Kapitel 9
Hans Christian geht voran. Im Haus ist es dunkel, nur die hartnäckigsten Sonnenstrahlen finden einen Weg durch die Schlitze der Fensterläden.
»Fräulein Krieger?«, ruft er.
Die Stimme ist jetzt deutlicher zu hören, aber immer noch schwach.
»Ich kann nicht runterkommen«, sagt sie in einem Tonfall, der ihm bekannt vorkommt.
Links von der Treppe, die in die obere Etage hinaufführt, liegt ein Arbeitszimmer. Hans Christian duckt sich unter dem niedrigen Türrahmen hindurch und sieht sich um. Eine alte Uhr tickt und surrt. Ist dies das Heim eines Mörders? An der Wand über dem grünen Sofa hängt das Gemälde eines Schoners mit windgefüllten Segeln. Auf dem Tisch liegen eine Schere und ein Federkiel. Er zieht sich zurück. Der frisch gefegte Boden ist mit Sand bestreut, bei jedem Schritt knirscht es unter den Sohlen. Die Tür zum Hinterhof steht offen und klappert leise im Wind. Hans Christian schiebt den Kopf hinaus. Der Hof ist gepflegt. In der Ecke steht ein Holzfass. Der Brennholzschuppen verschwindet fast hinter einem üppig wachsenden Rosenbusch. Ein paar Hühner flattern aufgeregt mit ihren gestutzten Flügeln.
Bis auf das Gegacker der Hühner und das Weinen eines Kindes irgendwo in der Nähe ist es still.
Hans Christian folgt Molly, die in der Küche verschwunden ist. Sie hebt Stofffetzen vom Boden auf, zwei von ihnen sind blutgetränkt. Sie zeigt sie ihm.
»Fräulein Krieger«, ruft Hans Christian erneut.
Keine Antwort. Er zeigt zur Treppe.
Sie nähern sich vorsichtig. Am Fuß der Treppe liegt eine Tasche, aus der ein Umschlag herausragt, daneben ein Kleid, ein Sommerhut, als wäre jemand beim Packen gestört worden. Sie gehen nach oben.
»Ich bin hier«, ist die schwache Stimme zu vernehmen. »Wer ist da?«
Ist das eine Falle?, denkt Hans Christian und fürchtet, dass der Mörder sie mit einem Messer attackieren könnte.
Von der Treppe aus können sie in eine Kammer schauen, in der Uniformen und Kleider hängen, Jacken und Korsetts, blank polierte Stiefel und Frauenschuhe mit hohen Absätzen.
Hans Christian wirft einen Blick in den nächsten Raum, eine spartanisch eingerichtete Kammer mit einem akkurat gemachten Bett, wie man es von einem Offizier erwartet. Über dem Bett hängt ein eleganter Säbel. Auf einem Nachttisch daneben sieht man ein Buch und eine Öllampe sowie ein gerahmtes Medaillon: die Tapferkeitsmedaille der Königlich Dänischen Kriegsmarine. Verliehen an Severin Krieger im Jahr 1828 . Seinem heldenhaften Einsatz auf hoher See verdankt der Prinz von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg sein Leben. Sein ewiger Dank sei ihm gewiss.
Hans Christian nimmt den Rahmen in die Hand und zeigt ihn Molly.
Auf dem Tisch liegt ein Pamphlet der Königlichen Akademie der Wissenschaften. W. H. Schneider als Gastredner. Der ideelle Mensch und sein Wirken .
Schon wieder dieser Schneider. Der Kaufmann mit dem angeketteten Jungen.
Hans Christian blättert in dem Pamphlet und liest, dass Schneider über seine Doktrinen von der Überlegenheit der Vernunft und dem Recht des Klügeren auf Herrschaft dozieren wird, anschließend werden Tee, Kaffee und Gebäck gereicht. Hans Christian stellt sich Severin Krieger bei dieser Veranstaltung vor, eifrig und aufmerksam. Bestimmt stammt die doppelt unterstrichene Randnotiz in sorgfältiger Handschrift von ihm: Mitgefühl ist die Schwäche der Klugen .
Sieht so das Böse aus?, denkt Hans Christian.
»Hier bin ich«, ist die schwache Stimme jetzt ganz aus der Nähe zu hören.
Aus der Kammer führt eine Tür in ein angrenzendes Zimmer. Es ist dunkel, die Vorhänge vor beiden Fenstern sind zugezogen. Die Luft ist stickig und verbraucht.
Die Frau in dem Bett ist nicht die, die ihnen die Tür geöffnet hat. Ihr langes blondes Haar lugt verfilzt unter dem Rand ihrer weißen Haube hervor. Als Hans Christian und Molly über die Türschwelle treten, rückt sie das Kissen in ihrem Rücken zurecht und setzt sich auf.
Der Raum ist weiß gekalkt und spartanisch wie eine Klosterzelle. Es gibt eine Waschschüssel in einem Gestell. Neben dem Bett steht ein kleiner Tisch mit einem leeren Teller und einem Glas.
»Wer sind Sie?«, fragt die Frau. »Haben Sie vorhin schon mal geklopft?«
Hans Christian tritt an das Bett. Die Augen der Frau sind offen, aber es ist, als würde sie durch ihre Besucher hindurchsehen. Ihre zarten, eleganten Gesichtszüge ähneln denen der Frau, die ihnen die Tür geöffnet hat, sind aber nicht so schön.
Diese Frau ist ein paar Jahre jünger – und blind.
»Wir sind von der Veteranenfürsorge der Marine«, sagt Molly schlagfertig und wedelt mit der Hand vor dem Gesicht der Frau herum, die nichts sagt, aber den Kopf ein wenig zurückzieht, als würde sie den Luftzug der wedelnden Hand spüren.
»Wir wollen zu Herrn Krieger.«
Die Hand der Frau wischt über die Bettdecke und greift nach Mollys Arm.
»Severin ist mein Bruder, mein großer Bruder«, sagt sie. »Er ist ein guter Mann, so freundlich. Er hat Ihnen doch die Tür aufgemacht, als Sie angeklopft haben.«
Molly sieht Hans Christian fragend an.
»Und wie ist Ihr Name?«, fragt Molly.
»Augusta Valentina Krieger«, antwortet die Frau und hebt den Kopf.
Hans Christian zeigt auf das Halstuch in Mollys Tasche. Sie zieht es langsam heraus. Ihre Fingerkuppen streichen über die drei an die Kante gestickten Buchstaben. Hans Christian nickt.
Die Frau beugt sich vor, als würde sie den scharfen Zitronengeruch wahrnehmen.
»Wissen Sie, wo Ihr Bruder sich gerade aufhält?«, fragt Molly weiter.
»Oh, er wird eben das Haus verlassen haben. Die Uhr hat zweimal geschlagen. Worum geht es? Ich bin ziemlich hilflos ohne seine Unterstützung, aber vielleicht kann ich Ihnen ja trotzdem zu Dienste sein? Wollen Sie sich nicht setzen?«
»Danke, Fräulein Krieger«, sagt Molly. »Aber wir wollten tatsächlich nur fragen, wo wir Ihren Bruder finden können, und brechen auch gleich wieder auf.«
»Und was ist der Grund für Ihr Interesse, wenn ich fragen darf?«
Molly zögert und wirft Hans Christian einen Hilfe suchenden Blick zu.
»Ein Legat«, antwortet er an ihrer Stelle. »Eine erkleckliche Summe, mehrere Hundert Reichstaler für Ihren Bruder und seine blinde Schwester. Aber er muss das Schreiben persönlich quittieren.«
Die Frau streckt die Arme aus und fängt Hans Christians Hände ein. Ihre toten Augen sind tränenfeucht.
»Ist das wahr? Wendet sich das Glück doch noch für uns? Seit dem Tod unseres Vaters sind die Zeiten härter geworden.«
»Ihr Bruder geht aber doch sicher einer Arbeit nach?«, sagt Hans Christian. »Ist er nicht am Schloss?«
»Sie meinen vermutlich seine besonderen Aufgaben am Hof. Die haben ihn die letzten Wochen stark in Anspruch genommen, sind aber leider sehr schlecht honoriert. Den Dienst musste er quittieren, um mich zu Hause versorgen zu können. Er ist ein guter Bruder, der beste, den man sich wünschen kann«, sagt die Schwester und tupft mit dem Bettbezug ihre Augen trocken. »Sie wissen doch, dass er eine Ehrenauszeichnung für seine Heldentaten bekommen hat?«
»Wir würden gerne mit ihm sprechen«, sagt Molly ungeduldig.
Die Schwester schweigt einen Moment.
»Er hatte es mit einem Mal so schrecklich eilig, dass er mir nicht einmal mehr sagen konnte, wann er zurück sein wird. Und er schien mir ein wenig unpässlich, hat sich nur flüchtig von mir verabschiedet. Dann ist er gegangen. Zum Hafen.«
»Zum Hafen?«, platzt Hans Christian unangemessen laut für die stille Kammer heraus.
»Um sich von Prinz Frederik zu verabschieden, in dessen Diensten er viele Jahre gestanden hat. Sie sind sozusagen Blutsbrüder, hat Severin mir erzählt. Sie verstehen einander, wie nur Offiziere es können.«
»War Severin gestern Abend zu Hause?«, fragt Molly.
»Sagten Sie nicht, Sie seien von der Veteranenfürsorge? Dann müssten Sie doch wissen, dass gestern ein großes Offiziersfest im Schloss stattgefunden hat. Ein Maskenball, soweit ich weiß. Severin war als Ehrengast geladen. Er ist erst heute früh wieder nach Hause gekommen. Es sei ein wunderbares Fest gewesen, hat er gesagt.«
Molly will etwas erwidern, der Schwester ins Wort fallen. Ihre Illusionen zerschlagen. Aber Hans Christian schüttelt den Kopf. Lassen wir ihr diese Träume, denkt er. Sie lebt in ihrer eigenen Welt. Vielleicht der beste und sicherste Ort, wenn man die wahre Welt nicht sehen kann.
»Wir wollen Sie nicht weiter stören, Fräulein Krieger«, sagt Molly und zieht sich aus der Kammer zurück.
»Danke für Ihren Besuch«, sagt die Frau. »Ich hoffe, Sie finden Severin. Gott weiß, dass wir die Unterstützung des Königs gut gebrauchen können, um über die Runden zu kommen. Im letzten Monat wurde unser Nachbar vor die Tür gesetzt.«
Die Frau bekreuzigt sich.
Sie gehen schweigend die Treppe hinunter. Unzählige Gedanken wirbeln in Hans Christians Kopf herum, Gefühle in Brust und Bauch. Ein Offizier, der seine kranke Schwester pflegt und den Prinzen auf hoher See vor dem Ertrinken gerettet hat. Ein Offizier, der sich in eine Frau verwandeln will. Aber warum? Woher diese Besessenheit? Vielleicht unterscheidet sie sich gar nicht so sehr von seiner eigenen Besessenheit, Stücke und Geschichten zu schreiben, von seiner eigenen Sehnsucht, der Welt zu beweisen, dass er dazugehört. Er kennt dieses Verlangen, hat es in Neapel, Rom und Paris gespürt, nach einem Moment, einer Stunde bloß in Edvards Gesellschaft.
Empfindet der Bruder der blinden Schwester dieselbe Sehnsucht gegenüber dem Prinzen, dem er auf dem Meer das Leben gerettet hat? Hat alles mit harmlosen Umarmungen und brüderlichen Gefühlen begonnen? Ist all dies der Versuch, diesen zügel- und maßlosen Mann zu beeindrucken? Warum ist die Welt so grausam konstruiert, dass man Zuneigung zu jemandem empfindet, mit dem man niemals vereint sein kann? Warum verliebt sich ein Esel in die Vogelscheuche eines Bauern?
Das Weinen eines Kindes reißt ihn aus seinen Gedanken. Es muss das Kind sein, das sie schon bei ihrer Ankunft gehört haben. Jetzt ist es deutlicher zu hören, verzweifelter. Sie lauschen beide und treten dann raus in den Hinterhof.
»Hallo?«, ruft Hans Christian.
Das Geräusch verstummt, aufgelöst in dem rauschenden Wind.
Der winzige Hinterhof ist von einem mannshohen Lattenzaun umgeben. Hans Christian schaut zu dem Brennholzschuppen. Ein gleichmäßiger Bogen auf dem staubigen Boden verrät, dass die Schuppentür vor Kurzem geöffnet wurde.
Vielleicht ist Severin gar nicht geflohen? Hat ihm die Zeit gefehlt? Steckt er im Schuppen?
Hans Christian legt die Hand auf den Türgriff und zieht daran. Er hätte gerne eine Waffe, etwas, womit er sich verteidigen kann, und denkt an den Säbel in Severins Kammer. Soll er ihn holen?
Die Tür gleitet auf, aber es dringt kaum Licht in den dunklen Raum. Hans Christian sieht einen Sattel, einen Steigriemen, eine Werkzeugkiste, Tauwerk, eine alte Decke, die über etwas liegt.
Und dann hört er ein Scharren und Kratzen. Ein Tier?
Unter der Decke kommt eine Reisekiste zum Vorschein, wie er sie bei seiner Europareise zigfach auf den Dächern der Postkutschen gesehen hat. Sie ist mit einem dicken Vorhängeschloss gesichert.
»Hans Christian?« Molly steht hinter ihm. Sie zieht an seinem Arm. »Wir müssen los. Zum Hafen.«
»Was haben die Löcher in der Reisekiste für eine Bewandtnis?«, fragt er.
Wortlos starren beide auf die Kiste.
»Johanne«, flüstert Hans Christian.
Er greift sich einen Vorschlaghammer aus der Werkzeugkiste, zielt auf das Vorhängeschloss und schlägt ein, zwei, drei Mal zu, bis das Schloss wegfliegt und der Riegel aufspringt. Er legt die Hände an die Ecken des Deckels und klappt ihn hoch.
Sieht eine Lade mit lauter kleinen Fächern voller Stoffflicken und Knöpfe, Nadeln und Garnrollen, sonst nichts.
»Da ist nichts. Jetzt komm schon«, drängt Molly. »Wenn Severin mit dem Prinzen davonsegelt, ist es zu spät.«
In diesem Moment hören sie wieder das leise Scharren. Hans Christian ist sich ganz sicher. Er legt einen Finger an die Lippen, beugt den Kopf dicht über die Kiste, hebt die Lade mit den Fächern heraus und wirft sie mitsamt Inhalt auf den Innenhof. Ein beißender Gestank schlägt ihm vom Boden der Kiste entgegen.
Ein Augenpaar starrt ihn angsterfüllt an.
In dem Reisekoffer liegt ein kleiner, an Händen und Füßen gefesselter Junge. In seinem Mund steckt ein Knebel. Vergeblich versucht er, ein Wort zu formen. Es kommt nur ein Wimmern.
»Was zum Teufel!«, entfährt es Molly.
Aus der oberen Etage ruft die Schwester nach unten: »Bist du das, mein lieber Severin? Bist du zurück?«
Nein, denkt Hans Christian. Der liebe Severin ist nicht zurück. Und er wird auch nicht mehr zurückkommen. Die Verzweiflung muss ungemein groß sein, wenn man seine blinde Schwester und einen hilflosen kleinen Jungen eingesperrt in einer Kiste zurücklässt. Nur wer bereit ist, alles zu opfern, ist dazu fähig.
Ein Mensch, der aus sich herausgetreten ist, nicht mehr er selbst ist.
Und dieser Mensch ist jetzt auf dem Weg zum Hafen. Um seinen Prinzen rechtzeitig zu erreichen.