Kapitel
2
Es ist Nacht, die Stadttore sind geschlossen.
Molly rechnet sich die besten Chancen am Westtor aus, wo die geilsten Wachen Dienst tun. Die Dirnen der Stadt tauschen gerne Tratsch und Erfahrungen aus, an welchen Tagen und in welchen Monaten die Männer am hemmungslosesten sind und welche Vorlieben die Freier aus den verschiedenen Stadtvierteln und Gesellschaftsschichten haben. Dabei kam heraus, dass die Torwachen am Westtor die lüsternsten sind.
Molly versucht, den Gedanken aus dem Kopf zu bekommen. Zuerst einmal geht es darum, unbemerkt zum Stadttor und von dort irgendwie aus der Stadt zu gelangen. Sie hat sich dem Prinzen widersetzt. Wenn die Schlosswachen sie finden, droht ihr lebenslanges Zuchthaus oder die Todesstrafe.
Marie schläft auf dem Boden eines alten Karren. Das kleine Mädchen hat kaum mitbekommen, als Molly sie aus dem Strohbett gehoben, auf die Straße getragen und in den wackeligen Karren gelegt hat, den jemand unter einem Vordach in der Vingårdstræde abgestellt hatte. Molly hätte ohnehin keine Zeit gehabt, ihr etwas zu erklären, ganz davon abgesehen, hätte sie auch gar nicht gewusst, was sie der Kleinen hätte sagen sollen. Seit sie aus dem Schloss geflüchtet ist, hallen die Worte des Prinzen in ihren Ohren wider. Zur Hölle, findet die beiden Teufel
. Die Worte machen ihr Angst, verfolgen sie. Sie ist aus einem Fenster gesprungen und durch die Stadt geflohen, ist durch regennasse Gassen heim in die Ulkegade gerannt, die ihr mit einem Mal freundlich und friedlich erschien, trotz des üblichen Gezänks und Lärms. Sie hat das Schwanenkostüm von sich geworfen, ihr eigenes
Kleid angezogen und ein paar Habseligkeiten zusammengerafft. Als sie mit Mariechen auf dem Arm bei dem Karren angelangt war, ging im Schloss das Feuerwerk los.
In all dem Schlamassel hatte sie nur einen Gedanken … Hans Christian. Seine große Nase unter der Maske. Sein schlaksiger Körper. Seine ängstliche Stimme, als er hinter der Ankleiderin hergelaufen ist.
Sie muss ihn vergessen. An sich und Mariechen denken. Aus der Stadt fortkommen, auf die Landstraße und heim nach Onsevig. In drei Tagen könnten sie und die Kleine es nach Vordingborg schaffen, vielleicht auch zwei, wenn sie einen Platz in einer Postkutsche oder auf dem Wagen eines freundlichen Bauern ergattern. Von dort reicht ihr Geld vielleicht für die Überfahrt nach Falster, sie kostet vier Schilling. Nach Lolland kann sie selber rudern, wenn sie irgendwo eine Jolle findet.
Der Karren holpert über das Kopfsteinpflaster. Mariechen wird wach und sieht sich benommen um. Molly hat jetzt nicht die Zeit, sie zu trösten. Nicht die Kraft. Der Karren ist schwer und ihre Gedanken ein einziges Durcheinander. Wie sollen sie an den Wachen vorbeikommen? Wie wollen sie es bis nach Onsevig schaffen, ohne von Tagelöhnern und Landstreichern bedrängt und mit dummen Fragen gelöchert zu werden? Was wird ihre Mutter sagen, wenn sie mit Annas Bastard und der Nachricht von Annas Tod nach Hause kommt?
Am Ende der Farvergade, die auf den Heumarkt mündet, bleiben sie in sicherem Abstand vom Stadttor stehen. Ein Pferd und ein paar ausgemergelte Kälber stehen an einem großen Trog und trinken. Auf einem Heuwagen liegen ein paar Männer und schlafen. Eine ältere Frau sitzt auf einem Stein und ruht sich aus. Rechts liegt das Wachhaus mit zwei kleinen Schilderhäusern neben dem Eingang. Im Kontor brennt Licht. Ein Torwächter sitzt mit einer Pfeife im Mund an einem Tisch. Der andere steht unter einem Baum rechts des Gebäudes, ihn hätte sie fast übersehen.
Molly nimmt Mariechen auf den Arm. Die Kleine ist ganz schlapp und kalt und wimmert leise.
»Hör zu, Mariechen, meine Kleine, wir müssen die Stadt verlassen. Das ist für uns so das Beste. Kann ich dich kurz hier warten lassen?«
»Wo willst du hin, Tante?«, fragt das Mädchen.
»Ich muss mit dem Wachposten reden. Ich komme gleich zurück«, sagt Molly und atmet tief ein.
Sie hat nur diese eine Chance. Gelingt es ihr nicht, durch das Tor zu kommen, wird man sie sehr bald finden und festnehmen. Es ist schwierig, in Kopenhagen unterzutauchen. Erst recht mit einem Kind im Schlepptau. Irgendjemand tratscht immer. Der Wachposten unter dem Baum richtet sich auf, als er Molly auf sich zukommen sieht, entspannt sich aber, als er sieht, dass es sich um eine Frau handelt.
»Das Tor ist zu«, sagt der Wachposten und winkt Molly mit der Hand weg.
»Ich muss aus der Stadt raus«, sagt Molly. »Wir werden verfolgt.«
»Ach ja?«, sagt der Wachposten und tritt einen Schritt nach vorn. »Wer ist ›wir‹?«
»Meine Nichte und ich«, sagt Molly und zeigt zu den Häusern, bei denen das Mariechen steht und friert. »Ihre Mutter ist gestorben. Ich gebe euch gern die zwölf Schilling dafür, die ich noch habe«, sagt sie in der Hoffnung, dass er sich auf den Handel einlässt. Wenn er nur verhandeln will, wird es schon klappen. Handeln kann sie. Wenn nicht, weiß sie nicht, wie es ausgeht.
Der Wachposten schüttelt den Kopf und mustert sie von Kopf bis Fuß. An ihrem Busen in dem viel zu dünnen Kleid bleibt sein Blick hängen. Er will gerade etwas sagen, ihr ein Angebot machen, eine Möglichkeit eröffnen, als eine schwarze Kutsche mit einem Vierergespann lärmend auf den Heumarkt geprescht kommt.
Dahinter folgt ein kleinerer Wagen.
Die eben noch schlafenden Männer springen von dem Heuhaufen,
die Kälber brüllen aufgeregt.
Der Kutscher peitscht die Pferde voran und zieht gleichzeitig die Zügel an, damit sie in Schritt fallen. Ehe Molly noch einen klaren Gedanken fassen kann, ist der Wachposten schon auf dem Weg zum Wachhaus.
Mariechen schiebt ihre kalte Hand in Mollys.
»Was ist hier los, Tante?«
»Ich weiß es nicht«, flüstert Molly und zieht ihre Nichte mit sich in die Schatten unter den Baum.
Beide Wagen sind vor dem Tor zum Stehen gekommen, die schwarze Kutsche gehört zum Königshof, das Strahlen der Krone ist selbst in der Dunkelheit zu erkennen. Eine Gestalt mit schwarzer Kapuze über dem Kopf und einer Lampe in der Hand steigt aus dem kleineren Wagen und geht nach vorn zu der schwarzen Kutsche. Unter der Kapuze erahnt Molly ein Paar strahlend blaue Augen, die sie schon einmal gesehen hat. Im Schloss. Dort war der Mann als Kaufmann verkleidet. Und im Marstrand, bei dem schweigsamen, vornehmen Mann, der mit dem Polizeidirektor zu Mittag gegessen hat.
»Wer da?«, ruft der Wachposten unsicher.
»Mein Name ist Schneider. Das Tor wird erst geöffnet, wenn ich es sage.«
»Nein! Öffnen Sie auf der Stelle das Tor und lassen Sie mich durch«, ruft eine Stimme aus der Kutsche, die Molly mit Schrecken wiedererkennt. Es ist der Prinz.
Hastig zieht der Torwächter den Riegel heraus und legt die Hand an den Torgriff. Molly überlegt, ob sie und die Kleine die Gelegenheit beim Schopf packen und direkt rauslaufen sollen, oder ob es besser ist, sich später im Schutz der Kutsche hinauszuschleichen.
»Halt, Soldat«, sagt Schneider leise, aber bestimmt, als spräche er mit einem Kind. »Treten Sie weg von dem Tor und verhalten Sie sich ruhig. Und tun Sie erst etwas, wenn ich es Ihnen sage.«
Der Wachposten richtet sich kerzengerade auf und sieht sich um.
Schneider steigt in die große Kutsche, die Lampe vor sich. Die Tür steht offen, und Molly ist nah genug, um die goldenen Bezüge in dem schmucken Wagen und die Silhouette des Mannes, der darin sitzt, erkennen zu können. Es ist der Prinz, dieses Mal sehr viel bekleideter als bei ihrer letzten Begegnung.
Schneider setzt sich dem Prinzen gegenüber und schiebt die Kapuze in den Nacken.
»Ich weigere mich«, sagt der Prinz. »Ausgerechnet diese verfluchte Insel. Was um alles in der Welt soll ich dort tun? An diesem gottverlassenen Ort voller starrköpfiger Menschen – Tausende Meilen entfernt von allem.«
»Eure Hoheit, ich denke, genau das ist die Pointe«, sagt Schneider. »Der König duldet es nicht länger, dass Ihr Euch ins Schloss schleicht, um Eure Muse zu besuchen, Eure Gespielin, denkt doch auch einmal an Eure Gemahlin.«
»Das ist ungerecht. Er kann mich nicht einfach wegschicken. Niemand darf auf diese Weise über andere Menschen bestimmen. Ich werde an Langeweile sterben.«
»Es ist nur für eine begrenzte Zeit. Ein paar Monate. Ich werde versuchen, mit Eurem Schwiegervater zu reden«, sagt Schneider.
Seine Augen leuchten auf, als der Lichtschein der Lampe sein Gesicht streift.
»Der alte Hund lässt sich doch von niemandem etwas sagen«, schimpft der Prinz. »Für ihn ist es das Bequemste, mich fortzuschicken. Man könnte meinen, er hätte sich zum höchsten Ziel gesetzt, mich niemals auch nur in die Nähe des Throns gelangen zu lassen. Erst verbannt er mich nach Jægerspris, jetzt gar nach Island.«
Molly bedeutet Mariechen, leise zu sein, und schleicht ein Stück näher an die Kutsche heran. Schneider redet eindringlich auf den Prinzen ein.
»Tut, was der König von Euch verlangt. Begebt Euch nach Kvæsthusbroen, wo gerade die Abendstern
aufgetakelt wird. Richtet Euch in Island ein und kehrt nach Hause zurück, wenn der König wieder besser gelaunt ist. Bald seid Ihr an der Macht. Bald schon bestimmt Ihr, wie das Land regiert wird. Wenn Ihr auf die richtigen Stimmen hört.«
»Dient Ihr mir oder dem König?«, fragt der Prinz verärgert.
»Ich diene der Vernunft. Dem Fortschritt. Möge der Klügste herrschen.«
»Nie um eine kluge Antwort verlegen«, erwidert der Prinz mit einem langen Blick auf Schneider. »Aber versprecht mir wenigstens zwei Dinge.«
»Die da wären?«, fragt Schneider.
»Findet Johanne.«
»Wir sind auf der Suche nach ihr und werden sie über kurz oder lang finden«, sagt Schneider. »Und das Zweite?«
»Sorgt dafür, dass die zwei Teufel ihre Strafe bekommen. Dieser Andersen ist schuld daran, dass ich auf eine von Bootsbauern und Walfängern bevölkerte Vulkaninsel verbannt werde. Und schnappt verdammt noch mal dieses hinterhältige Dienstmädchen und zieht ihr jeden Zahn einzeln. Sperrt sie ins Kastell, wo sie darben soll, bis ich wieder nach Hause komme, um persönlich ihrer Hinrichtung beizuwohnen.«
Molly durchrieselt es kalt. Sie weiß, dass sie in Gefahr ist, trotzdem trifft es sie, es so deutlich ausgesprochen zu hören. Hass und Zorn in der Stimme des Prinzen sind direkt auf sie gerichtet. Sie zieht sich mit Mariechen in den Schatten unter den Baum zurück.
Mariechen sieht sie besorgt an.
»Was ist los, Tante?«, flüstert sie. »Warum bist du so traurig? Was haben die Männer gesagt?«
Dann dringt wieder die Stimme Schneiders zu ihr: »Andersen sitzt
bereits in einer Zelle der Irrenabteilung des Bürgerhospitals in Erwartung seiner Hinrichtung. Cosmus klopft ihn weich, bald wissen wir, wo das Dienstmädchen ist, das übrigens gar kein Dienstmädchen, sondern eine Hure ist, die Andersen bei seinen Verbrechen unterstützt hat.«
»Findet dieses Weibsstück«, sagt der Prinz.
»Nichts liegt mir mehr am Herzen«, entgegnet Schneider.
Aus ihrem Versteck sieht Molly, wie sich die beiden Männer mit einem Händedruck verabschieden, bevor Schneider aus der Kutsche steigt. Mit einem kurzen Handzeichen signalisiert er dem Wachposten, dass die Kutsche die Stadt nicht verlassen wird.
»Sie haben nichts gesehen«, schärft Schneider dem Mann ein.
Der Wachposten nickt, verneigt sich und läuft zu seinem Kollegen im Wachhaus.
»Und was machen wir jetzt?«, fragt Mariechen. »Verlassen wir die Stadt?«
Molly zögert. Sie sieht die beiden Wagen wenden und hört die Hufe der Pferde auf dem Pflaster.
»Ja«, antwortet sie und sieht Mariechen tief in die Augen. »Wir gehen nach Onsevig. Du und ich, mein Mariechen.«
Der Riegel des Westtors ist noch nicht wieder vorgeschoben, und die Wachen sind im Wachhaus.
Sie muss nur durch das Tor und über die Zugbrücke. Bis Sonnenaufgang könnten sie es auf der Landstraße bis nach Herstedøster schaffen.
Verzeih mir, Hans Christian, denkt Molly. Aber jetzt muss ich an mich denken. Und an Mariechen. Sie fasst die kleine Hand und tritt aus dem Schatten des Baumes heraus.