Kapitel
6
Molly schnappt nach Luft. Tränen laufen ihr über die Wangen.
Sie weint um sich selbst und den verrückten Dichter, der jetzt auch noch mit den Schlüsseln zu reden beginnt. Sie weint um Anna und die schmerzhafte Ungerechtigkeit des Lebens, die gute Menschen in die Knie zwingt, bis sie so tief im Morast stecken, dass sie nicht mehr atmen können. Am meisten aber weint sie um Mariechen. Was soll nur aus ihr werden? Die Kleine wartet draußen vor dem Hospital. Bald wird sie begreifen, dass Molly nicht mehr zurückkommen wird. In den ersten Tagen wird sie in den Straßen umherirren. Das ist die gefährlichste Zeit. Da kann sie von einem der Tabakfabrikanten von der Straße entführt und gezwungen werden, Zigarren zu rollen. Diese Leute gönnen den Kindern nur wenig Schlaf in verdreckten Baracken. Wird so Mariechens Schicksal aussehen, wenn weder Mutter noch Tante auf sie aufpassen können? Oder hat die Kleine genug über die Gesetze der Straße und die barschen Regeln der Stadt gelernt, dass sie den Weg zurück in die Ulkegade findet? Wird Salomine sich ihrer erbarmen oder sie an den Höchstbietenden verhökern? Oder wird Marie zurück nach Onsevig gehen und einen Bauern finden, bei dem sie wohnen und arbeiten kann? Anna hatte es nicht geschafft, Marie ein besseres Leben zu ermöglichen, als sie selbst es geführt hat. Und auch Molly ist an dieser Aufgabe gescheitert. Jetzt ist die Kleine auf sich allein gestellt.
»Molly, Molly …«
Sie hebt den Blick. Und sieht Hans Christian, der die Schlüssel in der Hand hält. Die Schlüssel für die Tür.
»Wie?«, fragt sie und stemmt sich hustend auf die Knie.
»Sie sind mir entgegengekommen«, antwortet er und sagt Dinge, die keinen Sinn ergeben. Dass alles nur davon träumt, etwas anderes zu sein. Die Armen wollen reich sein, die Reichen frei, die Bäume wollen aus dem Wald heraus, der Wald in die Stadt, und die Vögel blicken voller Neid auf die Fische in den glänzenden Wellen des Meeres. Und Eisenschlüssel sind empfänglich für schöne Worte und Poesie.
»Ach, hör auf«, sagt sie, schnappt ihm die Schlüssel aus der Hand und schließt auf.
Der Flur ist verwaist, Rauch und Flammen haben das gesamte Gebäude leer gefegt.
Sie nimmt Hans Christians Hand.
»Halt dich fest, ich kenne den Weg.«
X
Im Hof des Hospitals herrscht blankes Chaos. Schreiende Männer und Frauen, die splitternackt herumlaufen, einige erbrechen sich in eine Ecke, während andere um einen Platz am Wassertrog kämpfen, um einen Schluck zu trinken. Zwischen all den gewöhnlichen Patienten irren Verrückte umher, Schweine und Hühner rennen quiekend und gackernd durcheinander, und immer mehr Menschen drängen aus dem Hof auf die Straße, fort vom Hospital. Den wenigen Aufsehern gelingt es nicht, sie aufzuhalten. Hilfsschwestern versuchen, eine Löschkette zu organisieren, um mit Eimern eine Wasserspritze zu befüllen, die das Feuer im Keller löschen soll, aber weder die Schwestern noch der Brunnen können Schritt halten. Ein scheuendes Pferd reißt fast den Wagen mit den Waren um, den es zieht. Eine junge Krankenschwester wickelt ein feuchtes Tuch um die Stirn eines alten Mannes.
»Los, weg hier!«, schreit Molly Hans Christian ins Ohr. »Bevor uns jemand bemerkt.«
Sie laufen zum Tor und mischen sich unter eine auf die Straße stürmende Gruppe. Molly erblickt einen Wachposten, der am Tor steht. Er wird von zwei Verrückten überfallen, die ihm die Lanze aus der Hand und die Mütze vom Kopf reißen, ehe sie mit den anderen in Richtung Stadt verschwinden.
Molly fasst Hans Christian am Arm und zieht ihn nach links.
Es sind jetzt mehr Menschen vor dem Krankenhaus als tagsüber. Auf dem Weg begegnet ihnen ein weiterer Spritzenwagen mit acht Mann, die laut rufen und eine Glocke läuten. Irgendwo in der Nähe bläst ein Polizist in seine Pfeife.
Molly geht vor, überquert die Straße und führt Hans Christian zu einer Gruppe von Bäumen auf dem Wall. Er sieht sie verwundert an. Dann entdeckt er Marie, die sich hinter einem Busch versteckt und sie mit großen Augen anstarrt. Als sie näher kommen, läuft das Mädchen die Böschung hinunter und wirft sich in Mollys Arme.
»Ist ja gut, meine Kleine«, seufzt Molly und lehnt sich an einen Baum. Ihre Lunge fühlt sich an, als wäre sie voller Asche und glühender Holzspäne. »Ich habe es dir doch versprochen«, sagt sie zu Marie und ringt nach Atem.
»Tante Molly hat das Feuer gelegt«, flüstert Marie Hans Christian ins Ohr. »Um dich da rauszuholen.«
»Schhh«, sagt Molly. »Damit prahlt man nicht. Das war nicht gut. So etwas darf man nicht tun.«
Mit einem Mal ist ein Prasseln zu hören, erst auf dem Pflaster, dann von den Baumkronen.
Sie drehen sich um und sehen zurück. Dicke Regentropfen klatschen aus dunklen Wolken auf den Boden. Das Licht flackert über dem Hospital, der Strom flüchtender Patienten reißt nicht ab. Ein Wachmann versucht, ein paar junge Männer davon abzuhalten, mit einem Pferd abzuhauen.
Hans Christian steht vor Molly und sieht sie mit einem seltsamen
Blick an. Die Kluft aus dem Tollhaus ist zerrissen und dampft vor Wärme, als ihm der Regen auf Schultern, Haare und das verrußte Gesicht fällt. Dann umarmt er sie. Sie spürt seinen knochigen Körper, seine Rippen und Finger.
»Ich verdanke dir alles«, sagt er. »Danke, danke.«
Einen Moment stehen sie da, das Geschrei und den Lärm der Stadt hinter sich. Sie spürt, wie er ihren Geruch einsaugt, ein paar Mal tief einatmet und seine Nase an ihren Hals legt. Dann befreit sie sich.
»Dein Geruch«, sagt er. »Der ist besonders.«
Sie schiebt ihn verlegen zur Seite. Sie hat sich im Schloss abgerackert, für Tausende Gäste den Tisch gedeckt, einen Mörder gejagt und ist vor der Polizei geflohen. Dann hat sie ihn aus dem Tollhaus und den Flammen befreit. Sie hat sich zwar umgezogen, als sie Marie geholt hat, aber wie eine feine Dame riecht sie sicher nicht. Eher nach Angst und Brandstiftung.
»Nein, ich meine etwas anderes«, sagt er und sieht sie an. »Wo hast du das her?«
»Was?«
Er legt die Hand auf ihr Halstuch und steckt die Nase in den Stoff. »Es ist derselbe besondere Geruch, mit dem ich betäubt wurde«, sagt er und erzählt Molly, dass der Mörder ihm im Speicher ein Tuch auf die Nase gedrückt und ihn damit außer Gefecht gesetzt hat.
»Was weiß ich?«, sagt Molly verärgert. »Das ist nicht mal mein Halstuch. Es gehört Anna.«
Mariechen schüttelt den Kopf.
»Aber ich habe es in ihrer Kammer gefunden. Es muss ihres sein«, sagt Molly.
»Wann hast du es gefunden?«, will Hans Christian wissen.
»An dem Tag«, sagt sie. An dem Tag, an dem sie Anna aus dem Kanal gezogen haben. »Ich war in ihrem Zimmer, um aufzuräumen. Das Tuch lag auf dem Boden.« Sie nimmt das Tuch ab und sieht es sich
an. »Ich habe es Anna nie tragen sehen, sie hatte eigentlich keine so feinen Tücher.«
Molly riecht daran, nimmt aber außer dem Rauch allenfalls einen Hauch von Zitrone wahr.
»Darf ich mal sehen?«, fragt Hans Christian, entfaltet das Tuch und hält es vor den Himmel, der langsam wieder heller wird. »Woher stammst du?«, fragt er das Tuch.
»Das kann von überall stammen. Vielleicht von einem Freier? Oder von einem Markt? Einem Krämer?«
»Das ist edle Handarbeit«, sagt Hans Christian. »Mit Stickerei und Spitzen. Das ist nicht billig. Vielleicht hat es der Frau eines Uhrmachers gehört, der Tochter eines Wagenbauers, oder es war das Geschenk eines Direktors an seine Mutter.«
So etwas kann Molly sich ebenfalls gut vorstellen. Sie muss plötzlich an die Buchstaben denken, die in den Stoff gestickt sind. »Da sind solche Inimilineale drin«, sagt sie.
Hans Christian sieht sie verdutzt an. »Was?«
»Du weißt schon, Inimilissialer. Also so eine Abkürzung des Namens.«
»Ach, du meinst Initialen?«
»Ja«, sagt Molly und spürt, dass sie rot wird. »Hab ich doch gesagt.«
Mariechen schüttelt den Kopf.
»AVK
«, sagt Hans Christian und sieht sich das Tuch nachdenklich an.
Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Das Tuch hat einfach dagelegen, hinter der Tür. Vielleicht hat es dem Mörder gehört. Der Gedanke, das Tuch um den Hals getragen zu haben, das sie wieder auf die Spur des Mörders bringen könnte, ist fast unheimlich. Warum ist ihr dieser Gedanke nicht schon eher gekommen?
»Eins wissen wir jedenfalls mit Sicherheit«, sagt Hans Christian,
sieht sie an und streckt einen Finger in die Höhe. »Der Mörder ist Offizier. Marineoffizier.«
»Ja«, antwortet sie und sieht noch einmal auf die drei Buchstaben.
»Und wo wohnen dänische Marineoffiziere?«, fragt Hans Christian.
Diese Frage kann Molly beantworten.
»In Nyboder«, sagt sie.
Alle Dirnen haben hin und wieder Freier aus dem Viertel mit den seltsamen Straßennamen wie Einhorngasse oder Kamelgasse. Dort war alles nach irgendwelchen exotischen Dingen benannt, die die Seeleute von ihren Reisen mitgebracht haben.
Hans Christian nickt.
»Dann wissen wir vielleicht, wo er wohnt.«
Molly denkt noch einmal über die drei Buchstaben nach.
»Und wir wissen, dass sein Name irgendwas mit AVK
zu tun hat.«
»Ja, wenn dieses Tuch denn wirklich einem Mann gehört«, sagt Hans Christian und sieht es sich noch einmal genauer an.
Im gleichen Moment nähert sich ein Pferdegespann und bleibt vor dem Hospital stehen. Die Türen springen auf, und ein paar Gestalten bauen sich am Tor auf. Gleich darauf tritt der Polizeidirektor auf das Trottoir und sieht sich wütend um, ehe er seinen Helm abnimmt und sich in die Kutsche setzt.
»Sperrt die ganze Stadt ab, durchsucht jeden Keller, jeden Winkel«, brüllt er seinen Männern zu, die die Hacken zusammenschlagen und auf dem Krankenhausgelände ausschwärmen.
Hans Christian sieht der Kutsche nach, die in rasendem Tempo davonfährt.
»Lass uns von hier verschwinden«, sagt er, schlüpft zwischen die Bäume und nimmt Kurs auf die Gasse, die hinter dem Krankenhaus entlangführt.
Molly folgt ihm. Marie nimmt ihre Hand. Vielleicht, um nicht zu fallen, vielleicht aber auch, weil sie spürt, dass es Molly nicht gut geht.
Als sie die Gasse erreichen, gehen hinter den ersten Fenstern die Lichter an. Einige Bewohner laufen raus auf die Gasse, um zu sehen, was los ist. Das Prasseln der Flammen, die Schreie und Rufe sind mittlerweile bis hierhin zu hören. Molly hält Mariechens Hand fest und geht weiter.
Hans Christian sieht in der verrußten Tollhauskluft mit den breiten Streifen wie ein Schlafwandler aus. In einer halben Stunde geht die Sonne auf. In einer halben Stunde haben sie vielleicht ihren Mörder.