Kapitel 12
Draußen sind Stimmen zu hören. Stiefelgetrampel.
Es ist so weit. Gleich wird der Prinz sie so sehen, wie sie wirklich ist.
Madame Krieger späht durch den Spalt des roten Vorhangs und spürt die sanften Bewegungen des Meeres. In den letzten Minuten hat sie auf dem Rand des Latrineneimers gesessen und gegen die Übelkeit und die Schmerzen angekämpft, die in ihrer Brust pochen. Jetzt erhebt sie sich.
Die Tür geht auf, und die hereinströmende Luft spielt mit dem Vorhang.
»Dafür werde ich natürlich sorgen, Eure Königliche Hoheit«, sagt eine Stimme. »Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?«
Jemand betritt den Raum. »Nein, aber denken Sie daran, das heiße Bad einzulassen, wenn wir Helsingør passieren. Das wäre dann alles.«
Die Stimme jagt Hitzewellen durch Madame Kriegers Körper. Es ist der Prinz. Er ist ganz dicht vor ihr. So dicht, dass die Schmerzen mit dem Pochen ihres Herzens verschmelzen.
»Ach, übrigens«, fährt der Prinz fort.
»Ja, Eure Königliche Hoheit?«
»Halten Sie mir den Kapitän vom Leib. Der redet ja noch mehr als meine Frau. Ich will meine Ruhe«, sagt der Prinz.
»Ich werde dafür sorgen, dass Ihr nicht gestört werdet, Eure Königliche Hoheit.«
Die Stimmen haben die Vögel im Käfig aufgeschreckt. Sie hüpfen von Stange zu Stange, dann wird die Tür geschlossen.
Madame Krieger hält die Luft an. Ihre Brust brennt wie Feuer, in ihren Rippen sticht es. Ihrem Körper fehlt das Blut, das sie verloren hat. Ihr Leiden ist grausam, aber zugleich auch schön, nimmt sie doch all das nur für den Prinzen in Kauf, für die Liebe.
Er macht einen Schritt nach vorn, und jetzt kann sie ihn durch den Vorhangspalt sehen.
Er nimmt den Hut ab, legt ihn auf den Tisch und schaut aus dem Fenster. Er sieht so elegant aus, wie er in Gedanken versunken dasteht, vielleicht genauso sehnsuchtsvoll wie sie? Dann lässt er sich auf die Chaiselongue fallen, stellt die mit rotem Samt bezogene Fußbank vor sich und zieht sich die Stiefel von den Füßen. Er schiebt die Kissen zurecht. Seine Finger spielen mit den goldenen Fransen am Polster der Chaiselongue.
Gleich wird er sie sehen, gleich wird sie sich ihm zeigen.
Mit einem Mal überkommen sie Zweifel, Nervosität. Was wird er sehen, wenn sie vor ihn tritt?
Ihre Liebe? Oder ihre Wunden? Ihr altes oder ihr neues Ich?
Bevor Madame Krieger in aller Eile aus ihrem Heim geflohen war, hatte sie noch einen Blick in den Spiegel in Augustas Kammer geworfen. Der Anblick hatte sie mit Glück erfüllt. Mit Vorfreude und Spannung. Sie hatte sich gepudert und Mund und Augen geschminkt. Ihre Haut ist fein und blass, weißer noch als die von Johanne oder der Prinzessin. Sie hat Mutters alte Goldkette mit dem Medaillon angelegt, das eine glänzende Sonne zeigt. Das Kleid sitzt glatt und straff und rahmt ihre Brüste ein, wie sie es sich immer erträumt hat. Es ist Augustas Kleid, sie hat es angepasst, und nun sieht sie darin schöner und verführerischer aus, als Augusta es jemals in diesem Kleid gewesen ist.
Jetzt. Es soll ein Augenblick voller Reinheit sein, schön, wie das erste Mal.
Zwei Seelen, die sich begegnen und verbinden. Ohne Worte, ohne Grenzen.
Madame Krieger zieht den Vorhang zur Seite und tritt vor.
Der Prinz schlägt die Augen auf und hebt den Kopf. Er versucht zu begreifen, was er da sieht. Sie hatte gehofft, eine vorteilhafte Pose einnehmen zu können, bevor er die Augen öffnet, in der Mitte des Raumes, das Fenster im Rücken. Damit sie das Meer, das sie zusammengeführt hat, hinter sich hat, Vergangenheit und Gegenwart, die sich in der Umarmung der Liebe treffen.
»Wer seid Ihr?«, fragt der Prinz. Er klingt mehr überrascht als erbost, trotzdem irritiert sie die Frage. Sie möchte jetzt nichts sagen. Wie soll sie sich auch erklären? Ich bin Dein, ich gehöre zu dir, wir gehören zusammen. All das hatte damals am Strand in ihren Blicken gelegen, eine Verbundenheit, die alle Grenzen überwindet.
Der Prinz erhebt sich rasch, er wirkt bestürzt.
»Oh, seid Ihr …?« Auch ihm fehlen die Worte. Er sieht sie forschend an, scheint sie wiederzuerkennen.
Wärme rieselt durch Madame Kriegers Körper. Der Prinz erkennt mich, denkt sie. Er sieht dasselbe wie ich.
»Was …? Was tut Ihr hier?«
Einer der Vögel flattert im Käfig herum.
Der Prinz sieht sich in der Kabine um, als suchte er nach etwas.
Es sollte anders sein. Er sollte ihr helfen. Hinter ihr stehen, dicht, oder neben ihr vor dem großen Spiegel, damit sie gemeinsam ihre Verwandlung bestaunen können, wenn er seine Arme um sie legt und ihr das Kleid langsam und voller Erregung abstreift. Sie will seine Haut auf der ihren spüren, seinen Atem im Nacken, sein Glied, das sich wachsend gegen sie presst.
Stattdessen rollt und knarzt das Schiff, und der Prinz sieht aus, als gehe es ihm nicht gut.
»Antwortet mir, Mensch, oder ich rufe …«
Sie hat keine Zeit zu verlieren. Es tut weh, die Arme zu heben, die Haut brennt, aber sie muss das Kleid loswerden. Eine schnelle Bewegung wird reichen, hofft sie. Er muss sie sehen. Madame Krieger zieht sich das Kleid über den Kopf.
»Bei Gott, was tut Ihr?«
Sie wirft das Kleid zu Boden und tritt einen Schritt vor. Offenbart sich ihm, und die Welt steht still.
Das Schiff verharrt auf einer Welle, der Schnabel des Vogels öffnet sich, auf der Augenbraue des Prinzen sammelt sich ein Tropfen Schweiß.
Madame Krieger sieht den Apfel am Weißdorn. Sieht sich in einer Umarmung mit dem Geliebten verschmelzen, die ein Jahrhundert oder nur einen Augenblick dauert.
Da erblickt sie ihr wahres Spiegelbild in den aufgerissenen Augen des Prinzen.
Sie sieht ihren entstellten Körper, die angenähten Brüste wie kranke, bleiche Früchte an einem welken Baum. Das getrocknete Blut bedeckt ihren ganzen Bauch. Blutige Rinnsale quellen unter dem Wundrand hervor und laufen über ihr entblößtes Geschlecht und ihre Beine.
Der Prinz öffnet den Mund. Sein Schrei erfüllt die ganze Kabine. Die Vögel flattern wild im Käfig herum, und das Schiff krängt, als wäre es auf Grund gelaufen.
Nicht der Schrei entfacht den Zorn und die Schmerzen in ihr erneut, sondern die Furcht in seinen Augen. Die Furcht des kleinen Mannes. Als wäre der Prinz nicht mehr als ein einfältiger Müllersknecht vor einem mächtigen Herrscher, ein Kind in den Klauen des Drachens. Während sie, einstmals einfacher Sohn eines Seekadetten, sich selbst auf dem Altar der Verwandlung geopfert hat und als ein Wesen wiederauferstanden ist, das viel größer ist, als der Prinz es je zu fassen vermag.
Plötzlich ist er in ihren Augen nicht mehr als ein jämmerliches Tier am Boden eines Eimers.
»Wachen, Wachen«, jammert er und schielt zu dem Ständer, an dem die Waffen lehnen.
Sie will ihn zum Schweigen bringen, ihm die Worte von der Zunge schneiden. Er darf sie nicht zerstören, darf nicht kaputt machen, was sie erschaffen hat. Ohne zu zögern, greift sie nach dem glänzenden Dolch an dem Ständer. Der Schaft fühlt sich in ihrer Hand kalt und hart an. Mitgefühl ist die Schwäche der Klugen.