Kapitel 11
Hundert Schritte über das unebene Pflaster bis an den Kvæsthuskai liegen noch vor ihnen, als sie den Sankt-Annæ-Platz überqueren und zwischen Pferdeäpfeln und hinkenden Hunden hindurchrennen.
»Beeil dich«, ruft Molly. Sie läuft schneller als er, das muss sie auf den weiten Ebenen Lollands gelernt haben. In Odense kann man nicht schnell laufen, dort kommt einem ständig etwas in die Quere, eine scharfe Straßenecke, entlaufene Fasane, ein stinkender Stallknecht oder ein Vater, der mit dem Teppichklopfer um sich schlägt. Hans Christian hat sie bald aus den Augen verloren.
Endlich bleibt sie stehen und stützt sich an einer Mauer ab. Die Abendstern schaukelt im Hafenbecken. Matrosen klettern in der Takelage herum und setzen die Segel.
Und damit fällt für Andersen der letzte Vorhang, denkt Hans Christian erschöpft, der Mörder entkommt und wird niemals gefasst, während er selbst verurteilt und hingerichtet wird.
Es sind viele Menschen unterwegs, überall herrscht geschäftiges Treiben. Kutschen und Karren verlassen nach und nach den Hafenbereich. Der Rauch der Transiederei in Christianshavn steht in kleinen Wolken über der Hafeneinfahrt und treibt Fleischgeruch herüber.
»Worauf warten die noch?«, fragt Molly.
»Schau doch«, sagt Hans Christian und deutet auf eine schwarze Kutsche, die über den Kai gepoltert kommt. Die roten Samtbezüge der Sitzpolster fangen die Sonnenstrahlen ein. Als der Kutscher fest an den Zügeln zieht, dauert es noch einige Augenblicke, bis die zwei weißen Pferde zum Stehen kommen. Im Wagen sitzen zwei Passagiere. Hans Christian versucht, näher heranzukommen, aber es sind zu viele Menschen zwischen ihm und der Kutsche. Einem der zwei Passagiere wird von einer ausgestreckten Hand aus der Kutsche geholfen, daraufhin tritt er an die Kaimauer, wechselt ein paar Worte mit einem elegant gekleideten Herrn und steigt in eine kleine bereitstehende Jolle.
»Das ist der Prinz«, sagt Hans Christian. »Sie bringen ihn jetzt aufs Schiff.«
»Cosmus Bræstrup ist auch hier«, sagt Molly und zieht sich etwas zurück.
Und richtig, unter den Männern, die hinter der Kutsche stehen, ist der Polizeidirektor, eingehüllt in eine Rauchschwade, die Pfeife im Mundwinkel.
»Komm«, sagt Hans Christian und bewegt sich in die entgegengesetzte Richtung, fort von der Ordnungsmacht. Am Ende der Kaimauer ducken sich die beiden hinter einem Schutzwall aus Kisten und Säcken. Es hat nicht den Anschein, als seien sie bemerkt worden, alle Aufmerksamkeit ist auf das Boot mit dem Prinzen gerichtet.
»Das war’s«, sagt Molly verzweifelt. »Gleich ist er auf dem Schiff, und dann werden sie den Anker lichten.«
Darauf erwidert Hans Christian nichts. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, als der Prinz sich in der Jolle umdreht und mit seinem großen Dreispitz jemandem auf der Kaimauer zuwinkt. Es ist aus und vorbei. Vielleicht war es das schon, als sie ihn im Tollhaus in die Einzelzelle gesperrt haben. Oder noch davor, als sie am Ende des geheimen Tunnels den Zugang zum Schloss Amalienborg entdeckt haben. Oder noch früher, als er Molly aufgesucht und sie um Hilfe gebeten hat, oder als vor einer halben Ewigkeit der letzte Papierschnipsel in Annas Kammer auf den Boden gefallen war? Krieger ist vermutlich schon an Bord, und nun auch bald der Prinz. Das große Schiff nimmt Kurs aufs Nordmeer – und Hans Christians Weg führt unters Henkersbeil.
Das Geräusch aneinanderschlagender Eimer lenkt seinen Blick zu einem schmalen Bootsanleger, an dem eine jämmerliche Jolle vertäut ist. Ein Fischer steht mit zwei Eimern glänzender Makrelen auf dem Steg, seinem nächtlichen Fang vermutlich.
Hans Christian greift nach Mollys Hand und zieht sie hinter sich her zu dem Steg.
»Was hast du vor?«, fragt sie.
X
Molly sieht ihn ängstlich an, als sie in die Jolle steigt.
»Haben wir eine Chance?«
Hans Christian schnappt sich die Ruder und versucht, sie in die Dollen zu setzen. Über ihren Köpfen kreischt eine Möwe.
»Hilf mir mit den Tauen«, ruft Hans Christian mit einem Seitenblick zum Kai, wo der Besitzer der Jolle gerade in einer Toreinfahrt verschwunden ist. »Schnell.«
Molly kniet sich hin und kämpft mit den feuchten Leinen, mit denen das Boot an dem Anleger vertäut ist.
»So. Jetzt stoß uns ab«, sagt er und rührt nutzlos mit den Ruderblättern im Wasser herum, nur mit dem Resultat, dass Molly nass wird. Sie setzt sich auf den Boden, als das Boot langsam von der Kaimauer aufs Wasser treibt.
Vor ihnen, mit Kurs auf den Achtersteven, nähert die Jolle des Prinzen sich der königlichen Fregatte. Hans Christian drückt die Ruder ins Wasser und zieht daran, ohne dass sich etwas Nennenswertes tut. Auch die Wellen bremsen ihr Vorankommen. Hans Christian begegnet Mollys argwöhnischem Blick.
»So wird das niemals was«, ruft Molly.
Das feuchte Holz der Griffe scheuert an Hans Christians knochigen Fingern. Jeder Ruderschlag erinnert ihn an die furchtbaren Stunden im Irrenhaus, die Schläge von den Wachmännern. Vor, runter, zurück, rauf. Es ist ein wenig wie die Übungen vor dem Ballettspiegel. Eine Wiederholung folgt der anderen, bis man nicht mehr über die Bewegung nachdenkt. Trotzdem kommen sie kaum voran.
Hinter dem Hafenbecken stecken sie zwischen den Wellen fest.
»Komm, ich helf dir«, sagt Molly und krabbelt auf allen vieren neben ihn.
Hans Christian dreht sich um und schaut zur Abendstern hinüber. Die Jolle des Prinzen hat die Fregatte erreicht, Seiner Königlichen Hoheit wird von starken Händen an Bord geholfen. Grußformeln und Stimmen werden übers Wasser getragen. Das große Schiff hat die Segel gesetzt und wartet nur noch auf günstigen Wind.
Die Segel füllen sich allmählich mit Luft. Wie die Backen eines Mannes, der ein gewaltiges Feuer ausblasen will.
»Schneller«, ruft Molly und stößt Hans Christian ihren Ellbogen in die Rippen. Sie sitzen Schulter an Schulter mit je einem Ruder, beide Hände um den nassen Ruderschaft, und kämpfen verbissen um jeden Meter. Eine Zeit lang ist nur das Geräusch der Ruderblätter im Wasser und ihr keuchender Atem zu hören, begleitet von den Möwen und dem Glucksen am Bootsrumpf.
Endlich. Mit jedem Ruderschlag kommen sie der Fregatte näher, und als sie an der Seite anlegen, kommt sie ihnen überrumpelnd riesig vor.
»Und was jetzt?«, sagt Molly und schaut mit schweißnassem Gesicht zur Reling hoch.
»Rauf, rauf!« Hans Christian ist aufgestanden und greift nach einem Tau, das an der Schiffseite herunterhängt. »Wir müssen da hoch. Wir müssen um Hilfe rufen …«
Er wird von einem Donnerschlag unterbrochen, der aus dem Nichts kommend die Luft zerschneidet, als der Wind die riesigen Segel bläht. Der ganze Schiffsrumpf ächzt und kracht, als wollte er vom Wasser abheben und davonfliegen.
Molly will gerade um Hilfe rufen, da dreht sich das Schiff und stößt gegen ihre Jolle. Hans Christian setzt sich hin und hält sich an den Bordwänden fest, während Molly einen Satz in Richtung Schiffswand macht und das Tau zu fassen versucht.
Und da passiert es. Die Jolle wird weggestoßen wie ein lästiger Welpe und kentert in den Wellen.
»Hans Chri…«, schreit Molly, der Rest geht mit Hans Christian im Wasser unter.
Für einen Moment ist alles dunkel, bis er unter Wasser die Augen öffnet. Über ihm treibt das umgestürzte Ruderboot, unter ihm glitzert der Meeresboden wie von Tausenden bunten Glasscherben übersät.
Das Schiff gleitet vorbei, ein gigantisches Meeresungeheuer, das sie mit einem Happs verschlingen und mit sich in die Tiefe ziehen wollte, jetzt aber unverrichteter Dinge weiterzieht.
Hans Christian hält die Luft an, schlägt Purzelbäume, dreht sich und wirbelt um die eigene Achse wie ein vom Gewicht seiner Gliedmaßen und dem Ernst des Daseins befreiter Tänzer. Er ruft sich ins Gedächtnis, dass er schwimmen kann, er ist als Kind immer im Fluss geschwommen, aber das hier ist etwas völlig anderes. Das Meer zwischen Dänemark und Schweden ist viel wilder, so feindlich wie die Gesinnung der beiden Königreiche. Hans Christians Lungen beginnen zu zittern und zu brennen, während er versucht, sich zu orientieren, wo oben und wo unten ist, wo Himmel und wo Meeresgrund.
Da sieht er mit einem Mal, wie auch Molly durchs Wasser trudelt wie ein Papierboot im Rinnstein. Sie fuchtelt verzweifelt mit den Armen, strampelt vergeblich mit den Beinen in alle Richtungen, das rote Haar aufgefächert wie die Tentakel einer Feuerqualle.
Hans Christian streckt die Hand aus und bekommt sie am Oberarm zu fassen, dann um die Taille. Aber wie soll er es mit ihr an die Oberfläche schaffen? Schon allein fühlt er sich so schwer wie eine Kirchenglocke, mit Molly zusammen wie ein ganzer Kirchturm. Sie sinken weiter. Hans Christian kann nichts tun, er spürt den Auftrieb nicht, der Mensch und Tier befähigen soll, auf dem großen Meer zu treiben. Es funktioniert nicht, vielleicht liegt es an ihren Kleidern oder an dem panischen Überlebenskampf, auf jeden Fall sinken sie immer tiefer. Da schießt plötzlich direkt neben ihnen etwas durchs Wasser. Zuerst denkt er an eine Seeschlange, ein Monster, das sie verschlingen will.
Dann erkennt er das Tau mit den Knoten, ein schweres, rötliches Stück Takelage.
Hans Christian greift instinktiv nach dem Knoten, und ein gewaltiger Ruck geht durch seinen Körper, als er und Molly durch das Wasser hochgerissen werden. Nicht loslassen, denkt er und würde Molly gerne zuschreien, dass sie sich festhalten soll. Um Himmels willen. Halt dich nur gut fest.
Endlich durchbrechen sie die Wasseroberfläche. Hans Christian schnappt nach Luft und füllt seine Lungen. Sie hängen hinter dem Schiffsrumpf, aber wie sollen sie an Bord kommen?
»Hilfe«, ruft er. Seine Kraft reicht nicht mehr lange, sich an dem Tau festzuhalten.
»Wer seid ihr?«, ertönt eine raue Stimme oben von Deck. »Dieses Schiff gehört zur Königlich Dänischen Flotte, Unbefugten ist der Zutritt untersagt.«
»Wir ertrinken, du Idiot!«, schreit Molly.
Ein neues, dickeres Tau wird heruntergelassen.
»Haltet euch fest!«, ruft jemand von oben.
Ein junger Matrose klettert an dem Seil zu ihnen herunter.
»Haltet euch an mir fest!«, ruft er.
Molly zuerst. Hans Christian stemmt sie hoch, so gut er kann.
Der Matrose hilft nach.
Molly klammert sich an den Matrosen und das dicke Tau. Hans Christian sieht, wie sie sich mit purer Willenskraft Stück für Stück hochzieht und schließlich über die Reling hievt. Hans Christian, der sich krampfhaft an das Tau klammert, wird gegen den Schiffsrumpf geschlagen.
»Halt dich fest«, ruft der Matrose und packt ihn mit starker Hand.
Nach der erschöpfenden Jagd der letzten Tage hat Hans Christian plötzlich nur noch das Bedürfnis, aufzugeben, sich zurückzulehnen und ins Wasser gleiten zu lassen, hinunter in das unbekannte Universum auf der Unterseite der Wellen, hinab zu dem wogenden Seetang und schimmernden Medusen, hinab zu Agnete, ihrem Wassermann und den tausend Erzählungen aus der kalten Tiefe.
Ein Ruck geht durch seinen Körper, als der Matrose ihn zornig auffordert, sich anzustrengen.
»Jetzt nicht aufgeben, verdammt noch mal!«
Und endlich findet er Halt, gestützt von dem jungen Matrosen, der einen Arm um seinen Leib gelegt hat.
Die wenigen Ellen, die noch fehlen, sind die längsten in Hans Christians Leben. Da, endlich, legt sich von oben eine Hand um sein Handgelenk und zieht ihn über die Reling.
»Wer seid ihr?«, ruft ein bärtiger Kommandant. »Was zum Teufel habt ihr hier draußen zu suchen? Das ist das Schiff des Königs!«
Hans Christian kann nichts sagen.
»Der Prinz«, sagt Molly und spuckt Salzwasser. »Wir müssen … mit dem Prinzen sprechen.«