Kapitel
4
Annas Schwefelhölzchen, welche Hoffnungen hatten sie einmal damit verknüpft, denkt Molly, reißt eines davon an der Wand an und sieht Funken auf das lockere Stroh am Boden fallen. Eine erste, beinahe unsichtbare Flamme läuft am Boden entlang über Dreck, Kleiderfetzen und Exkremente, wächst zu einer orangeroten Feuerkugel heran, die sich gierig auf die eingetrockneten Brennnesseln und alten Säcke stürzt. Erst steigen nur kleine Rauchwolken zu dem geschlossenen Kellerfenster auf. Die stillgelegte Vorratskammer liegt abseits des Hauptgebäudes, das Feuer wird sich nicht auf den Rest des Hospitals ausbreiten, aber genug Aufregung verursachen.
Sobald es etwas stärker qualmt, will sie das Personal und die Verrückten im Keller alarmieren. In dem Durcheinander, das dann entsteht, ist hoffentlich genug Zeit, Hans Christian ausfindig zu machen und herauszuholen.
Einen Augenblick zögert sie noch. Hätte sie doch lieber fliehen sollen, nach Onsevig zurückkehren und noch einmal von vorn beginnen? Ein neues Leben, oder in gewisser Weise ein altes Leben, zusammen mit Mutter und Mariechen? Es war verlockend gewesen. Aber sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden, konnte der Gerechtigkeit nicht den Rücken kehren. Und auch Hans Christian konnte sie nicht einfach im Stich lassen. Sie muss ihn aus diesem scheußlichen Hospital befreien.
Um gemeinsam mit ihm den wahren Mörder zu finden.
Auf dem Flur stößt sie mit einer Hilfsschwester zusammen. Die Frau hat dunkle Ringen unter den Augen. Sie mustert Molly, als würde sie sich fragen, ob sie eine der Patientinnen ist, doch dann fällt ihr Blick
auf die Schwesternuniform, die Molly von einer Wäscheleine auf der Rückseite des Hospitals gestohlen hat.
»Was tun Sie hier, Fräulein?«
»Ich bin geschickt worden, um Brennnesseln zu holen«, sagt Molly. Aus ihrer Zeit im Krankenhaus weiß sie, dass mit Brennnesseln die Verrückten gezüchtigt wurden. »Aber da unten riecht es nach Rauch.«
»Rauch?«, fragt die andere nach.
Im gleichen Moment ist ein lautes Knacken zu hören.
»Was ist da los?« Die Hilfsschwester läuft zur Tür und sieht in den Raum. Die ganze Wand steht bereits in Flammen, die Bodendielen glühen. Molly sieht, wie die Frau die Augenbrauen zusammenzieht. Ihre Wangen werden von der Hitze rot.
»Vorsicht!«, ruft Molly und zieht sie am Arm zurück, als die Flammen am Türrahmen nach oben schlagen. Das hat Molly nicht gewollt, aus dem Rauch, mit dem sie Verwirrung stiften wollte, sollte kein echtes Feuer werden.
Die Kopenhagener fürchten das Feuer. Alte Ängste und Geschichten kursieren in Kopenhagen im Überfluss. 1728 und 1795 sind große Teile der Stadt abgebrannt. An den letzten Brand erinnern sich noch viele. Knapp tausend Häuser waren dabei Opfer der Flammen geworden, unzählige Familien obdachlos geworden.
»Feuer«, sagt die Schwester zu sich selbst. Dann ruft sie es, schreit, wieder und wieder, und stürmt über die Treppe nach oben. Auch Molly ruft »Feuer«, und läuft in Richtung Irrenhaus.
Molly öffnet die rostige Gittertür und orientiert sich. Die Verschläge stehen hinten auf dem langen Flur. Sie nimmt eine Lampe von einem Haken, tritt über eine hohe Schwelle und klopft an die Holzverschläge.
»Hans Christian, bist du da?«
Sie lauscht. Hinter den Verschlägen rasselt und lärmt es. Einige
brüllen. Ein Patient heult wie ein Wolf, ein anderer schluchzt und fleht den König um Gnade an.
Sie klopft weiter, ruft seinen Namen. Der Flur steigt etwas an, am Rand der Wand sickert ein Rinnsal Urin hinunter. Alle Verschläge sehen gleich aus.
»Erlöse mich«, fleht jemand.
»Hans Christian, bist du das?« Sie legt ihr Ohr an den Verschlag. »Sag etwas, Hans Christian.«
»Hier«, hört sie. »Das bin ich. Und Papst Pius VIII
., wir sind viele, alle in einem Körper.« Die Stimme ist nicht die von Hans Christian.
Am anderen Ende des Flures organisiert ein Wachmann eine Menschenkette, um den Brand im Keller zu löschen, aber die Flammen breiten sich zu schnell aus, lecken durch alle Ritzen und Spalten.
Molly hastet weiter. Sie schlägt nur noch gegen die Verschläge und läuft weiter, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Hans Christian, wo bist du?«
Der lange Gang endet mit einer feuchten Wand. Auch der Rauch kann hier nicht weiter, wirbelt herum und wird von Sekunde zu Sekunde dichter. Molly muss die Luft anhalten.
Auf dem letzten, dunklen Abschnitt liegen nur noch zwei Verschläge.
Sie klopft gegen beide, ohne Antworten zu bekommen.
Vor einer der Türen steht ein Schemel. Sie schiebt die kleine Essensluke zur Seite und sieht hinein. Drinnen ist Rauch.
»Bist du da?«
Es kommt keine Antwort. Sie bückt sich, hält das Licht an die Öffnung und erblickt eine schmächtige Brust in Krankenhauskluft und ein blutig zerschlagenes Gesicht. Der Mund steht offen, die Zunge ist weiß. Der Dichter ist kaum zu erkennen, er sieht verrückt aus, eine gebrochene Existenz.
Aber er ist es, da besteht kein Zweifel.
Sie schiebt den Riegel beiseite und öffnet den Verschlag. Es ist nicht das erste Mal, dass sie so eine Irrenkiste sieht. Trotzdem ist sie bestürzt. Der Verschlag ist nicht größer als der Sarg, in dem ihr Vater beerdigt wurde. Auf dem Boden Stroh und eingetrocknete Hinterlassenschaften. Hans Christian liegt in einer Lache aus Blut und Pisse.
Sie versucht, seine Hand zu nehmen, aber er leistet schreiend Widerstand. Vielleicht ist alle Hoffnung vergebens, vielleicht ist er wirklich verrückt geworden, wenn er es nicht schon die ganze Zeit war.