Kapitel
5
Der Geruch von Schwefel und Rauch in seiner Nase überzeugt ihn davon, auf dem Weg in die Hölle zu sein. Der Teufel heißt ihn mit offenen Armen willkommen. Er ist vermutlich der Einzige, der einen schlechten Sänger, einen elenden Autor und einen noch erbärmlicheren Mörder bei sich aufnimmt. Welch Ironie des Schicksals, ausgerechnet in Flammen zugrunde zu gehen, wo er vor nichts mehr Angst hat als vor dem alles verzehrenden Feuer.
»Hans Christian?«
Mollys Stimme. Weit entfernt. Ruft sie ihn auf seinem Totenbett an, um für immer Abschied zu nehmen?
»Hans Christian? Kannst du mich hören?« Wieder Mollys Stimme.
»Leb wohl, Molly, meine unmögliche Freundin«, ruft er zurück. Wären seine Gelüste nicht so verkehrt und sie keine Dirne, wäre der Gedanke, sich mit ihr zu vermählen, gar nicht so beängstigend.
»Grüß Mariechen von mir«, ruft er.
»Mach die Augen auf«, schreit Molly und zieht seine Lider hoch. Sie ist es, welch schöner Anblick, wütend, erregt, atemlos und doch so voller Leben.
»Bist du jetzt ganz verrückt geworden?«, ruft sie und zerrt an seinem Arm.
»Ich war die ganze Zeit verrückt. Ich habe deine Schwester umgebracht.«
Molly sucht nach Worten, aber sie kommen nicht. Stattdessen schlägt sie ihm hart auf die Wange und flüstert dann liebevoll: »Komm, wir müssen hier weg!«
»Müssen wir?«, fragt er.
Sie hilft ihm auf die Beine. Überall ist Rauch. Sie nimmt seine Hand, stemmt den Fuß gegen die Wand und zieht ihn aus dem Verschlag ins Licht. Alles tut ihm weh.
Der Rauch wird immer dichter. Überall sind Schreie und Hilferufe zu hören, einer der Verrückten spricht einen Psalm. Unser Gott kommt und schweigt nicht. Fressend Feuer geht vor ihm her, und um ihn her ist ein großes Wetter.
Molly hustet. Hans Christian will sich übergeben, doch sein Körper ist leer. Er ist jetzt wach, blinzelt, aber seine Augen sind noch zugeschwollen.
»Molly, bist das wirklich du?«
»Deine einzige Freundin«, flüstert sie und zieht ihn hoch. Sie kann ihn nicht tragen, aber auch ihn zu stützen, fällt ihr so schwer, dass sie nur langsam taumelnd vorankommen. Jeder Schritt ist eine Herausforderung.
»Ich wähnte mich schon in Dantes Hölle«, sagt er. »Hab geglaubt, die Flammen sind gekommen, um die Sünden aus meinem Körper zu tilgen.«
»Sei still«, flüstert Molly ihm ins Ohr.
Hans Christian versucht, etwas zu erkennen, aber seine Augen brennen nach den langen Stunden im finsteren Verschlag.
»Was ist?«
»Schwestern und Wachmänner«, sagt Molly. »Sie versuchen, das Feuer zu löschen. An denen kommen wir nicht unbemerkt vorbei.«
Er reißt die Augen auf und sieht eine Reihe von Menschen, die eimerweise Wasser in den Keller schütten, während der Rauch immer dichter wird.
»Es gibt nur einen Ausweg«, sagt Molly. »Die Treppe, vor der sie stehen, hoch auf den Hof und durch das Tor.«
Hinter sich hören sie Schreie und Hilferufe.
Hans Christian dreht sich zu der langen Reihe der Verschläge um,
aus denen die Schreie kommen. »Warum hilft denen niemand? Die haben doch wohl nicht vor …«
»Hans Christian, nein«, sagt Molly. »Das darfst du nicht.«
Er tritt an eine der Türen. »Wir können sie doch nicht einfach hier verrecken lassen. Wir müssen ihnen helfen.«
»Du vergisst, dass die wirklich verrückt sind, einige von denen sind bestimmt Mörder. Wir dürfen die nicht rauslassen, die brauchen Behandlung, kalte Güsse, Brennnesseln.«
Hans Christian weiß um die Todesangst, die sie empfinden.
»Unsere Chance, rauszukommen, ist größer, wenn wir die Verschläge …« Hans Christian wedelt den Rauch weg, »… öffnen. Das lenkt die Wachen ab.«
Molly sieht ihn lange an.
»Vielleicht hast du recht.«
Mehr als vierzig Verschläge liegen in dem Tollhaustrakt Seite an Seite. Kaum haben sie die Kisten entriegelt, kriechen wundersame Geschöpfe heraus, die mit deformierten Körpern und entstellten Gesichtern über den Flur wanken. Viele von ihnen tragen die gestreifte Kluft des Hospitals. Einige haben nur noch Fetzen am Körper, wieder andere sind vollkommen nackt und verklebt von Dreck und Fäkalien. Das Stimmengewirr übertönt fast das Dröhnen der Flammen. Manche Patienten geraten in kopflose Angst und stürzen in Richtung Treppe. Zwei beginnen, sich zu schlagen.
Hans Christian sieht zur Treppe hinüber. Vor der dichten Rauchwand zeichnen sich die Silhouetten der Angestellten ab, die die Verrückten aufzuhalten versuchen.
»Wir müssen raus«, sagt Molly und schiebt Hans Christian in Richtung Treppe. Nur noch wenige Meter trennen sie von der Tür zum Treppenhaus, als plötzlich Cosmus vor ihnen steht. Sein mächtiger Körper blockiert die Tür.
Molly bleibt stehen. Hans Christian will etwas sagen, eine Erklärung
abgeben, aber Cosmus kommt ihm zuvor.
»Wo wollen Sie hin, Andersen?«, ruft er durch Feuer und Rauch.
»Wir müssen raus, es brennt«, sagt Hans Christian hustend.
Er geht auf die Tür zu, damit er den Polizeidirektor besser sieht, der sich ein Tuch vor die Nase hält.
»Hiergeblieben«, sagt Cosmus und schiebt Hans Christian zurück auf den Flur. »Soll die Gerechtigkeit Gottes euch richten.«
»Das können Sie nicht tun«, hustet Molly und baut sich vor dem Polizeidirektor auf. »Er hat es nicht getan, er ist unschuldig. Ich habe, ich …«
»Es ist vorbei, Andersen«, ruft Cosmus und schubst Molly in einen der dunklen Verschläge. Hans Christian sieht, wie er sich zu den Schwestern umdreht. »Schlüssel!«, brüllt er und wirft die Tür zu. Mit dem Luftzug streichen Hitze und Qualm über sie.
Plötzlich ist es vollkommen dunkel. Nur der orange Lichtstreifen unter der Tür lässt sie erkennen, wo oben und unten ist. Dann klirren die Schlüssel im Schloss.
»Nein!«, ruft Hans Christian und hämmert mit den Fäusten gegen die glühend heiße Tür. »Nein!«
Es geschieht nichts. Das Geräusch von seinen Fäusten erstickt im Prasseln der Flammen.
Molly liegt noch dort, wo Cosmus sie hingeschubst hat. Hans Christian kriecht zum Türspalt und legt die Wange auf den Boden, wo weniger Rauch ist. Cosmus dirigiert die Schwestern und Wachmänner nach oben, die heftig mit den Entflohenen kämpfen und mit Knüppeln auf sie einschlagen. Einer der Irren stürmt lichterloh brennend und laut schreiend auf einen Wachmann zu und reißt ihn zu Boden. Der Wachmann versucht vergeblich, sich zu befreien, als er selber Feuer fängt. Cosmus sieht entsetzt zu, ohne einzugreifen. Dann schiebt er zwei der Schwestern beiseite und stürmt die Treppe hoch.
»Raus, raus mit euch! Alle!«, ruft er und ist verschwunden. Nur die
beiden brennenden Gestalten am Fuß der Treppe bleiben zurück.
Hinter Hans Christian ringt Molly hörbar nach Luft. Auch er kann kaum noch atmen und will zu ihr krabbeln.
In diesem Moment sieht er die Schlüssel in der brennenden Hand des Aufsehers. Fünf verkohlte Finger umschließen das glänzende Metall.
»Molly!«, ruft er, ohne wegzusehen. »Molly! Halt durch!«
Er hört sie nicht weinen, glaubt aber zu spüren, dass ihre Tränen auf den glühend heißen Boden tropfen, wie Regen in ein heruntergebranntes Feuer.
»Ich glaube, ich …« Er starrt auf die Schlüssel.
Wenn er sie nur erreichen, mit ihnen sprechen könnte.
Jetzt ist auch Molly zur Tür gekrabbelt, sie schaut durch den Spalt und sieht dasselbe wie er.
»Hier!«, sagt sie und reicht ihm eine lange Haarnadel.
Er sieht sofort, dass es nicht gelingen kann, schiebt die Haarnadel aber trotzdem unter der Tür hindurch und versucht, die Schlüssel zu erreichen. Sie ist zu kurz.
»Ich … es klappt nicht«, sagt er und zieht die Hand zurück.
»Heißt das? Dass wir jetzt …?«, sagt Molly und hustet.
Hans Christian sieht noch einmal unter dem Spalt hindurch.
Die Schlüssel, wenn er sie doch nur überreden könnte, aufzustehen, wenn er sie mit einem Leckerbissen anlocken könnte. Aber wie soll er den Schlüsseln erklären, dass sie ihm etwas entgegenkommen müssen, wenn sie irgendeinen Nutzen haben wollen? Es muss doch möglich sein, ein Schlüsselbund zum Leben zu erwecken? Es ist ihm doch schon als Kind gelungen, ein Holzstöckchen dazu zu bringen, alles nur Erdenkliche zu tun.
»Hallo, ihr Schlüssel«, flüstert er.
Man darf die Dinge nicht anschreien, sie lauschen nur den leisesten Stimmen, nur den Kindern, den unschuldigen Seelen.
Er sieht zu Molly, ihr Blick ist benommen, sie bekommt kaum Luft. Dann richtet er seine Augen wieder auf die Schlüssel.
»So vieles habt ihr schon geöffnet, seid so oft gedreht und gewendet worden, habt auf- und zugeschlossen. Habt in den falschen Händen die Unschuld gefangen, die Gerechtigkeit hinter Schloss und Riegel gebracht. Doch das war nie euer freier Wille, ihr wolltet immer nur schützen und bewahren, habe ich recht?«
»Mit wem, zum Henker, redest du?«, ruft Molly hinter ihm.
»Ihr passt auf die einsame Frau auf, die allein zu Hause sitzt, schützt die Hütte im Wald, das sichere Heim der Familie. Ihr verschließt die Tür der Speisekammer, damit Diebe und Gesindel nicht die Gaumenfreuden rauben. Das ist euer wahres Ich, eure Arbeit und Bestimmung, nicht wahr?«
»Hans Christian! Hör auf.«
Molly hat wieder zu weinen begonnen. Sie murmelt Mariechens Namen und entschuldigt sich bei Anna für ihr Versagen.
»Liebe Schlüssel, wisst ihr was?«, flüstert Hans Christian.
»Nein, was soll das denn sein, Dichter?«
»Dies ist eure Gelegenheit, euch zu erheben und mehr zu tun, als nur Menschen herauszulassen und Dinge einzuschließen. Jetzt könnt ihr die Welt um eure eigene Achse drehen lassen, statt selber um die Finger anderer zu kreisen. Erhebt euch auf eure kleinen Eisenfüße, alle fünf. Es liegt an euch, ob ihr drei Beine und zwei Arme habt oder vier Beine und einen Stock, erhebt euch einfach und kommt zu mir.«
Molly weint hinter ihm, hustet und schluchzt. Verzweifelt flüstert sie Hans Christians Namen, kürzer und kürzer, bis er nur noch Hans hört, Ha, H. Worte in Auflösung wie ein Klecks Butter im warmen Brei.
Ein letzter Blick auf die Schlüssel, dann geschieht es. Er wusste es.
In allen Dingen steckt Leben, seien es nun Kreisel, Bäume, Puppen oder Zinnsoldaten. Es gibt einen Geist in Streichhölzern und eine Seele in Flammen. Die Welt ist in Bewegung, und Eisenschlüssel können
laufen. Unsicher, zögernd wie ein kleines Kind, das auf die geöffneten Arme seiner Mutter zuläuft, aber nichtsdestotrotz. Sie laufen.