Tag 7: Freitag, 3. November
»Es gibt verschiedene Spachteltechniken: die Flecktechnik, die Flächentechnik, Stucco Veneziano und noch ’ne Menge anderer. Aber ums Aussehen geht es hier nicht.« Eberhard stand im Konferenzraum vor der Wand, in der linken Hand einen schwarzen Gummitopf mit frisch angerührter Spachtelmasse, in der rechten einen breiten Spachtel, mit dem er die Masse sorgfältig in den mit Acryl gefüllten Riss strich. »Ich könnte auch eine Glasfasermatte drüberlegen, aber ich hoffe, dass es so reicht. Die Glasfasermatten werfen sich manchmal auf, und dann sieht es genauso beschissen aus wie vorher.«
Volker saß mit verschränkten Armen am Konferenztisch und sah Eberhard bei seiner Arbeit zu. »Kein Schwein von uns hat dieser dämliche Riss gestört. Wieso dich?«
Eberhard glättete seine Spachtelmasse auf der Wand fast liebevoll: »So ein Riss, das ist der Anfang vom Ende. Zuerst ist er ganz fein, und du bemerkst ihn kaum. Dann verbreitert er sich, aber du gewöhnst dich dran. Oder guckst weg. Und wenn du nicht aufpasst, verkommt das ganze Haus, und du verkommst mit, und die Mäuse tanzen auf den Tischen, und dein Leben zerbröselt hinter deinem Rücken, während du in die andere Richtung auf die Glotze starrst. Wehret den Anfängen! Das ist keine Frage von Kosmetik, sondern von Charakter!«
Volker lachte laut auf: »Du könntest auch einfach zugeben, dass du gerne mit den Händen arbeitest. Kochen, Kindermöbel bauen, Wände verputzen.«
Eberhard trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. Es war perfekt. »Stimmt. Das ist was Reelles, was Ehrliches! Aber darum geht es nicht. Ich repariere gerne Sachen, mache sie gerne heil, ich will, dass die Welt um mich herum gut und schön ist, verstehst du?« Er wies mit dem Spachtel auf die Leichenfotos von Uta Berger und Georg Dassau, die an der Pinwand hingen. »Sieh dir das an. Da gibt es nichts mehr zu retten. Wir jagen hilflos hinterher, wir jagen das Böse, und es ist uns immer einen Schritt voraus. Und wenn wir einen fassen, brütet der Nächste ein paar Häuser weiter schon irgendeine Perversion aus, und alles geht wieder von vorne los. Manchmal macht mich das einfach fertig. Es hört nie auf. Der Setzriss hier, der tröstet mich. Ich habe das Problem gesehen, bin’s angegangen und hab’s gelöst. So soll es sein!«
»Sagt mal, tickt ihr noch ganz sauber?«, fragte Christian, der im Türrahmen aufgetaucht war, »wir sind hier doch kein Heimwerkerclub! Da gibt’s ganz andere Probleme, die wir angehen müssen!« Kopfschüttelnd trat er ein und nahm sich einen Kaffee aus der Thermoskanne.
Ungerührt ging Eberhard zum Waschbecken, wusch seine Gummischüssel, die Spachtel und seine Hände: »Dir auch einen guten Morgen, Chris! Volker und ich ziehen nachher noch mal los und befragen die restlichen Angestellten von S/M-Läden und ein paar Stammkunden. Aber vor zwölf brauchst du die Leute aus der Branche gar nicht aus dem Bett zu klingeln. Die hetzen dir ihre Pitbulls auf den Hals, so schnell kannst du gar nicht gucken.«
»Pete ist bei Waller und hält mit ihm die Journalisten bei Laune. Dass das denen nicht langweilig wird, wir haben doch kaum was Neues!«, fügte Volker hinzu.
Eine halbe Stunde später kam Pete zurück, und auch Daniel schlurfte zur Zehn-Uhr-Sitzung in den Konferenzraum. Karen, die jeweils nach Möglichkeit und Bedarf an der Sitzung teilnahm, fehlte, da sie und Nicole noch mit weiteren Obduktionen an exhumierten Leichen beschäftigt waren. Der Bericht über die asiatische Prostituierte jedoch lag schon vor und war von allen gelesen worden. Eine weitere Leiche, die Karen letzte Nacht noch obduziert hatte, war ohne Folterbefund geblieben.
Es herrschte eine verhalten angespannte Stimmung in der Sitzung. Weder Eberhard und Volker noch einer von den eingesetzten Kollegen der Sitte hatte in einem der einschlägigen Hamburger S/M-Läden eine Spur von Uta Berger gefunden. So konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass Utas Sexspielzeug von ihrem Freund gekauft worden war. Dafür aber hatte sich in aller Herrgottsfrühe am heutigen Morgen auf dem Polizeikommissariat in der Sedanstraße tatsächlich ein Zeuge gemeldet, der am Abend des sechsundzwanzigsten Oktobers, dem Donnerstag, an dem Uta Berger verschwunden war, die junge Frau im Grindelhof gesehen hatte. Volker hatte ihn befragt, bevor er ins Büro gekommen war. Der Zeuge hatte Uta Berger auf dem Foto in der Zeitung erkannt und sagte aus, Uta Berger sei offensichtlich unterwegs Richtung Abaton-Bistro gewesen. Er habe davor auf seine Freundin gewartet, die im Kino direkt neben dem Bistro noch zur Toilette gegangen war. Uta Berger war dem Zeugen aufgefallen, weil sie hübsch war und nur einen kurzen Trenchcoat trug mit nackten Beinen in Pumps darunter, was er bei der Temperatur überraschend fand. Außerdem mochte er ihren erotisch herausfordernden Gang. Also hatte er sie beobachtet und gehofft, dass sie sich nähern würde. Doch bevor sie auf seiner Höhe war, hielt ein Taxi neben ihr, die rechte hintere Tür wurde geöffnet, sie beugte sich zu dem Insassen und sprach lachend mit ihm oder ihr. Dann stieg sie ein, und das Taxi fuhr weg Richtung Hallerstraße. Leider hatte der Zeuge nicht erkennen können, wer in dem Taxi saß, er hatte nicht mal sehen können, ob es ein Mann oder eine Frau war. Die polizeiliche Recherche bei den Hamburger Taxiunternehmen hatte bislang nichts ergeben.
»Das beweist immerhin, dass Uta ihren Mörder vermutlich kannte, aber nicht mit ihm verabredet war«, schloss Pete.
Christian stimmte zu: »Und dass er ihr zufällig begegnete, auch wenn er sie kannte. Er hatte kaum wissen können, dass sie zu der Uhrzeit noch mal losgehen würde, um im Abaton-Bistro Kippen zu kaufen. Ich sage ›er‹, weil wir wohl alle davon ausgehen, dass wir einen Mann suchen.«
»Die Statistik und die Tatumstände sprechen dafür. Vermutlich haben die beiden sich sogar recht gut gekannt, sonst wäre sie wohl kaum abends um elf Uhr zu ihm ins Auto gestiegen. Also, ich finde, es spricht alles dafür, dass es unser Phantom war«, bemerkte Eberhard.
»Was mir nicht daran gefällt, ist die zufällige Begegnung«, wandte Pete ein. »Jemand, der mit einer solchen Kaltblütigkeit mordet, geht meist planmäßig vor. Wenn es ihr Lover war, hätte er viel mehr und viel bessere, kontrolliertere Gelegenheiten gehabt, sie verschwinden zu lassen.«
»Das stört mich auch«, nickte Christian, »denn wir dürfen eins nicht vergessen: Alles, was Karen über die Art und Weise der Folterungen herausgefunden hat, deutet auf einen gut ausgestatteten Raum hin, in dem der Killer seiner kranken Leidenschaft nachgeht. Er hat irgendwo eine Folterkammer, in die er Uta, davor die Prostituierte und danach Georg Dassau geschleppt hat, um sie mit Elektroschocks und sonstigen Abscheulichkeiten zu behandeln. Wer das aus einem plötzlichen Impuls heraus tut, ohne vorherige sorgfältige Planung, fühlt sich verdammt sicher.«
»Oder ist verdammt arrogant«, meldete sich nun Volker zu Wort.
»Oder ein Profi«, flocht Daniel ein, der wie immer vergleichsweise still in sein Laptop starrte, das er sogar mit in den Konferenzraum brachte, ganz so, als sei es ein externes künstliches Organ, ohne das er nicht lebensfähig wäre. »Ein Profi wie David Rosenbaum.«
Christian informierte Pete, Eberhard und Volker über den Besuch Fred Thelens und den abgetauchten Mossad-Agenten.
»Glaubst du, dass da ein Zusammenhang besteht?«, wollte Eberhard wissen.
»Im Januar verschwindet in Hamburg ein sogenannter Interrogationsexperte aus einem nahöstlichen Geheimdienst. Auf gut deutsch würde man sagen, ein professioneller Folterer. Seitdem haben wir hier drei Leichen, mindestens drei, ich bin gespannt, was Karen noch findet. Zwei Frauen, ein Mann. Alle drei gefoltert, zum Teil mit Methoden, die nachweislich im Nahen Osten Tradition haben. Nicht nur da, aber auch da. Was würdest du denken, Herd?«
Eberhard zuckte mit den Schultern. »Mir kommt das alles sehr … ich weiß nicht … Wo könnte der Zusammenhang zwischen Uta Berger und einem Mossad-Agenten liegen? Wie passt der Obdachlose Georg Dassau ins Bild? Und die asiatische Prostituierte?«
Pete wandte sich an Daniel: »Was weißt du sonst noch über diesen Rosenbaum? Abgesehen von seinem zweifelhaften Beruf?«
»An Daten über solche Leute ist schwer ranzukommen. Es war knifflig genug, überhaupt auf ihn zu stoßen, ist alles mehrfach verschlüsselt und gesichert. Hat mich ja auch fast enttarnt, die Aktion. Rosenbaum ist ein deutschstämmiger Jude, geboren in Deutschland und aufgewachsen in Israel irgendwann in den Sechzigern. Genaueres gibt’s nicht über ihn, ich habe bislang nicht mal ein Foto. Schätze, den Namen hat er im Laufe seiner Karriere mehrfach gewechselt. Vermutlich ist das, was ich über ihn finden kann, sowieso eine Legende, die ihm der Mossad gebaut hat.«
»Vielleicht ist dieser Rosenbaum unser Phantom«, mutmaßte Eberhard. »Hast du noch mal mit deinem Kumpel vom BND gesprochen? Der weiß doch sicher mehr.«
Christian schüttelte den Kopf: »Der ist schon wieder zurück nach Pullach. Wir haben telefoniert. Der weiß nicht mehr, oder er sagt es mir nicht. Jedenfalls ist Thelen eine Sackgasse. Wir müssen die Verbindung, falls es denn eine gibt, selbst finden. Also: Wir suchen das Phantom, und wir suchen Rosenbaum. Wir suchen Verdächtige, Zusammenhänge, Zeugen, Erkenntnisse. Wir suchen überall. Und wir suchen weiter, bis wir das Schwein aus seinem Koben treiben!« Christian schlug wütend mit der Faust auf den Tisch, aber keiner zuckte zusammen. Sie kannten seine plötzlichen Ausbrüche.
Nur Pete wirkte fast noch frustrierter als Christian. »Wir suchen und suchen. Und stoßen auf nichts! Für mich entsteht da immer noch kein Bild! Die Puzzleteile wollen einfach nicht zusammenpassen! Null! Wir spekulieren ins Blaue, weil wir absolut nichts in der Hand haben.«
»Das liegt an uns, nicht an den Puzzleteilen. Wir sehen nicht richtig hin. Also machen wir weiter, wechseln die Perspektive und die Beleuchtung. Geduld ist die Tugend des Jägers«, meinte Christian bemüht ruhig. Er wusste, dass sie sich täglich selbst motivieren mussten, um gute Arbeit zu leisten. »Schaut euch die Fotos an, die Fotos von Uta Berger und den anderen. Wir werden die Bestie finden!«
»Dazu brauchen wir Fakten und Ergebnisse, und zwar schnell. Verlangt zumindest unser geschätzter Oberstaatsanwalt Waller, der mir heute Morgen schon den Tag versaut hat«, sagte Pete.
»Der Scheißkerl soll uns in Ruhe unsere bekackte Arbeit tun lassen«, knurrte Christian übellaunig. Wenn es nicht so lief, wie er sich das vorstellte, neigte Christian neben dem cholerischen Schlagen und Treten von Möbeln auch zu unflätiger Ausdrucksweise. Das änderte zwar nichts daran, dass da draußen ein gemeingefährlicher Irrer herumlief, von dem er bislang nicht mal Witterung aufgenommen hatte, aber er fühlte sich zumindest für ein paar Sekunden besser.
Die Konversation, der Anna am Nachmittag in der behaglichen Bibliothek von Professor Gellert in der Elbchaussee beiwohnte, unweit vom Hause ihrer Eltern, war weitaus gepflegter. Sie ließ es sich bei einem locker aufgeschäumten Cappuccino gut gehen. Neben ihr auf dem Sofa saß Professor Weinheim, der sie am Vortag überredet hatte, endlich einmal zu seinen monatlichen Nachmittagstreffen mit Hamburger Wissenschaftlern mitzukommen. Bislang hatte Anna stets unter fadenscheinigen Vorwänden abgesagt, doch Weinheim hatte sehr wohl verstanden, welche Abneigung hinter Annas Absagen steckte. Sie fürchtete schlichtweg, sich unter all den älteren Herren zu langweilen, die ihrer Vermutung nach nur Eitelkeiten austauschten, indem sie die eigenen wissenschaftlichen Leistungen, und seien sie noch so lange her, in den Vordergrund der Gespräche zu rücken versuchten. Als Anna gestern jedoch hörte, dass das heutige Treffen bei Gellert stattfand, sagte sie zu. Sie fand Gellert äußerst charmant und anregend, und außerdem glaubte sie, ihrer neuen Dozententätigkeit ein wenig Opportunismus und damit zumindest eine versuchte Annäherung an ein solch illustres Netzwerk zu schulden. Weinheim war unter den Anwesenden der einzige schon emeritierte Professor, ansonsten saßen Dozenten aus den unterschiedlichsten Fachbereichen in kleinen Gruppen zusammen und tauschten sich aus. Sogar der Universitätspräsident war da und hatte Anna freundlich begrüßt. Er kannte ihren Vater gut von dessen früherer Lehrtätigkeit in der Physik und freute sich, endlich einmal die Tochter kennenzulernen, die ja nun auch zu seinem Stab gehörte. Gellert machte sich einen gekonnten Spaß daraus, den Uni-Präsidenten mit seinen vornehmlich verwaltungstechnischen Fähigkeiten aufzuziehen, doch da der sehr amüsiert darauf reagierte, schien es Anna ein altbekanntes Spiel zwischen den beiden zu sein, dem die anderen keinerlei Bedeutung beimaßen. Jedenfalls fühlte sich Anna überraschend wohl in dem renommierten akademischen Zirkel und bedankte sich bei Weinheim leise dafür, sie zu dieser angenehmen Ablenkung eingeladen zu haben. Sie stellte ihre Tasse auf einem Kirschholztisch ab und schlenderte durch die imposante Bibliothek, deren fast fünf Meter hohe Wände rundum mit prall gefüllten Bücherregalen bedeckt waren. Zwei Historiker diskutierten vor dem Philosophie- und Anthropologie-Regal über die Krise der Geschichtswissenschaften im Fin de Siècle, doch Anna hörte nur mit halbem Ohr hin. Sie las einen gerahmten Text, der im Regal stand. Gellert trat neben sie: »Julien Offray de La Mettrie über die menschliche Fähigkeit zur Imagination.«
Anna las halblaut vor: »Durch ihren schmeichelhaften Pinsel erhält das kalte Skelett der Vernunft lebendiges und rosiges Fleisch; durch sie blühen die Wissenschaften, vervollkommnen sich die Künste, sprechen die Wälder, seufzen die Echos, weinen die Felder, atmet der Marmor – alles nimmt Leben an unter den leblosen Körpern.«
»Wenn Sie es mit Ihrer schönen Stimme vorlesen, klingt es noch besser«, meinte Gellert lächelnd.
»Es ist ein wunderbares Zitat, eine wunderschöne Überzeugung.«
»Die Sie nicht teilen?«
»Gerade als Psychologin ist mir die Macht der Imagination mehr als bewusst. Aber aus eigener Erfahrung weiß ich, dass sie nicht nur das Wahre, Schöne, Gute hervorbringt, sondern auch Schrecken, Angst und Panik.«
Gellert sah sie forschend an: »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Aber ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung. Falls Sie mal reden wollen.«
»Ich weiß das Angebot zu schätzen. Und auch Ihren Feinsinn, Menschen nicht zu bedrängen.«
Mit einem verständigen Lächeln zog sich Gellert aus dem Gespräch zurück und wandte sich seinen Historiker-Kollegen zu, denen er scherzhaft polternd völlige Ahnungslosigkeit über das von ihnen diskutierte Thema bescheinigte. Anna zog sich aus der Bibliothek zurück in das Entrée der geschmackvollen Patriziervilla. Auf der Suche nach einem Badezimmer öffnete sie einige Türen, bis sie sich in der Küche befand. Eine kleine, herzlich wirkende, etwas rundliche Dame Ende sechzig werkelte darin herum. Als Anna die Tür öffnete, ging ein Strahlen über ihr Gesicht: »Endlich mal wieder ein weibliches Wesen im Hause! Kommen Sie herein, Kindchen!«
Anna trat näher und stellte sich vor. Die kleine Frau schüttelte ihr die Hand. »Ich bin Luise Juncker, setzen Sie sich, wollen Sie auch eine heiße Schokolade? Ich koche gerade Milch auf.«
Anna erklärte, vor allen Dingen zur Toilette zu wollen. Danach würde sie gerne einen Kakao trinken. Frau Juncker wies ihr den Weg in ein prachtvolles, in sattem Algengrün gekacheltes Marmorbadezimmer. Als Anna zurückkam, dampfte schon der Kakao in den Tassen. Sie setzte sich an den Küchentisch auf eine Holzbank gegenüber von Frau Juncker, die sofort unbekümmert zu plaudern begann.
»Ich bin ja so froh, wenn der Herr Professor Gäste hat, sonst ist hier ja nicht mehr viel los. Aber meistens kommen nur die verknöcherten Wissenschaftler, von denen verirrt sich nie jemand in meine Küche.« Frau Juncker seufzte in ihren Kakao. »Vor nicht allzu langer Zeit war das anders, da kamen nachmittags die Freundinnen von Franziska zum Kaffeeklatsch, und manchmal habe ich mich sogar dazugesetzt und mit ihnen geplaudert.«
»Ist Franziska die Frau von Herrn Professor Gellert?«
Luise Juncker nickte: »Ich bin mit ihr in den Haushalt gekommen. Als Franzi geheiratet hat. Seit ihrem achten Lebensjahr kenne ich sie schon, ich war vorher Zugehfrau im Hause ihrer Eltern.«
Anna nahm einen Schluck Kakao, er schmeckte herrlich. »Ich will bestimmt nicht indiskret sein, aber ich habe gehört, dass sie ihn verlassen hat.«
»Das ist jetzt ein Dreivierteljahr her. Es war ganz schrecklich für den Herrn Professor, er hat sie so geliebt. Eingesperrt hat er sich und gelitten wie ein Hund.«
»Und Sie sind bei ihm geblieben? Wollten Sie nicht mit Franziska weggehen? Da gibt es doch sicher eine große Verbundenheit zwischen Ihnen.«
Frau Juncker seufzte wieder: »Das hätte ich mir bestimmt überlegt, aber dazu kam es ja nicht. In der Nacht ist sie verschwunden, ganz heimlich, hat keinem einen Ton gesagt, nicht mal mir. Hat ihre Koffer gepackt, und weg war sie. Nach Südamerika, mit ihrem neuen Liebsten.«
Noch immer von der Last der Enttäuschung niedergedrückt, erhob sich Luise und ging zum Küchenschrank. Sie holte zwei Postkarten und ein Foto aus einer Schublade hervor und zeigte alles Anna. »Sie hat mich aber nicht vergessen. Hier, sehen Sie.«
Anna besah sich zuerst das Foto. Franziska Gellert war um einiges jünger als der Professor, eine wunderschöne, blonde Frau, die Anna irgendwie bekannt vorkam. Vielleicht war sie Frau Gellert mal im Tante-Emma-Laden an der Elbchaussee begegnet, wo sie früher oft mit ihrer Mutter zum Einkaufen war. Bewegt las Anna die beiden Postkarten, die aus Argentinien stammten. Franziska Gellert entschuldigte sich herzerweichend liebevoll bei Luise Juncker für ihre heimliche Flucht, aber eine vorherige Ankündigung hätte ihren Entschluss garantiert ins Wanken gebracht. Dennoch sei sie jetzt sehr, sehr glücklich. Luise solle sich um den Professor kümmern in diesen Stunden des Schmerzes und nicht allzu schlecht von ihr denken.
»Da bin ich natürlich bei ihm geblieben. Ohne mich hätte der Herr Professor das Elend nicht gemeistert, wenn ich das mal in aller Bescheidenheit sagen darf. Und er ist mir im Laufe der Jahre ja auch ans Herz gewachsen. Ein guter, angenehmer Mensch, nicht wahr?«
Anna bestätigte das gerne, bedankte sich für den Kakao und erhob sich. Sie sollte wieder zurück zur Gesellschaft, bevor man ihr Ausbleiben als unhöflich empfand. Luise bat sie, bald wieder zu kommen. Sie war sehr froh, dass Gellert sich langsam wieder zurück ins Leben bewegte, und der Anblick einer hübschen jungen Frau konnte nach Luises Meinung dabei nur helfen. Hauptsache, das Lächeln kehrte in Gellerts Miene zurück.
Anna durchquerte das Entrée Richtung Bibliothek. Irgendjemand hatte dort Musik aufgelegt, sie drang leise durch die kassettierte Eichenholztür. Noch konnte Anna nicht erkennen, was es war, aber sie verspürte plötzlich einen leichten Schwindel. Irritiert hielt sie inne. Sie stand inmitten der Eingangshalle und blickte auf die schwarz-weißen Rautenfliesen zu ihren Füßen, die unversehens einen dreidimensionalen Raum zu öffnen schienen gleich einer von M. C. Escher inszenierten optischen Täuschung. Ihr brach der Schweiß aus, sie zitterte, sie spürte wie Angst ihren Körper und ihre Seele umflutete, die Angst übernahm die Kontrolle, lähmte sie von den Füßen an aufwärts, kroch an ihr hoch, kalt und stetig, Zentimeter für Zentimeter, als würde ein eisiges Gift sich ausbreiten, bis sie komplett gelähmt war, jeder Muskel, jede Faser, jede Zelle, die Angst über ihrem Kopf zusammenschlug und sie hermetisch abriegelte, sodass nichts mehr nach draußen dringen konnte, nicht rufen und nicht regen, einbetoniert, gefangen. Sie spürte die Angst und bekam Angst vor der Angst und wusste doch, dass sie dagegen ankämpfen musste, ruhig atmen, den Kopf heben, nur ein winziges Stück, sich aus der Erstarrung befreien, einen Millimeter vielleicht, der Rest würde dann schon kommen, doch sie sah nach unten, weil ihr Kopf ihr nicht gehorchte, er nicht und ihre Arme und Beine auch nicht, noch sonst etwas, sie drohte in diesen Raum unter ihr zu stürzen, in einen Abgrund aus schwarzen Rauten, die immer näher kamen und größer wurden, sie hörte jemanden schwer atmen und viel, viel zu schnell, in ihren Ohren brauste das Blut. Lauter und lauter und lauter und …
Weinheim kam aus dem Badezimmer ins Entrée und erkannte auf einen Blick, was mit Anna los war. Für sein Alter erstaunlich behende sprang er zu ihr, konnte sie aber nicht mehr halten, als sie wie in Zeitlupe auf den Boden sank. Er rief Richtung Bibliothek um Hilfe, die Tür wurde geöffnet, Gellert und einige andere kamen heraus, sahen Weinheim neben der ohnmächtigen Anna auf dem Boden knien, fragten mit hektischer Bestürzung, was passiert sei, und Anna lag da, ganz blass im Gesicht, der Rock ein wenig hochgerutscht, und sie sah so unglaublich schön aus, was auch den um sie herumstehenden Männern auffiel, die sie fast ehrfürchtig anstarrten. Gellert schrie nach Luise, die herbeigestürzt kam, die Männer zur Seite drängte und wieder in die Küche lief, um einen feuchten Lappen und etwas Riechsalz zu holen, und Weinheim befahl, dass endlich jemand diese vermaledeite Musik ausmachen sollte, diesen verdammten zweiten Satz von Beethovens verdammter siebter Sinfonie.
Lars war in seiner kleinen Wohnung im Lehmweg und betrachtete die Ausstattung, die er auf dem Bett vor sich ausgebreitet hatte. Eine schwarze Lederhose, ein knallenges schwarzes Satinshirt, ein nietenbesetzter Gürtel, schwarze Springerstiefel und protziger Silberschmuck. Er würde sich lächerlich vorkommen, das war ihm klar, aber es gab keinen Weg zurück. Er konnte den Bullen unmöglich sagen, was er wusste, sie würden den Laden stürmen und alle in die Mangel nehmen. Nein, die Bullen würden nichts ausrichten können. Es gab keinen anderen Weg, er musste sich als Schaf im Wolfspelz unter das Rudel mischen und mit den Raubtieren heulen. Ganz wohl war ihm dabei nicht, er hatte keine Ahnung, wie er sich im Ernstfall verhalten sollte. Was tun, wenn man ihn unmissverständlich aufforderte, mitzumachen. Passive Zuschauer hatten in der Szene zwar auch ihre Berechtigung, aber ihm ging es schließlich darum, Kontakte zu knüpfen und Vertrauen zu schaffen. Doch wenn er mitmachte, was würde er dabei empfinden? Lars fürchtete sich. Einerseits wollte er Uta verstehen, wollte wissen, was sie empfunden hatte. Andererseits verspürte er eine subtile Scheu, sein Leben in Unordnung zu bringen. Lars hatte seit zwei Jahren eine feste Freundin, mit der er ein regelmäßiges, gepflegtes Sexualleben zwischen sauberen Bettlaken führte. Was, wenn er auf seinem Ausflug in die Niederungen menschlicher Triebe Lust verspürte? Was, wenn etwas ähnlich Selbstzerstörerisches in ihm steckte wie in Uta? Oder wenn es ihn im Gegenteil so abstoßen würde, dass er seine kleine Schwester posthum verachtete? Lars wusste, dass mit Utas Tod etwas Unbekanntes in das Leben seiner Familie eingedrungen war. In ihm und vermutlich auch in seiner Mutter breitete sich etwas Schleichendes aus, das wie Säure die Geländer der Konvention zersetzte, an denen er sich gemeinhin entlanghangelte in einer langen Schlange von Konformisten. Lars spürte, wie die Selbstsicherheit, die er sich in seinem gesellschaftlichen Rahmen erarbeitet hatte, korrodierte. Er wusste, dass er die Reihe verließ und sich auf ein Nebengleis begab. Aber war dieses Unbekannte, das sich in sein Leben fraß, das Böse? Oder war es nur das Fremde?
Als Anna am Abend im R&B, Christians Stammkneipe in der Weidenallee, ankam, waren die anderen schon alle versammelt. Nur Christian fehlte noch. Yvonne hatte eine Wette abgeschlossen. Sie war sich ganz sicher, dass Christian seinen Geburtstag vergessen hatte. Anna war noch ein wenig wacklig auf den Beinen und auch recht blass, aber ansonsten fühlte sie sich wieder gut. Nach ihrer Panikattacke hatte Weinheim sie nach Hause gebracht und dort sofort eine Sitzung mit ihr durchgeführt, die ihr ihre innere Stabilität zurückgab. Weinheim hatte ihr zwar geraten, sich auszuruhen, doch sie wollte auf keinen Fall die von Yvonne organisierte Überraschungsparty für Christian verpassen. Außerdem spielte sie den Lockvogel, der Christian auf die Zielgerade setzen sollte. Laut Yvonne war sie der einzige Mensch, der Christian ohne Angabe von Gründen innerhalb kürzester Zeit an jeden auch nur irgendwie erreichbaren Ort bestellen konnte. Anna war sich da gar nicht so sicher, aber sie fand es rührend, wie Yvonne versuchte, ihr eine besondere Bedeutung in Christians Leben zuzuschustern. Also hatte sie ihn angerufen, um ein Treffen gebeten, und er hatte zugesagt. Ein bisschen schäbig fühlte sich Anna schon, ihn so zu hintergehen, denn schließlich erwartete Christian nun einen möglichst angenehmen Abend zu zweit, statt von der Bande seiner Kollegen überfallen und in einen geselligen Mittelpunkt gerückt zu werden – eine Rolle, die er nur ungern übernahm.
Anna begrüßte Karen und Pete, die nicht zufällig nebeneinander saßen. Eberhard stellte Anna seiner Lebensgefährtin Biggi vor, einer attraktiven Blondine, die einen herzlichen und bodenständigen Charme versprühte. Neben Daniel saß an ihn gelehnt eine extrem schlanke, fast magere, leicht angepunkte junge Frau, die er als seine Freundin Puck in den Kreis einführte.
»Ich vermute, der Spitzname leitet sich weniger von Shakespeares Elfenkobold ab als von dem Hartgummigeschoss beim Eishockey«, flüsterte Volker Anna zu. »Wenn du mit der ins Bett gehst, kriegst du blaue Flecken von den vorstehenden Hüftknochen.«
»Du bist doch nur neidisch«, gab Anna scherzhaft zurück und knuffte Volker in die Seite. Volker war schon seit über einem Jahr wieder Single. Obwohl er Frauen liebte und verehrte, gelang es ihm nie, eine dauerhaft an sich zu binden. Anna erinnerte sich an ein amüsantes Gespräch, in dem er die Vermutung geäußert hatte, er könne den Frauen unheimlich sein, und Yvonne hatte ihm in ihrer jugendlichen Respektlosigkeit absolut recht gegeben. Ihrer Meinung nach war ein Mann, der sich tagelang ausschließlich von Dinkelstangen ernährte, die er in Riesenkartons ins Haus geliefert bekam, um dann plötzlich und lustvoll seine Zähne in ein Fünfhundert-Gramm-Steak, blutig, zu schlagen, nicht nur unheimlich, sondern auch unberechenbar. Und das war für viele Frauen noch schlimmer. Eberhard war nach Yvonnes Männeranalyse der Gegenentwurf: ein treusorgender Partner und Vater, der im Haushalt alles reparierte, im Wald Holz hackte, gerne kochte und Brot buk, seiner Frau Blumen mitbrachte und sich für Anfälle von schlechter Laune entschuldigen konnte. Einfach liebenswert und verlässlich. Über Daniel hatte sie keine Aussagen gemacht. Damals hatte Anna überlegt, wie Christian wohl auf Yvonne wirkte. Yvonne bewunderte ihn rückhaltlos. Aber sie war zu jung, um zu verstehen, dass Christians Stärke angreifbar war, weil sie zu wenig Rücksichten nahm, und seine Schwäche furchterregend, weil sie ihn verhärten ließ. Egal, ob er stark oder schwach war, er verletzte die Menschen, die ihn liebten.
Jetzt schien Yvonne selbst in einer verletzlichen Lage. Sie saß stumm da und beobachtete mit waidwundem Blick, wie Daniel den Arm um Puck legte und sie küsste. Yvonne wandte sich abrupt ab, griff zu ihrem Handy und telefonierte leise.
Durch die große Glasfront beobachtete Anna, wie Christian sich der Kneipe näherte. Sie ging nach vorne Richtung Theke, um ihn abzufangen. Im Augenwinkel sah sie zwei ihrer Studenten am Tresen stehen. Sie nickte ihnen kurz zu. Christian kam herein, strahlte sie an. Er hatte nur Augen für Anna, deshalb sah er seine versammelten Kollegen am großen Tisch weiter hinten nicht.
Anna begrüßte ihn mit einem Kuss auf die Wange und flüsterte: »Sei mir nicht böse. Sie haben mich mit vorgehaltener Waffe gezwungen.«
Irritiert folgte Christian Annas Blick und sah sie alle dastehen, die Gläser in den Händen, ihm zuprostend. Bevor er etwas sagen konnte, zerrte Anna ihn zum Tisch.
»Was zum Teufel …?«, begann Christian zu fluchen. Dann hielt er inne und schlug sich gegen die Stirn.
»Seht ihr? Er hat’s vergessen! Her mit der Kohle, Pitt!«, freute sich Yvonne. Dann fiel sie Christian um den Hals und gratulierte ihm. Alle anderen schlossen sich an, zuletzt nahm Anna ihn in die Arme.
»Wenn der Geburtstagskuss nicht wirklich beeindruckend ausfällt, verzeihe ich dir das niemals!«, meinte Christian grinsend.
Anna küsste ihn dementsprechend intensiv auf den Mund, und er erwiderte den Kuss. Sie spürte, wie sie unwillkürlich die Augen schloss und sich dieses Gefühl, in seinen Armen zu Hause zu sein, wohlig in ihr ausbreitete. Als sie sich wieder voneinander lösten, war es für einige wenige Minuten so, als hätte es nie ein Zerwürfnis zwischen ihnen gegeben. Erst als sie alle am Tisch saßen und Christian seine Geschenke überreichten, ließ er ihre Hand wieder los. Michel, der Theker, mit dem Christian eine Art lockerer Freundschaft pflegte, kam an den Tisch und gab eine Runde aufs Haus aus. Auch er gratulierte Christian, ebenso wie Beate und Ina, die beiden attraktiven Servicekräfte an den Tischen.
Anna war erleichtert, dass Christian nicht bärbeißig auf den konzertierten Überfall reagierte. Er schien sich sogar zu freuen. Früher hätte sie ernsthaft gefürchtet, er würde mit Verachtung auf die Überraschungsparty reagieren und sie alle auf ihren Geschenken sitzen lassen, um allein seiner schlechtgelaunten Wege zu gehen. War Christian in den Monaten ihrer Abwesenheit tatsächlich wieder aus seinen Abgründen aufgetaucht in die menschliche Gemeinschaft, oder waren es die Ermittlungen, die ihm das Gefühl gaben, nützlich zu sein, ihn seinen Frust vergessen ließen und sogar seinen Geburtstag? Sie hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn die Ankunft Martin Abendroths brachte sie aus der Fassung. Er küsste Yvonne zur Begrüßung auf den Mund, stellte sich dann artig der Gemeinschaft vor und bedachte Anna mit einem frechen Grinsen. Nun war ihr klar, wen Yvonne eben angerufen hatte. Offensichtlich war sie heftiger in Daniel verliebt, als alle vermuteten. Yvonne hatte sich ein Gegengewicht zu Puck besorgt, sie konnte es wohl nicht ertragen, einsam Daniels Liebesglück gegenübersitzen zu müssen. Anna fand ihre Vermutung bestätigt, als sie Yvonnes prüfende Blicke zu Daniel sah. Der jedoch zeigte keinerlei Anzeichen von Verblüffung, geschweige denn Eifersucht, und begann sofort, sich mit Martin nett zu unterhalten. Martin brillierte durch Intelligenz und Charme, er integrierte sich hervorragend. Trotzdem fühlte sich Anna durch seine Anwesenheit gestört, und das lag nicht nur an den ihrer Meinung nach herausfordernden Blicken, die er ihr immer wieder zuwarf.
Nach dem Essen holte sich Anna Zigaretten aus dem Automaten im Kellergeschoss. Auf dem Rückweg kreuzte sie Martin, der unterwegs war, um mit den beiden Kommilitonen an der Theke ein paar Worte zu wechseln. Anna hatte den Eindruck, er passte sie ab. Sie wollte an ihm vorbeigehen, doch er hielt sie auf.
»Kann es sein, dass Sie sich durch meine Anwesenheit gestört fühlen, Frau Doktor Maybach?«
»Keineswegs«, log Anna, »ich frage mich nur, was Sie von Yvonne wollen. Ich hätte nicht angenommen, dass sie ernsthaft ihr Typ ist.«
Martin beugte sich vertraulich vor und raunte Anna ins Ohr: »Ihr Interesse an meinem Privatleben schmeichelt mir, auch wenn es Sie nichts angeht. Es sei denn, Sie wollen ein Teil davon sein, was ich sehr begrüßen würde. In einem Punkt aber haben Sie recht. Erfahrene Frauen liegen mir mehr als unschuldige Gören. Die sind nur zum Verderben gut.«
Bevor Anna in aller Schärfe antworten konnte, hatte Martin sich den beiden Studenten zugewandt und klatschte sie mit cooler Geste ab. Anna ließ es dabei bewenden, und obwohl sie innerlich kochte, ging sie zurück zum Tisch und verbarg ihren Ärger. Eberhard und Volker erzählten Anekdoten aus ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit Christian, bis dieser schließlich protestierte und dem peinlichen Treiben ein Ende bereitete, das nur einem Muttertier beim Kindergeburtstag zustand, wie er sich ausdrückte. Yvonne trank unterdessen mehr als ihr zuträglich war, und schon gegen halb elf Uhr bestellte Martin ein Taxi und verabschiedete sich mit ihr. Der Stimmung tat es keinen Abbruch. Volker und Eberhard, beide mit Band-Erfahrung in ihren Biographien, begannen zu singen. Während Volker sich mehr auf die Gassenhauer der Rockmusik kaprizierte, versuchte Eberhard sich an Chet-Baker-Balladen, wurde aber schnell wegen unbotmäßiger Melancholie disqualifiziert. Anna spürte, wie mit jeder Stunde der Stress des Nachmittags von ihr abfiel und sie sich immer gelöster fühlte. Unter dem Tisch suchte sie Christians Hand und drückte sie. Er lächelte sie an.
Kurz darauf ging Anna zum Tresen, um bei Michel eine Runde Grappa zu bestellen. Der Theker jedoch war gerade mit der Zubereitung zweier Cocktails beschäftigt, sodass sie einen Moment auf seine Aufmerksamkeit warten musste. Die beiden Studenten standen neben ihr, drehten ihr jedoch den Rücken zu. Anna bekam unabsichtlich ihr Gespräch mit.
»Martin ist unglaublich. Wie der das immer hinkriegt!«
»Die Weiber fliegen halt auf ihn.«
»Die Kleine wird sich wundern.«
»Ach, die vögelt er doch nur, weil sie bei der Soko ist. Im Grunde ist er scharf auf die Maybach.«
»Aber die kriegt er nicht.«
»Abwarten. Jetzt knüpft er erst mal die Kleine auf. Besoffen genug war sie ja. Ich finde sie eigentlich ganz lecker. Mit viel Glück erinnert sie sich morgen nicht mehr an jede Schweinerei. Am liebsten würde ich hinfahren und zusehen. Aber ich bin pleite.«
»Wobei zusehen?«, mischte sich Anna mit schneidendem Ton in das Gespräch ein. Die beiden Studenten fuhren herum. Als sie erschrocken erkannten, wer sie belauscht hatte, versuchten sie, das Ganze herunterzuspielen und ergingen sich in Ausflüchten. Doch Anna ließ sie nicht vom Haken, ihr war es bitter ernst. Als sie ein paar gezielte Drohungen aussprach, bekam sie schließlich die gewünschten Informationen. Eilig ging sie zurück zum Tisch und verabschiedete sich von Christian und den anderen. Natürlich wollte man sie nicht so überstürzt gehen lassen, schon gar nicht ohne Angabe von Gründen. Anna erwähnte einen Notfall, verschwieg aber, dass es sich dabei um Yvonne handelte, sie wollte das Mädchen vor ihren Kollegen nicht bloßstellen. Aber sie versprach Christian, sich später noch bei ihm zu melden, egal, wie viel Uhr es werden würde. Mit einem tiefen, erwartungsvollen Blick in ihre Augen ließ er sie ziehen. Sie hatte es ganz offensichtlich eilig.
Es dauerte fast eine Stunde, bis Anna die Anlage im Norden knapp außerhalb Hamburgs gefunden hatte. Der einstöckige, langgestreckte Reetdachhof lag in Dunkelheit, die Fenster waren mit Holzläden fest verschlossen, nur an der Eingangstür brannte eine Lampe. Anna parkte ihren Mini zwischen vornehmlich edlen Karossen, die doppelt so lang waren wie ihr Wagen. Nur ein paar Frösche quakten, ansonsten war es still. An der Eingangstür fand sie keine Klingel, sondern einen schmiedeeisernen Klopfer in der Form eines Pferdekopfs. Das Geräusch hallte laut durch die neblige Nacht. Kurz darauf wurde ein Sichtfenster in der Tür geöffnet. Ein junger Mann lugte hindurch und betrachtete Anna mit prüfendem Blick.
»Was kann ich für Sie tun, Schönste?«
»Ein Freund hat mir dieses Haus empfohlen.«
»Dann kennen Sie sicher auch das Sesam-öffne-dich.«
Anna nickte. »Katharina die Große.«
Ohne ein weiteres Wort wurde die Tür geöffnet. Der junge Mann, dessen Smoking aufgrund einer beeindruckenden Breitschultrigkeit schon aus stilistischen Gründen zu eng wirkte, geleitete Anna in eine schummrige Bar. Die Einrichtung war hochwertig und geschmackvoll. Weniger geschmackvoll fand Anna die gutbetuchten Herren, die in den schlecht beleuchteten Nischen saßen und sich von Oben-ohne-Hostessen in Lederstrings in jeglichem Sinne bedienen ließen. Möglichst unauffällig ließ Anna ihren Blick schweifen, doch von Martin und Yvonne keine Spur. Sie setzte sich an die Bar und bestellte einen Manhattan. Es dauerte keine drei Minuten, bis sich ihr ein Mann näherte und auf dem Hocker neben ihr Platz nahm. Er war etwa Mitte fünfzig, klein, fast kahl und ausnehmend hässlich. An seiner Hand trug er einen Siegelring mit einem fetten Diamanten. Er drehte an dem Ring herum, als wollte er Annas Blick unbedingt darauf lenken.
»Hallo«, eröffnete er das Gespräch reichlich unoriginell. Sein begehrlicher Blick, der an Annas Körper herabglitt, war mindestens ebenso plump.
»Hallo«, antwortete Anna so verbindlich sie konnte.
»Willst du mit mir auf ein Zimmer gehen? Oder magst du lieber Zuschauer?«
»Zimmer?«, fragte Anna zurück. »Ich bin zum ersten Mal hier. Aber man sagte mir, hier gäbe es Ställe. In denen was Besonderes geboten wird.«
Ein breites Grinsen überzog das Gesicht des Mannes. »Da habe ich aber Glück. Wenn du das Besondere suchst, bist du bei mir genau richtig. Passiv oder aktiv?«
Anna war unsicher, was sie antworten sollte. »Wo liegen denn deine Vorlieben? Wie wär’s mit Aufknüpfen?«
Der hässliche Mann erhob sich. Schon jetzt zeichnete sich eine gewisse Erregung in seiner Unterleibsgegend ab. Anna spürte, wie ihr leicht schwindelig wurde. Oh nein, nicht jetzt, dachte sie und atmete tief durch. Der Mann interpretierte das falsch. »Ganz schön heiß bist du, was? Komm, wir gehen in den Stall.«
Anna folgte ihm auf die Hinterseite des Gebäudes und war dankbar, auf dem gepflasteren Hof etwas frische Luft schnappen zu können. Die Nacht war sternenklar und windstill. Eine Katze huschte über den Hof. Sie sah kurz in Annas Richtung. Ihre Augen glühten im Licht des Vollmonds. Dann war sie zwischen zwei Holzfässern verschwunden. Der Mann öffnete die Tür zum Stall. Auch hier war die Beleuchtung eher spärlich, doch Anna konnte sofort erkennen, dass die alten Pferdeboxen erhalten geblieben waren. Drei größere Boxen lagen zur rechten Seite der Tür, sehr viele kleinere, Anna konnte nicht sehen, wie viele, waren links aufgereiht. Die Luft war stickig, es roch nach Leder und Latex und Puder und Schweiß. Der hässliche Mann wollte Anna zu einer leeren Box auf der rechten Seite ziehen, doch sie entwand sich seinem feuchten Griff und meinte leise, er solle schon mal vorgehen, sie wolle sich erst noch umsehen, um sich Inspiration zu holen. Anscheinend fand er dieses Vorgehen akzeptabel, denn mit vorfreudigem Grinsen, aber ohne weiter zu insistieren, begab er sich allein auf die rechte Seite des Stalls.
Anna wandte sich nach links. Rotes Licht flackerte im Halbdunkel, hie und da brannten Kerzen, klatschende Schläge auf nackter Haut, das Rasseln von Ketten, das Knallen von Peitschen, lautes Stöhnen und Lustschreie erfüllten die Luft, die so gesättigt an Gerüchen und Geräuschen schien, dass man sie schneiden konnte. In jeder Box hielten sich mindestens zwei Leute auf. Keinen schien zu stören, dass Anna unbeteiligt an ihnen vorüberlief. Sie jedoch spürte, wie sie mit jedem Schritt, mit jeder Box angewiderter von diesen wenn auch nur inszenierten Gewalt- und Unterwerfungsphantasien war, sie spürte deutlich die Anzeichen einer Panikattacke. Als sie vor der zweitletzten Box stehen blieb, bekam sie kaum noch Luft.
»Unsere Fetischismus-Dozentin auf Exkursion. Kommen Sie aus privatem Interesse, oder haben meine dümmlichen Kommilitonen Ihnen die Adresse gegeben?«
Anna achtete nicht auf Martin, der mit freiem, gepiercten Oberkörper in einer Lederjeans neben ihr stand. Ihr Blick war entsetzt auf Yvonne geheftet, die mit dem Gesicht nach vorne in einer Art Lederschaukel hing, wobei ihr der Rücken schmerzhaft durchgebogen wurde. Ihre Augen waren verbunden, doch selbst in dem dämmrigen Licht konnte Anna sehen, dass ihre Wangen von Tränen nass waren. Anna bemerkte nicht einmal, wie ihr Schwindel, ihr Herzrasen und ihre Atemnot einer unglaublichen Wut wichen. Sie forderte Martin auf, Yvonne sofort loszubinden. Der zuckte mit den Schultern, murmelte etwas von »Spielverderber« und machte sich daran, Yvonne aus ihren Fesseln zu lösen. Yvonne nahm sich die Binde von den Augen und sah Anna fassungslos an. Dann stürzte sie ihr weinend in die Arme. Anna hielt sie mit einer Hand fest, mit der anderen klaubte sie Yvonnes Kleidung aus dem auf dem Boden verstreuten Stroh.
»Zieh dich an, komm, zieh dich an. Es ist alles in Ordnung.« Während Yvonne sich zitternd anzog, wandte sich Anna ein letztes Mal zu Martin: »Wenn Sie mir jemals wieder unter die Augen treten, werde ich Ihnen Ihre stinkenden Eier abschneiden.«
Anna fasste die einen Kopf kleinere Yvonne um die Schultern und führte sie hinaus auf den Hof, in die klare Nacht. Sie wollte um das Haupthaus herumgehen, als eine männliche Stimme sie aufhielt.
»Hey, Sie! Sie sind doch die Freundin von Christian Beyer!«
Verblüfft drehte sie sich um. Yvonne hob nicht einmal den Kopf.
Vor ihr stand Lars, ebenfalls in die schwarze Kluft der S/M-Gemeinde gezwängt. Selbst in der kalten Luft verströmte er den Geruch von Gummi.
»Was machen Sie hier?«, wollte er von Anna wissen.
»Das geht Sie wohl kaum etwas an. Und es interessiert mich auch nicht, was Sie in Ihrem Privatleben treiben. Lassen Sie uns gefälligst in Ruhe.«
Anna packte Yvonne fester und ging mit ihr Richtung Parkplatz. Lars sah den beiden nachdenklich hinterher, dann verschwand er wieder im Stall.
Eine Stunde später lag Yvonne bei Anna in der Badewanne. Sie hatte zwar nach Hause gewollt, doch Anna hielt es für keine gute Idee, wenn sie jetzt allein war. Während der Fahrt hatte Yvonne keinen Ton von sich gegeben, sie weinte nur leise vor sich hin. Also hatte Anna vorgeschlagen, mit zu ihr zu kommen, und Yvonne schien dankbar für das Angebot.
Die Tür zum Badezimmer ließ sie offen, damit Yvonne nach ihr rufen konnte. Sie ging hinunter in die Küche und überlegte, ob sie sich noch bei Christian melden sollte. Es war schon nach zwei, sicher schlief er schon. Außerdem wusste sie nicht, was sie ihm sagen sollte und durfte. Sie musste sich zuerst mit Yvonne absprechen, denn der wäre es vermutlich unangenehm, wenn Christian von ihrem Ausflug in die Abgründe der Demütigung erfuhr. Anna konnte sich gut vorstellen, wie Yvonne jetzt in der Wanne saß und sich schrubbte und schrubbte, um sich wieder reinzuwaschen von den Berührungen und den Blicken. Ein hoffnungsloses Unterfangen, sie würde lernen müssen, mit der Erfahrung umzugehen. Vielleicht konnte Anna ihr dabei Starthilfe geben.
Sie setzte Milch auf, um heißen Kakao zu kochen. Als Yvonne zaghaft in die Küche kam und sich auf das Sofa am Esstisch in die hinterste Ecke verkrümelte, goss Anna gerade zwei Tassen voll. Yvonne trug einen Jogginganzug, den Anna ihr bereitgelegt hatte. Sie hatte Hosenbeine und Ärmel mehrfach umgekrempelt, weil ihr der Anzug viel zu groß war. Aber Anna wusste, wie beruhigend jetzt weite, weiche Schlabberklamotten auf Yvonnes Unbewusstes wirken würden. Wenn man das schlichte Vorhandensein des Körpers für eine Verletzung der Seele schuldig sprach, tat es gut, ihn in etwas Formlosem zu verstecken, in einem schützenden Kokon, in dem der Körper verhüllt und jeglicher Eros verleugnet wurde, in dem die Weiblichkeit verborgen blieb, statt sich selbstbewusst zu präsentieren und sich des ungerechtfertigten Vorwurfs der Provokation aussetzen zu können.
Anna stellte eine Tasse vor Yvonne hin und setzte sich dazu: »Möchtest du einen Schuss? Cognac oder Rum?«
Yvonne schüttelte den Kopf. »Nie wieder Alkohol.«
Sie nahm einen Schluck und stellte die Tasse ab. Der Kakao war noch zu heiß zum Trinken. Abwesend fuhr Yvonne mit ihrem Zeigefinger die Maserung auf dem alten Holztisch nach.
»Ich schäme mich so«, sagte sie, ohne den Blick zu heben.
»Ich weiß. Aber das brauchst du nicht. Nicht vor mir, nicht vor dir.«
»Trotzdem. Ich bin froh, dass du mich da rausgeholt hast. Aber fast wär’s mir lieber, du hättest das nicht gesehen.«
Anna pustete ihren Kakao, sodass sich eine Haut bildete: »Was habe ich denn gesehen? Eine Freundin, der jemand wehgetan hat. Eine Freundin, die geweint hat.«
Yvonne sah sie überrascht an.
»Kennst du von Jacques Brel das Lied ›voir un ami pleurer‹?«
Yvonne verneinte. Sie kannte weder Jacques Brel, dazu war sie viel zu jung, noch sprach sie französisch.
Anna versuchte ihr zusammenzufassen, worum es ging: »Es ist ein wunderschönes, sehr trauriges Lied, das beschreibt, was es alles in der Welt gibt an Schrecken. Kämpfe in Irland, zu wenig Zärtlichkeit, der unausweichliche Tod … aber das Schrecklichste von allem ist und bleibt, was der Titel übersetzt heißt: Einen Freund weinen zu sehen.«
Für den Schatten einer Millisekunde huschte ein Lächeln über Yvonnes Gesicht. Dann versteckte sie sich wieder hinter ihrem Kakao. »Erzählst du mir ein bisschen von dir? Von deinen Eltern … Hast du eigentlich Geschwister? … Oder von Chris und dir … aber nur, wenn du magst.«
Anna verstand, dass Yvonne das Freundschaftsangebot mit einem Vertrauensbeweis besiegelt brauchte. Auch damit Yvonne über ihr Erlebnis im Pferdestall reden konnte, musste Intimität zwischen ihnen hergestellt werden. Also erzählte Anna. Sie erzählte von ihren Eltern, von den Schwierigkeiten, die sie seit Jahren mit ihnen hatte, sie erzählte von ihren Liebschaften, ihrer Einsamkeit inmitten des studentischen Partylebens, von dem Wegziehen ihrer beiden besten Freundinnen, der Trauer über den Verlust, und sie erzählte von Christian, dem Scheitern ihrer Beziehung und ihrer Sehnsucht nach einem Neuanfang.
Christian saß zu Hause in seinem Sessel. Es war drei Uhr in der Nacht, draußen schlief die Stadt unter der feuchten Decke des unaufhörlichen Nieselregens, und er wartete. Wartete wie ein Volltrottel auf Anna, die nicht mehr anrufen, geschweige denn auftauchen würde. Er hatte die Blicke, die sie ihm auf seiner Geburtstagsfeier zugeworfen hatte, durch die rosarote Brille seiner Hoffnungen und Wünsche falsch interpretiert. Das waren die ersten Anzeichen der Seuche: Spekulation und Interpretation. Jedes Wort, jeden Blick, jede Geste auf die Goldwaage zu legen, dann hin und her zu drehen wie eine Münze aus einem fremden Land, graviert mit fremden Zeichen, um schließlich genau den Wert herauszulesen, den man brauchte, um das zu bekommen, was man wollte. Die Seuche. Sie breitete sich aus wie ein Gift, langsam, schleichend, zersetzend, und wenn man schließlich bemerkte, was vor sich ging, war es schon zu spät, und die Seuche regierte Gehirn und Gonaden gleichermaßen und ließ einen schwachsinnige Dinge tun, wie nachts stupide im Sessel sitzen und auf jemanden warten, der nicht kommt. Die Seuche namens Liebe. Gegengift: Gefühllosigkeit. Mit den Nebenwirkungen Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Einen Preis zahlt man immer und für alles. Christian hatte sich in seinem Leben schon oft gefragt, was schlimmer sei, die Seuche oder das Gegengift. Meistens hatte er sich mit allen Konsequenzen für Letzteres entschieden. Jetzt jedoch saß er in seinem Sessel und gab auf, sich zu wehren. Er wollte die Seuche, er suchte und fand und begrüßte sie und lud sie ein, in seiner Mitte Platz zu nehmen, er wollte von ihr ganz erfasst werden, und wenn er daran zugrunde ging.
Als es klingelte, schoss er aus seinem Sessel wie ein Champagnerkorken aus der Flasche. Aber es war nicht Anna. Vor seiner Tür stand Lars, gekleidet in einer lächerlichen Lederkluft, die fast so aufdringlich war wie seine Bierfahne. Christian wollte ihn anschreien, allein schon, um seiner Enttäuschung Luft zu verschaffen, als wolle er Lars persönlich vorwerfen, nicht Anna zu sein. Doch ein Blick in Lars’ verstörte Miene ließ ihn verstummen. Er öffnete die Tür und ließ ihn ein.
»Du siehst aus wie ein bescheuerter Dörfler, der sich zum Harley-Treffen verkleidet hat«, sagte er mürrisch.
»Eher wie ein erotisch völlig unterbelichteter Spießer, der sich zu einem S/M-Treffen verkleidet hat«, gab Lars müde zurück.
Christian bot ihm Platz und schwarzen Kaffee an und bat um Aufklärung. Stockend erzählte Lars, wie ihm einer seiner Kollegen bei Airbus hinter vorgehaltener Hand und unter dem Siegel der Verschwiegenheit auf das Foto seiner Schwester in der Zeitung angesprochen hatte. Der Kollege behauptete, Uta vor nicht allzu langen Wochen in einem zum S/M-Schuppen ausgebauten alten Pferdehof außerhalb Hamburgs gesehen zu haben. Noch bevor Christian tief genug Luft geholt hatte, um Lars zu beschimpfen, weil er mit dieser Information erst jetzt herausrückte, erklärte ihm Lars die Gründe für seinen Alleingang. Das ersparte ihm Christians Vortrag keineswegs. Als Christian zum zweiten Mal tief Luft holte, grätschte Lars dazwischen.
»Ja, ist schon gut, ich habe verstanden. Ich bin allerdings nicht mitten in der Nacht gekommen, um mir meine Packung abzuholen. Das hätte ich auch noch morgen früh machen können.«
Christian stutzte: »Stimmt. Also. Was hast du herausgefunden?«
»Nichts. Und zwar genau aus den Gründen, warum ich euch nicht Bescheid gesagt habe. Ihre Freundin hat mir dazwischengefunkt. Und weil einer gesehen hat, wie ich auf dem Hof mit der Ische eines Bullen rede, die kurz vorher in dem Laden Aufstand gemacht hat, haben sie mich rausgeworfen, bevor ich irgendjemanden zu meiner Schwester befragen konnte. Dankeschön.«
»Wovon redest du, Herr im Himmel?«
»Von Ihrer Freundin, dieser schlanken Brünetten, die ich nachts mal hier mit Ihnen vor der Tür getroffen habe. Die war im Pferdestall und hat so ’ne kleine Blondine rausgeholt.«
»Und woher wussten die im … im Pferdestall, dass die Frau, mit der du gesprochen hast, meine Freundin ist? Wenn sie’s überhaupt war.«
»Der Typ, der an der kleinen Blondine rumgemacht hat, der kennt sie wohl auch. Der hat es dem Chef dort gesteckt. Und schon war ich draußen. Die dachten, wir gehören zusammen und schnüffeln den Laden aus.«
Christian versuchte, das Gehörte in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Er hatte sich schon alle möglichen Gründe ausgedacht, warum Anna Hals über Kopf von seinem Geburtstag verschwunden war. Vielleicht hatte sie einen Liebhaber, der unerwarteterweise Zeit für sie erübrigte. Oder eine Freundin in Not. Oder ihre Mutter. Aber ein S/M-Schuppen? Anna? Nie im Leben!
»Ich möchte jetzt gerne mal erfahren, was Ihr Bullen dort ermittelt. Die kleine Blonde habe ich schließlich auch schon in eurem schäbigen Büro gesehen. Also: Gibt es eine Spur? Ich will es wissen!«
Christian bekam immer weniger Sinn in das Ganze. Es gab nur eins, egal, wie viel Uhr es war. Er schob Lars zur Tür hinaus, versicherte ihm, das sei alles nur ein großes Missverständnis und habe nichts, aber auch gar nichts mit den Ermittlungen im Falle Uta Berger zu tun. Dann rief er Anna an, um sie unmissverständlich zu fragen, inwieweit das alles nur ein großes Missverständnis sei und nichts, aber auch gar nichts mit den Ermittlungen im Falle Uta Berger zu tun habe.
Anna bestätigte ihm genau das. Mit einem Seitenblick auf Yvonne hatte sie das Gespräch angenommen und sich ins Wohnzimmer zurückgezogen. Ohne große Erklärungen gab Anna zu, Lars im Pferdestall getroffen zu haben, alles Weitere würde sie ihm morgen erklären. Sie oder Yvonne. Jedenfalls sei es eine Angelegenheit äußerst privater Natur. Christian wollte sich nicht damit zufriedengeben, doch Anna bestand darauf und legte auf. Dann ging sie zurück zur Küche und sah Yvonne ernst an.
»Tut mir leid, Yvonne, aber Christian weiß Bescheid über unseren kleinen Ausflug. Der Typ da auf dem Hof, mit dem ich gesprochen habe, das war Uta Bergers Bruder, der hat es Christian gesteckt.«
»Was hat der denn da gemacht?« Yvonne war verblüfft.
»Keine Ahnung. Aber das spielt im Moment auch keine Rolle. Wichtiger ist, dass Christian eine Erklärung erwartet. Und du weißt, dass er sich nicht mit Ausflüchten abspeisen lässt. Also. Was sollen wir ihm erzählen? Die Entscheidung liegt bei dir.«
Yvonne stellte ihre zweite Tasse Kakao mit Schwung auf den Tisch, sodass ein wenig vom Inhalt überschwappte, und begann wieder zu weinen. Aber Anna spürte, dass Yvonnes Tränen nun nicht mehr ausschließlich aus Trauer und Schmerz flossen, sondern auch aus Zorn.
»Ich bin doch nur mitgegangen wegen Daniel! Überhaupt! Was muss der denn diese blöde Punk-Tussi mitbringen! Da habe ich Martin angerufen und mich betrunken.«
»Du bist noch immer in Daniel verliebt, was?«
»Jetzt nicht mehr! Aber ich war’s. Und deswegen hat’s mir doch auch so gutgetan, dass Martin sich für mich interessiert hat! Für mich! Die sonst nie ein Typ so richtig wahrnimmt! Jedenfalls nicht Daniel. Aber Martin. Er wollte alles über mich wissen, was ich denke, was ich tue, was ich arbeite! Und er ist ein toller Typ. An der Uni, die reißen sich um ihn. Weißt du, wie gut das tut?«
Yvonne wartete Annas Antwort nicht ab. »Er sieht phantastisch aus, ist sportlich, intelligent, witzig, er kann vier Sprachen, er segelt, ist Motocross gefahren, Bungeejumping hat er auch gemacht und Theater gespielt und …«
Yvonne brach plötzlich ab, als hätte sie der Schlag getroffen. Sie starte ins Leere.
»Yvonne, was ist denn?«, fragte Anna.
Kaum hörbar flüsterte Yvonne: »Er hat sich nicht für mich interessiert. Es ging nicht um mich, keine Sekunde. Ich bin eine solche Idiotin! Wie dumm kann ein Mensch sein!?«
Sie barg ihre Hände ins Gesicht und weinte herzerweichend.
Christian hätte nun wirklich langsam ins Bett gehen sollen, aber er wusste, er würde nicht schlafen können. Er war zu sehr mit Carl Gustav Jungs Theorie von der Synchronizität beschäftigt. Christian verstand nicht viel davon, er war schließlich kein Psychologe, aber er könnte Anna danach fragen. Das sollte er auch. Es war nämlich schon das zweite Mal in diesem Fall, dass er daran dachte. Das scheinbar zufällige zeitliche Zusammentreffen mehrerer Ereignisse, die nichts miteinander zu tun haben, aber durch ihr Zusammentreffen eine neue Bedeutung bekommen, ließ ihm keine Ruhe, seit Daniel auf das Verschwinden dieses Mossad-Agenten gestoßen war. Einen Zusammenhang herzustellen, schien hanebüchen, es gab keinerlei Anhaltspunkte dafür, außer einem Wort: Folter. Doch dieses Wort war für Christian entscheidend, es war der kleinste gemeinsame Nenner in einer verwirrenden Vielzahl von Fakten, Fundstücken, Aussagen und Thesen. Und jetzt der Pferdestall. Lars auf der Suche nach dem Phantom. Anna und Yvonne. Was, zur Hölle, hatten die beiden da verloren? Und wer, zum Teufel, war eigentlich dieser unsympathische Student, der am Abend im R&B aufgetaucht war und dessen Hände über Yvonne wanderten, während seine Augen an Anna klebten?