bei mir«, sagt sie und wünscht sich, die Begegnung möge niemals enden.
»Wenn Ihr es sagt.« Der Prinz lacht. »Ich kenne Euch, kann das sein? Ich treffe so viele Menschen, aber mir ist, als würden wir uns kennen. Haben Sie in Jægerspris gedient?«
»Wir kennen uns besser, als Ihr ahnt, Eure Königliche Hoheit«, sagt sie. »Wie geht es der Schulter?«
Sie sehen sich in die Augen. Länger, als in solch einer Situation nötig wäre. Viel länger, als sie sich je von einem zufälligen Zusammentreffen erhofft hätte. Es enttäuscht sie ein wenig, dass er betrunken ist. Sein Blick ist verschleiert, sein Sinn verschwommen.
Da hellt sich seine Miene auf.
»Ja, ja, ja. Jetzt fällt es mir ein«, sagt er und macht einen Schritt auf sie zu. »Wir kennen uns von der Abendstern . Zum Teufel. Es freut mich, Euch wiederzusehen.«
Er nimmt den Jägershut ab und steht etwas täppisch mit dem Hut zwischen den Händen vor ihr.
Sie sieht ihm tief in die Augen, spürt eine heiße Welle der Begierde durch ihre Lenden strömen. »Die Freude ist ganz meinerseits, Eure Königliche Hoheit.«
»Ach, lasst den Titel, wir sind ebenbürtig, Ihr und ich. Habt Ihr nicht eine Medaille für Euren heldenhaften Einsatz bekommen? Ach, wie oft habe ich daran gedacht …«
Etwas weiter oben öffnet sich eine Tür. Johanne betritt die Treppe in einem betörenden roten Kleid, das ihren üppigen Busen betont und ihren Hals noch länger wirken lässt. Sie hat die Arme verschränkt und sieht zu ihnen herüber.
»Oh, mein Fasan«, ruft der Prinz entzückt. »Du bist schon da. Ich war darauf eingestellt, auf dich zu warten.«
»Ich bin es, die auf dich gewartet hat«, sagt Johanne ungehalten, als sie Madame Krieger in dem dunklen Treppengang bemerkt und kurz einen Blick auf sie wirft.
»Darf ich vorstellen …«, fährt der Prinz fort. »Ja, wie soll ich Euch nennen? Meinen Schutzengel? Es ist Euer Verdienst, dass ich hier stehe, dass ich überhaupt noch lebe.« Der Prinz dreht sich zu Johanne um. »Dieser junge Offizier war es, der mich aus dem Wasser gerettet hat. Ohne ihn würde ich nicht mehr unter den Lebenden weilen«, sagt der Prinz, und Madame Krieger hört ihn in Johannes Ohr flüstern: »Und ohne ihn würde ich dich heute Nacht nicht verschlingen können.«
Johanne befreit sich aus der Umarmung des Prinzen und wirft Madame Krieger einen herablassenden Blick zu. In diesem Augenblick freut Madame Krieger sich auf den Moment, dem Mädchen die Brüste abzuschneiden wie einer Martinsgans.
Der Prinz breitet einfältig die Arme aus.
»Ich werde verlangt«, sagt er und kämpft sich die Treppe hoch. »Schön, Euch zu sehen. Aber bitte, das hier bleibt unter uns, nicht wahr?«
Madame Krieger nickt, ringt mit den Worten. Soll sie den Prinzen an die Worte erinnern, die er zu ihr gesagt hat, nachdem sie hinter ihm her über die Reling der Fregatte gesprungen ist? Sie hat den Prinzen über Wasser gehalten und an Land gezogen. Hat ihm so lange auf die Brust geschlagen, bis er Wasser gespuckt hat. Sie hat ihm Leben eingehaucht, und als er wieder zu sich kam, hat er sie mit großen, ängstlichen Augen angesehen. Noch nie habe ich etwas so Gesegnetes gesehen, hatte er gesagt, eine Hand an ihrer Wange. Wäret Ihr doch eine Frau, wäret Ihr doch nur eine Frau. Und damit hatte er Madame Krieger schluchzend in seine Arme gezogen, seine Lippen an ihrem Ohr, die Wärme seiner Brust an ihrer.
Madame Krieger schaut dem Prinzen hinterher, der, gefolgt von Johanne, in dem Zimmer verschwindet.
Die Tür fällt ins Schloss.
Es gibt eine Gerechtigkeit in der Welt. Starke Kräfte, die Ordnung ins Chaos des Lebens bringen. Das ist Schneiders Doktrin und auch die ihre. Johanne wird für ihre Arroganz bezahlen. Sie wird Madame Krieger all das geben, was ihr zusteht.
In der Etage unter ihr wird an eine Tür gehämmert.
Das muss Andersen sein. Mit seiner Dirne.
Noch kann sie ihr Ziel erreichen. Die Zeit ist auf ihrer Seite.
Madame Krieger steigt nach oben, in die Dunkelheit. Sie bückt sich, zieht das Hosenbein hoch und schiebt eine Hand in den linken Stiefel, wo der Dolch mit der zweischneidigen Klinge steckt. Auf dass Ordnung ins Chaos komme.