Tag 9: Sonntag, 5. November

Dunkel. Ganz dunkel. Kalt. Kalt? Zähne klappern. Meine Zähne. Ich. Also kalt. Wach. Ich bin wach. Nackt. Stirn. Stirn an Mauer. Kalt. Rau. Feucht. Vögel. Draußen. Amsel? Egal. Wo ist drinnen? Egal. Tut weh. Bewegen. Ein Zentimeter. Noch einer. Matschig. Strecken. Bein. Schmerz. Brennt. Heiß. Stillhalten. Ruhig. Kalt. Kalt und heiß. Atmen. Luft. Luft. Zu wenig. Röcheln. Lunge röchelt. Mund gurgelt. Warm. Warmes Blut am Kinn. Schön warm. Wunderschön. Stirn kratzt an Mauer. Nichts spürt. Stirn schlägt Mauer, Kopf schlägt Mauer. Beton. Beton. Beton. Kalt. Nichts. Warm übers Auge. Blut. Gut. Warm. Ich lebe. Ich. Durst. Vogel. Dunkel. Es raschelt. Es. Ich. Raschelt. Gut. Nicht allein. Tropft. Pling. – Pling. – Plong. – Wasser. Durst. Raschelt. Vogel. Schwindlig. Will Licht. Pfeift. Dunkel. Dunkelgrau. Fuß. Kalt. Schmerz. Fuß zerrt. Schmerz. Metall. Pfeift. Raschelt. Müde. Durst. Schlafen. Nein! Nicht schlafen. Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein, Stock und Hut, steht ihm gut, ist auch wohlgemut. Hänschen klein, ganz allein, Welt hinein, sehr viel Blut, wärmt ihn gut …

Christian und Anna hatten die Nacht in Annas kleiner Stadtvilla im Generalsviertel verbracht. Es war eine sehr schöne Nacht gewesen, sternenklar, ohne Nieselregen, kalt und frisch. Eine Nacht, die roch wie neu erfunden, wie noch nie dagewesen, eine leidenschaftliche und zärtliche und innige Nacht, in der sie beide für mehrere Stunden die Welt und all die Kümmernisse da draußen vergessen konnten. Sie schliefen aus, eng aneinandergeschmiegt, und begannen den Sonntag leichten Herzens. Nach dem Frühstück wollten sie an der Elbe spazieren gehen, parallele Fußspuren im Sand hinterlassen, gemeinsam schweigen, um das Geschrei der Möwen nicht zu übertönen, die Trockendocks und Kräne grau in grau hinter den milchigen Morgennebeln erahnen, sich an den Händen halten und die flüchtige und wiederkehrende Atemsäule vor dem Mund des anderen mit Blicken liebkosen.

Während Anna das Frühstück vorbereitete, telefonierte Christian mit Pete und der Fahndungsdienststelle. Es gab nichts Neues, keine Spur von Abendroth. Auch die Eltern waren inzwischen irritiert. Zwar bemühten sie sich weiterhin, an einen Wochenendtrip mit einer jungen Frau zu glauben, doch die Umstände erschwerten ihnen die Sorglosigkeit, an die sie sich klammerten, immer mehr. Das abgeschaltete Handy, der Vandalismus in Martins Apartment, die Fahndung der Polizei, ein diffuser Zusammenhang zu einem Mord … langsam wurden sie nervös, riefen jede Stunde bei Pete an und begannen, detaillierte Fragen zu stellen. Pete hielt sich bedeckt, doch aufkeimendes Misstrauen vergiftete die Gesprächsatmosphäre, und es stand zu befürchten, dass Martins Eltern, falls er sich denn bei ihnen meldete, die Polizei nun nicht mehr über das Auftauchen ihres Sohnes informieren würden.

Als Anna Kaffee eingoss und sich zum Frühstück hinsetzen wollte, klingelte ihr Telefon. Sie seufzte, zögerte und ging ins Wohnzimmer. Christian hörte sie sprechen, sie sagte nicht viel. Kurz darauf kam sie in die Küche zurück, nahm im Stehen ein paar Schlucke von ihrem Kaffee und meinte: »Ein schnelles Croissant passt noch. Den Rest essen wir später. Elbe ist auch verschoben. Wir müssen in die Imam-Ali-Moschee. Das war Frau Hamidi. Mohsen ist zurück und will mit uns reden.«

Es war nicht weit bis zur Moschee, nur einmal um die Nordspitze der Alster herum bis zur »Schönen Aussicht«. Die blaue Moschee war durch ihre Kuppel und ihre markanten Minarette weithin sichtbar und gehörte längst zum Hamburger Stadtbild. Dennoch waren weder Anna noch Christian je drin gewesen.

»Wundervoll«, meinte Anna, als sie davorstanden. »Wenn die Sonne scheint, leuchtet und schimmert das helle Blau sicher wie der Himmel selbst.«

Christian stimmte zu: »Die Moslems haben schon phantastische Paläste, Gotteshäuser und Bibliotheken gebaut, als wir hier in Europa noch in schmutzigen Windeln auf Bäumen saßen und Misteln schnitten für irgendeinen Zaubertrank.«

Anna lachte. »Ganz so ist es wohl nicht. Aber trotzdem schade, dass die Entwicklungen unserer Kulturkreise so wenig parallel und immer unter Streit verlaufen sind. Vielleicht würden wir uns heute besser verstehen.«

»Daran sind seit knapp tausend Jahren die Kreuzritter schuld. Damals wie heute. – Gehen wir rein?«

Ein Angestellter der Moschee brachte sie durch den Innenhof in einen Seitentrakt, wo Frau Hamidi mit Mohsen im Büro des Ayatollahs auf kunstvoll bestickten Sitzkissen saß und Tee trank. Mohsen war ein Bild des Schreckens. In den wenigen Tagen seiner Abwesenheit hatte der bisher schon schlanke Mann noch etwa weitere zehn Kilo verloren, seine Augen lagen dunkel und stumpf in den Höhlen, der Blick flackerte unruhig hin und her. Seine Hände konnten kaum das Teeglas halten. Frau Hamidi wirkte ruhig und beherrscht. Auch wenn Mohsens Anblick Anlass zu großer Sorge bot, so spürte man doch ihre Erleichterung darüber, dass er überhaupt zurückgekehrt war.

Mohsen erhob sich mit wackligen Beinen, begrüßte Anna und Christian und bot ihnen Platz an. Frau Hamidi goss zwei Teegläser ein und reichte sie ihren Gästen. Sie wartete höflich, bis alle einige Schlucke getrunken hatten, dann begann sie zu sprechen: »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Wir wissen nicht, ob das, was Mohsen Ihnen nun erzählen wird, für Sie von Belang ist. Das müssen Sie selbst beurteilen. Mein Sohn ist letzte Nacht aus dem Iran zurückgekommen. Er hat Schuld auf sich geladen und sich deshalb auf mein Anraten hin unter den Schutz der Moschee und unseres Ayatollahs hier begeben. Im Iran wurde eine Fatwa gegen meinen Sohn ausgesprochen, ein Gerichtsurteil, das seinen Tod verfügt. Unser Ayatollah hier ist ein Mann von großem Gerechtigkeitssinn und ebenso großem Einfluss. Wir hoffen, er kann die Fatwa umwandeln.«

Frau Hamidi schwieg und sah Mohsen auffordernd an. Mohsen nickte ihr dankend zu. »Wie Sie vermutlich wissen, bin ich in den Iran gereist, um Menschen zu finden, die in der Vergangenheit Schlimmes getan haben, was meiner Mutter und damit meiner Familie unendlichen Schmerz und unsägliches Leid zugefügt hat. Mein Onkel in Teheran hatte schon seit Jahren nach den Missetätern geforscht und eine Akte angelegt. Er hat nichts Konkretes unternommen, weil ihn meine Mutter darum gebeten hatte und er Sorge um seine eigene Familie hatte. Als ich nun kam, hat er mir die Akte übergeben. Drei Männer, die damals in die Geschehnisse verstrickt waren, hat er ausfindig gemacht. Einer war im ersten Krieg gegen den Irak gefallen, der zweite bei einem Autounfall gestorben. Den dritten habe ich gesprochen. Er hat mir erstaunliche Dinge berichtet.«

Mohsens Miene wurde noch bitterer. »Wir Iraner sind ein sehr altes Kulturvolk und haben schon immer großen Wert auf Stil, Bildung und Perfektion gelegt. Deshalb haben die Iraner unter dem Schah Unterricht genommen. Das Fach hieß Folter, der Lehrer CIA. Das Schah-Regime war ein zentraler Stützpfeiler der US-Strategie im Nahen Osten und verlässlicher Ölproduzent, der vor allem für Israel und Südafrika unverzichtbar war. Das amerikanische Militär und die CIA unterhielten Stützpunkte auf iranischem Boden, von denen aus sie die benachbarte UdSSR ausspionierten. Die Armee des Schahs wurde gegen nationale Befreiungskämpfe in der Golfregion eingesetzt. Und die Savak, die Geheimpolizei des Schahs, die Verschleppungen, Mord und Folter Tausender auf dem Gewissen hat, wurde von amerikanischen Beratern ausgebildet. Vielleicht ist Ihnen die SOA ein Begriff?«

Anna und Christian schüttelten den Kopf. Frau Hamidi goss Tee nach. Das friedliche Plätschern der Flüssigkeit klang eigenartig in der Stille.

»Die ›U.S. Army School of America‹ hat seit 1950 Zehntausende lateinamerikanische Militärangehörige in US-Militäreinrichtungen ausgebildet, in Repressions- und speziell in Foltertechniken. Natürlich haben die Amerikaner immer bestritten, dass die SOA in Folter schulte. Sie haben sich aus der Affäre gezogen mit dem Argument, was die Südamerikaner mit der Ausbildung anfingen, wenn sie wieder zu Hause wären, würde sich ihrer Verantwortung entziehen.«

»So einfach, so plump?«, fragte Anna bitter.

Mohsen nickte. »Es wurde aber auch Unterricht vor Ort, in den befreundeten Staaten erteilt. In Brasilien beispielsweise gab es einen Ausbilder, der am lebenden Objekt unterrichtete. Er holte Bettler von den Straßen und folterte sie in eigens eingerichteten Unterrichtsräumen, damit die einheimische Polizei lernen konnte, welches die empfindlichsten Körperteile sind und wie man sie am wirkungsvollsten traktiert. Das plumpe Argument gegen diese Vorwürfe war damals, dass die Südamerikaner selbst am besten wüssten, wie man foltere. Trotzdem ließ sich die Öffentlichkeit nicht ewig Sand in die Augen streuen. 1996 sah sich das Pentagon gezwungen, Auszüge aus sieben Trainingsbüchern zu veröffentlichen, die als Anleitung gedient hatten. Schon damals haben die USA die Methoden nie im eigenen Land angewendet, immer nur im Ausland. Diesem Grundsatz sind sie anscheinend bis heute treu geblieben.«

Christian nickte: »Deshalb diese geheimen Gefangenenflüge in nicht so zimperliche Länder.«

Mohsen fuhr fort: »Es wurde aber nicht nur ausgebildet, sondern auch ausgetauscht. Erfahrungen, Techniken, Gerätschaften, wissenschaftliche Erkenntnisse, die von Nutzen waren. Im Iran habe ich erfahren, dass damals eine international besetzte Gruppe existierte, zusammengesetzt aus US-Amerikanern, Südamerikanern, einigen Europäern, Asiaten und Israelis, die in den verschiedenen Ländern Folterungen beiwohnten und auch durchführten, um sich gegenseitig über ihre Spezialitäten und deren Wirksamkeit zu informieren. Es gibt zwei Haupttypen von Folterern: Die einen sind komplett abgestumpft, haben keinerlei Gefühle mehr und arbeiten mit der Präzision und Kaltblütigkeit von Maschinen. Die anderen haben Spaß an ihrer Arbeit. Der Mann, der mir das alles sagte, erinnerte sich an einen jungen Deutschen, der Anfang der Siebziger einmal mit ein paar CIA-Leuten im Iran war. Er gehörte zum zweiten Typus. Besonderes Vergnügen bereitete ihm ganz offensichtlich das Foltern von attraktiven Frauen. Und er erzählte gerne von den Nutten auf der Reeperbahn.«

»Wissen Sie einen Namen?«, fragte Christian.

Mohsen schüttelte den Kopf: »Ich habe Ihnen alles berichtet. Ob das was mit diesem Mädchen, Uta Berger, zu tun hat …« Mohsens Stimme zitterte. Anscheinend saßen ihm neben den Erlebnissen im Iran auch noch die Bilder seiner letzten Obduktion in Hamburg im Gewebe. »Da glaube ich selbst nicht dran. Das ist alles viel zu lange her. Andere Zeit, anderer Ort. Trotzdem … ich … ich … Das alles wird mich nie wieder loslassen.«

Frau Hamidi legte ihrem Sohn beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Darf ich Sie fragen, warum eine Fatwa gegen Sie besteht?«, fragte Anna.

Mohsen gab keine Antwort. Er erhob sich, ging zum Fenster, drehte Anna und Christian den Rücken zu und blickte hinaus in den orientalisch angelegten Garten, friedvolles Sinnbild des Paradieses.

»Der Mann, von dem mein Sohn all das erfahren hat«, antwortete Frau Hamidi an seiner Stelle, »war Folterer unter dem Schah. Er hat während der Revolution unerkannt die Seiten gewechselt und war dann ein Pasdaran, ein Revolutionswächter. Mein Sohn hat ihn getötet. Nachdem er ihm das angetan hat, was der Mann damals mir angetan hat.«

Frau Hamidi erhob sich beherrscht. »Und jetzt gehen Sie bitte.«

Eine halbe Stunde später saßen Anna und Christian beim verspäteten Frühstück am Goldbekufer und brachten doch beide keinen Bissen herunter.

»Was für ein Kreislauf des Grauens. Ein Staat foltert eine Frau, und Jahre später wird dadurch ihr Sohn selbst zum Folterer. Mir ist ein Rätsel, wie er das fertiggebracht hat«, bemerkte Anna fassungslos. »Ich könnte es nicht, ich könnte es einfach nicht. Einem Menschen solche Schmerzen zuzufügen, einem, der schreit, bettelt und fleht, einen Körperteil abschneiden … Das ist so ein großes Tabu, ich begreife einfach nicht, wie man sich fühlen muss, um diese Grenze zu überschreiten.«

»Hass ist immer ein starkes Motiv.«

»Man kann doch keinen Menschen hassen, den man nicht mal kennt. Man hasst das, was er getan hat. Oder den Apparat dahinter. Aber einen völlig fremden Menschen? So sehr, dass man ihn in Stücke zu schneiden vermag? Da muss man doch Eis in den Adern haben statt Blut!«

»Rache. Rache ist in Mohsens Wertesystem eine festgefügte Größe, eine Verpflichtung.«

»Die ihn selbst zerstört. Hast du in seine Augen gesehen? Er ist kaputt, völlig fertig, total traumatisiert.«

Beide schwiegen eine Weile und sahen hilflos auf das Frühstück vor sich. Neben dem Rührei mit Speck waren grüne Salatblätter angerichtet, rote und gelbe Paprikastreifen, hübsch gekräuselte Sprossen … Das Essen wirkte aufdringlich optimistisch.

»Was hältst du von dieser ganzen Sache?«, wollte Anna wissen.

»Abgesehen von der schrecklichen Familientragödie der Hamidis? Ich weiß nicht. Ich finde immer noch keinen Zugang. Aber mir geht immer dieser Begriff von der Synchronizität der Ereignisse im Kopf herum.«

»Die liegt hier doch gar nicht vor. Mehr als dreißig Jahre und ein paar tausend Kilometer dazwischen.«

»Zwischen der Folter von Frau Hamidi und Uta Berger ja. Aber ich habe dir doch von dem verschwundenen Israeli erzählt. Abgetaucht, in Hamburg, im Januar. Ort und Zeit stimmen. David Rosenbaum, Interrogationsexperte beim Mossad. Irgendwas Mitte fünfzig. Deutschstämmig. Aus Hamburg.«

Anna sah Christian verwundert an. »Du glaubst doch nicht, dass es Rosenbaum war, der in den Siebzigern im Iran die Geschichten von den Hamburger Nutten erzählt hat?«

Ratlos zuckte Christian mit den Schultern: »Ich weiß zu wenig, viel zu wenig. Trotzdem, ich habe so ein nerviges Gefühl … dass ich vor einer Wand stehe, in der eine geheime Tür ist. Nur, verdammt noch mal, ich kann sie nicht sehen! Aber sie ist da, ich weiß es!«

Wach. Wieder wach. Schmerz. Überall Schmerz. Licht. Ein wenig. Grau. Hellgrau. Umrisse. Rascheln. Pfeift. Durst. Bewegen. Fuß. Metall. Augen auf. Blut spucken. Atmen. Da, Fuß. Metallring. Schelle. Stahl. Gefesselt. Kein Gefühl. Zwei Ratten. Nagen. Am Fuß. Weg! Weg! Huschen. Durch die Maden, über die Maden. Madenberge. Riesige Madenberge. Zwei Berge. Ein Meer. Wimmelt. Überall! Weiße und gelbe. Große und kleine. Fleisch. Matschig. Nass. Stinkt. Faul. Verwesung. Oh Gott! Oh Gott! Nicht. Nicht. Nicht ich. Ich. Schrei. Schrei einfach. Schrei.

Draußen auf einer bemoosten Lichtung, zwischen den Bäumen, zuckten drei äsende Rehe zusammen und sprangen mit eleganten Sätzen davon.

Nein, Schluss. Raus hier. Ich will das nicht. Nicht sterben. Reiß dich zusammen! Spuck das Blut aus. Hol Luft. Atme. Sieh dich um. Du kannst. Doch, du kannst! Die Tüte, nimm die Tüte. Beide Hände frei. Weg mit den Maden. Ratten. Schieb die Maden weg. Spuck die Kotze aus. Atme. Hol Luft. Durst. Müde. Ruh dich aus. Nur nicht sterben.

Die Rehe ästen inzwischen am Waldrand. Wo das Gras schön grün und fett war. Wo es sich in einem langen, breiten, gewundenen Streifen an den Wald heranrollte wie ein Teppich mit akkurat geschnittener Wolle. Lange würden die Rehe hier nicht mehr grasen. Es war eigentlich schon viel zu spät für den Teppich. Die Bunten würden kommen, die Rehe gehen. Und sie kamen. Gleich drei. In bunt-karierten Hosen, mit schwarz-weißen oder braun-weißen, flachen Schuhen, Polohemden mit warmen Jacken darüber, Schals, albernen Mützen und einem Schläger in der Hand. Der Caddy fuhr mit einem Wagen hinter ihnen her und transportierte die Golftaschen mit den Eisen und Hölzern.

Musst es tun. Musst. Sei froh. Tolle Tüte. Mama. Lippenstift. Mama. Quatsch. Lüge. Alles Lüge. Hänschen klein, ganz allein … Tu es. Musst einfach. Blut ausspucken. Atmen. Tut weh. Alles tut weh. Verscheuch die Ratten. Nimm das Messer. Nimm den Fuß. Nicht sterben. Nicht krepieren. Tu es, du Feigling. Hänschen klein, ganz allein, ging er in die Welt … Tut nicht weh, tut gar nicht weh, geht, geht, ist doch okay, spuck das Blut aus, atme, mach weiter, tut gar nicht weh … in die Welt hinein, Stock und Hut, noch mehr Blut …

»Liebes, es ist wirklich toll, dass du mich überredet hast, heute mit rauszukommen.«

»Ich habe dir doch gesagt, es regnet nicht.«

»Aber das Gras ist nass, ruiniert mir meine neuen Callaway-Schuhe. Und mit diesen hässlichen Mudskippern, wie du sie trägst, kann ich mich einfach nicht anfreunden. Ich kann übrigens nachher nicht mehr mit euch im Club essen, seid mir nicht böse. Und kein Wort zu meinem Mann, okay?«

Helles Lachen perlte über das Green. Der Caddy fuhr gelangweilt und in angemessener Entfernung mit dem Cart hinter den drei Damen her und bemühte sich, wegzuhören. Dabei war es nun wirklich ein offenes Geheimnis, dass diese schlecht geliftete Frau Von und Zu ihren Mann mit dem Golflehrer betrog. Der Caddy hasste seinen Job. Er hasste diese arroganten Geschäftsmänner, die sich in Jovialität gefielen, und ihre aufgeblasenen Weiber, die nie mit ihm ins Bett gehen würden, denn er war hässlich und auf der untersten sozialen Stufe des Golfclubs.

»Wo ist denn bloß dieser blöde Ball?«

»Du hast ihn dahinten hingeschlagen … wo eben noch die Rehe waren.«

»Was, so weit? Ein phantastischer Push-Slice.«

»Ja. Nur zu weit nach rechts abgedreht.«

Kriech weiter. Schaffst es. Raus aus den Maden. Weg von den Ratten. Spuck das Blut aus. Müde, so müde. Weiter. Nicht aufgeben. Weiter. Noch einen Zentimeter. Noch einen. Schmerzt. Alles. Durst. Nasses Laub. Laub lecken. Kühlt. Blut warm. Spuck. Kriech. Noch einen. Luft, ja, Luft. Licht! Noch einen. Nicht krepieren. Weiter. Müde. So müde. Weiter. Noch einen Zentimeter. Lacht. Da lacht es. Es lacht! Mama, bist du das?

»Kann ich nicht einen neuen Ball schlagen? Von hier aus?«

»Spinnst du? Das ist gegen die Regeln.«

»Seit wann hältst du dich an Regeln?«

»Sei nicht so faul. Lauf rüber und such den Ball.«

»Blödes Spiel.«

Gleich. Gleich bin ich da. Horizont. Licht. Hell. Luft. Noch einen Zentimeter. Nur noch einen.

Ein spitzer Schrei gellte über das Green. Die beiden Frauen sahen zu ihrer Freundin am Waldrand.

»Was hat sie denn?«

»Wahrscheinlich eine Feldmaus, die mit ihrem Golfball spielt.«

Am Waldrand die Frau schrie und schrie. Sie sah mit geweiteten Augen hinab auf den nackten, blutigen Klumpen Fleisch, der vor ihr lag, bewusstlos, wie von einem Tier gerissen, kaum noch als Mensch zu erkennen.

Christian zahlte gerade das Frühstück, das sie nicht angerührt hatten, als sein Handy klingelte. Es war Pete: »Beweg deinen Hintern nach Reinbek. Dort ist in der Notaufnahme ein schwer verletzter junger Mann eingeliefert worden, ihm fehlen ein paar Körperteile, vermutlich abgeschnitten. Volker ist schon unterwegs zu dem Golfplatz im Sachsenwald, wo er gefunden wurde, ich fahre ins Krankenhaus. Dort treffen wir uns. Soll dich Herd mitnehmen? Der holt gerade Karen ab.«

Christian warf einen schnellen Blick zu Anna: »Kannst du mich nach Reinbek fahren? Blödsinn, lass, das ist nichts für dich, sorry. – Pete, sag Herd, er soll mich in Winterhude …«

Anna nahm ihm den Hörer aus der Hand. »Pete, ich bringe Chris. Wir sind schon unterwegs.«

Eine gute Dreiviertelstunde später trafen sie im Reinbeker Krankenhaus ein, wo Pete vor dem Büro der Aufnahme mit einem Arzt sprach. Als Christian und Anna zu ihm stießen, informierte er sie hektisch: »Es ist Martin Abendroth. Er sieht zwar reichlich entstellt aus, aber ich habe ihn sofort erkannt. Seine Eltern sind benachrichtigt und unterwegs. Eberhard und Karen treffen sich mit Volker auf dem Golfplatz.«

»Hast du mit ihm gesprochen?« Christian folgte Pete mit großen Schritten Richtung Intensivstation. Anna hatte Mühe, ihnen zu folgen.

»Das wird schwerfallen. Aufgrund extrem hohen Blutverlustes ist er ohne Bewusstsein. Außerdem ist ihm der vordere Teil der Zunge abgeschnitten worden. Die linke Ferse wurde weggesäbelt. Ansonsten Brandverletzungen, weitere Schnittwunden, herausgebrochene Zähne und abgezogene Fingernägel. Bislang nicht näher definierte Verletzungen überall. Der Arzt meinte, Abendroth sähe aus wie achtzig Kilo rohes Hackfleisch. Ein Wunder, dass er noch lebt. In der rechten Hand hielt er ein Messer und in der linken einen Lippenstift. Beides so krampfhaft, dass man es ihm nicht hätte wegnehmen können, ohne die Finger zu brechen. Er braucht dringend eine Konserve oder zwei, hat aber eine extrem seltene Blutgruppe. Gottseidank sind seine Eltern unterwegs.«

Anna spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Ihr wurde schwindlig, Schweiß brach ihr aus, die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Vor der Intensivstation hielt sie an und öffnete ein Fenster. Nasskalte Luft strömte herein und half ihr, die Kontrolle zurückzubekommen. Mit einem Blick zu Christian bedeutete sie ihm, hier warten zu wollen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er. Sie nickte.

Es dauerte kaum zehn Minuten, bis Christian wieder bei ihr war.

»Wir können erst mal gar nichts tun. Pete wartet auf die Eltern, ich werde von der Streife vorm Krankenhaus zum Golfplatz gebracht. Du solltest hier bei Pete bleiben, du bist blass.«

»Nein, ich will bei dir sein.« Anna sah ihn so energisch an, dass Christian nachgab.

Der Streifenbeamte fuhr sie durch den trüben, aber immerhin trockenen Sonntagmittag zum Sachsenwald im Herzogtum Lauenburg, Schleswig Holsteins größtem zusammenhängendem Waldgebiet. Er parkte vor dem Vereinshaus des Golfclubs. Ein unter seiner Bräune bleich wirkender, älterer Club-Mitarbeiter karrte sie mit einem leise surrenden Elektro-Cart über den Achtzehn-Loch-Platz zum Waldrand. Dort war ein kleines Aufgebot an Polizisten versammelt, die den Fundort mit Band absperrten. Es gab zwar keine Leiche – noch nicht – aber der Polizeiobermeister aus dem nahegelegenen Aumühle hielt die Spurensicherung für geboten. Weniger für geboten hielt er Volkers und Herds Einmischung, die seit einer viertel Stunde die drei kaum zu beruhigenden Golferinnen und ihren Caddy befragten, die Martin gefunden hatten. Karen stand am Absperrband und ließ sich gleichgültig von einem jungen Beamten anflirten. Langsam schlenderte Anna zu ihr. Sie vermied es, auf die rostbraune, noch feucht glitzernde Stelle inmitten der Absperrung zu blicken. Auch wenn sie Martin nicht ausstehen konnte, ein solches Schicksal hatte sie ihm nicht gewünscht.

Als Christian sich auswies, schien der Polizeiobermeister dankbar, nun offiziell die Verantwortung für die verstörende Angelegenheit abgeben zu dürfen. Er schüttelte Christian die Hand: »Hab schon viel von Ihnen und Ihren Fähigkeiten gehört. Entschuldigen Sie, dass ich Ihre Mitarbeiter etwas unfreundlich behandelt habe, aber ihre Zuständigkeit war mir nicht ganz klar. Das hier ist gemeindefreies Gebiet.«

»Schon okay. Wo führt diese Blutspur hin?« Christian wies auf einen breiten Streifen, der aus dem Wald bis zu dem größeren rostroten Fleck auf dem Green führte.

»Wir hatten noch keine Zeit, der Sache nachzugehen. Die erste Sicherung hat uns voll in Beschlag genommen. Wir haben hier nicht so viel Personal. Brauchen wir normalerweise auch nicht. Scheußliche Sache. Was da wohl passiert ist? Ich habe den Jungen gar nicht gesehen, aber er soll ja entsetzlich zugerichtet sein.«

Christian gab keine Antwort.

»Aber wir haben penibel darauf geachtet, dass hier keiner die Spuren zertrampelt.«

»Das war sehr umsichtig von Ihnen, vielen Dank.«

Christian ging zu Karen und Anna. Er bat Anna, im Wagen auf ihn zu warten. Dann rief er Volker und Eberhard zu sich. Die beiden hatten inzwischen die ersten Aussagen und Personalien aufgenommen. Eberhard steckte die Notizen in seine vollgepackte Umhängetasche.

»Wollen wir doch mal sehen, wo Martin Abendroth herkam. Sieht nicht so aus, als hätte ihn jemand abgelegt. Der wurde oder hat sich selbst hierher geschleppt.« Christian wies auf die Blutspur und trat vorsichtig hinter das Absperrband. Ein einsamer Golfball lag etwa einen Meter neben dem Blutfleck auf dem Rasen. Die Augen aufmerksam auf den Boden und die umstehenden Pflanzen geheftet, folgten Christian, Volker, Eberhard und schließlich Karen in großem Abstand der Blutspur in den Wald hinein. Eberhard schoss ein Foto nach dem anderen, um für die angeforderte Spurensicherung den ersten Eindruck zu dokumentieren.

Nach etwa dreißig, vierzig Metern endete die Spur in einem Dickicht aus vertrocknetem Brombeer-Dornengestrüpp, meterhohen Brennnesseln und einem quer auf dem Boden liegenden verfaulten Baumstamm. An den Brennnesseln und am Baumstamm klebte eine Menge Blut. Vorsichtig ging Christian in die Hocke. Er zog sich Handschuhe über und arbeitete sich zu dem Gestrüpp vor.

»Herd, hierher.«

Eberhard bückte sich und ließ die Kamera surren.

»Es stinkt«, sagte er.

»Bestialisch«, kommentierte Volker knapp. »Und wir wissen, was es ist.«

Christian bog das Dickicht auseinander. Hinter dem Gestrüpp war der Eingang zu einem halb unterirdischen Bunker zu sehen. Die Öffnung, aus der rechts und links nackte, zerborstene Stahlstreben ragten, war zum großen Teil verschüttet. Nur noch ein etwa achtzig Zentimeter hohes Loch wurde vom Waldboden freigegeben. Man würde sich bücken und kriechen müssen, um hineinzugelangen.

»Warten wir auf die Spurensicherung?«, fragte Eberhard.

Christian sah sich genau um. Blutige Schleifspuren wanden sich durch das Gestrüpp und führten in den Bunker hinein.

»Nein«, meinte Christian. »Mach ein paar Fotos, dann gehen wir rein.«

Volker nahm eine Taschenlampe aus seiner Jacke und schaltete sie ein. Er beugte sich hinunter und leuchtete die Öffnung aus. Der Waldboden senkte sich sanft hinab. Von hier aus war nichts zu erkennen. Christian zwängte sich als Erster durch das Loch, die anderen folgten ihm. Ihnen war klar, dass sie dadurch die Spurenlage veränderten, aber wenn es hier etwas gab, dann würden sie es finden. Und zwar sofort.

Der Gestank im Bunker war unerträglich. Karen reichte ihre Dose mit Tigerbalsam herum, die sie immer bei sich trug. Alle schmierten sich davon unter die Nase, doch es half kaum. Langsam stellten sich ihre Augen auf das schummrige Licht ein. Zwei kleine, in der Form undefinierte, fast miteinander verschmelzende Hügel, waren im Inneren des Bunkers vor der gegenüberliegenden Wand zu erkennen. Sie schienen sich in ihren Konturen zu bewegen, wogten langsam auf und ab wie träge Wellen. Volker richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe darauf. Es waren wimmelnde Haufen von Maden, die zwei kaum noch als Körper erkenntliche Leichen in einem extrem fortgeschrittenen Verwesungsstadium fast vollständig bedeckten.

»Ich brauche einen forensischen Biologen«, sagte Karen. »Den besten.«

Martin Abendroth war bereits für die Bluttransfusion vorbereitet, als seine Eltern eintrafen. Als sie die vorgeschriebene sterile Kleidung und den Mundschutz übergestreift hatten, durften sie die Intensivstation betreten, wo Pete, ebenfalls in grüner Schutzkleidung, vor Martins Zimmer auf sie wartete. Beim Anblick ihres Sohnes brach Frau Abendroth zusammen, ohne auch nur den geringsten Laut von sich zu geben. Pete half einer Krankenschwester und dem Arzt, die füllige Frau auf eine Pritsche im Flur zu hieven, während Herr Abendroth wie gelähmt durch die Glasscheibe auf den dahinterliegenden Martin stierte, den Blick nicht von ihm abwenden konnte und gar nicht wahrzunehmen schien, was mit seiner Frau geschah. Die Krankenschwester brachte schnell etwas Wasser und einen scharfen Riechstoff, der Frau Abendroth in Sekundenschnelle wieder zurückholte. Sie erhob sich gegen den Rat des Arztes wacklig von der Pritsche und stellte sich neben ihren Mann. Zittrig suchte ihre Hand die seine. Er merkte es nicht. Seine Hand hing leblos an seiner Seite herunter.

Ohne Zeit für Sentimentalitäten zu verschwenden, aber mit möglichst beruhigendem Ton wandte sich der Arzt an die Mutter: »Wir kriegen ihn durch. Die Vitalfunktionen Ihres Sohnes sind den Umständen entsprechend schwach, aber überraschend stabil. Wir haben alles für eine Transfusion vorbereitet. Wie Sie wissen hat Ihr Sohn die äußerst seltene Blutgruppe AB negativ. Was ist Ihre?«

»A positiv«, antwortete Frau Abendroth, ohne den Blick von Martin abzuwenden, der immer noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Der Arzt sah verblüfft zum Vater. Auch Pete war überrascht. Frau Abendroth konnte mit dieser Blutgruppe unmöglich die leibliche Mutter von Martin sein.

»Ich stehe als Spender zur Verfügung. Ich habe A negativ«, sagte Herr Abendroth leise.

»Dann los. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Folgen Sie mir.« Der Arzt nahm Herrn Abendroth sanft beim Arm und zog ihn mit sich.

Pete blieb neben Frau Abendroth stehen und sah zu Martin. Eine Zeitlang schwiegen sie. Doch Pete hielt es nicht lange aus.

»Verzeihen Sie, Frau Abendroth. Aber … Sie sind nicht die leibliche Mutter von Martin, nicht wahr?«

»Ich habe ihn großgezogen. Ich bin seine Mutter.«

»Und Ihr Mann? Er ist der leibliche Vater, nehme ich an?«

Frau Abendroth wandte langsam den Blick von Martin ab und sah Pete zum ersten Mal an: »Der Onkel. Er ist der Onkel. Spielt das eine Rolle? Für uns nicht. Sagen Sie mir lieber, wer meinem Sohn das angetan hat. Und warum?«

Christian hatte inzwischen den Weg vom Golfplatz entlang der Blutspur wie auch das Gelände um den Bunker weiträumig absperren lassen. Die Spurensicherung, die Volker aus Hamburg angefordert hatte, durchkämmte mit seiner und Eberhards Unterstützung das Gebiet. Den Bunker würden die Männer erst betreten, wenn Christian ihn freigab. Karen wartete in Annas schweigender Gesellschaft am Waldrand auf Doktor Rainer Peters, eine Koryphäe der forensischen Biologie, der mit dem Hubschrauber aus Berlin eingeflogen wurde. Der Golfplatz bot ideale Landebedingungen, was der Betreiber des Clubs, der um die Unversehrtheit seiner Fairways fürchtete, allerdings erst eingesehen hatte, als Volker ihn mit eisenhartem Blick und zwei, drei deutlichen Worten dazu aufforderte. Sein Widerspruch war im Keim erstickt, da die Grüns zu seinem großen Entsetzen sowieso schon erheblich unter Beamten in schweren Stiefeln und dem rücksichtslosen Transport von Gerätschaften gelitten hatten.

Karen war wenig überrascht, als Christian, nachdem er versucht hatte, abseits der Absperrung ein nicht gegessenes Frühstück herauszuwürgen, wieder zurück in den Bunker kroch. Sie kannte seine Art, einen Tatort sinnlich auf sich wirken zu lassen, bevor er kühl-systematische Überlegungen anstellte. Keiner von den anderen jedoch hatte Lust verspürt, ein zweites Mal in diese Höhle des Grauens hinabzusteigen, und Christian hatte ihnen diesen Akt der Solidarität erspart, indem er größtmögliche Rücksicht auf die Spurenlage einforderte.

Er hatte sich eine zweite Ladung Tigerbalsam unter die Nase geschmiert und Karens Seidenschal vor den Mund gebunden. Jetzt, wo er wusste, was ihn da unten erwartete, traf ihn der Ammoniakgeruch nicht mehr ganz so hart. Er stand mit dem Rücken zum Eingang und leuchtete mit dem Kegel der Taschenlampe den Raum aus. Ratten huschten kreuz und quer und verschwanden in dunklen Ecken und Löchern. Der Bunker war etwa vierzig Quadratmeter groß, aber nicht mal ein Meter neunzig hoch, zu viel Erde war im Laufe der Jahre hereingeschwemmt worden und hatte den Betonboden aufgeschüttet. Christian konnte nur gebückt stehen. Die beiden Leichen lagen vor der Wand gegenüber, dorthin führte deutlich eine noch relativ frische Blutspur. Eine zweite, parallel dazu verlaufende Blutspur war etwas dünner und älter. Martin war also offensichtlich schon blutend hier hereingeschafft und inmitten dieser Madenberge abgelegt worden.

Christian näherte sich den Leichen und entdeckte hinter ihnen jeweils eine aufgerissene Plastiktüte. Eine dritte lag in der Mitte. Hinter der einen Leiche war winterliche Männerkleidung verstreut, daneben eine Armbanduhr, ein goldener Füllfederhalter und ein verrostetes Handy, aus der anderen Tüte war Frauenkleidung herausgezerrt worden und eine Handtasche, deren Inhalt ebenfalls verstreut im feuchten Dreck lag. Die mittlere Tüte war noch verpackt und enthielt nach Christians erstem Augenschein Martins Klamotten. Zehn Zentimeter daneben, säuberlich aufeinander, zwei Ausweise. Christian nahm sein Taschenmesser und öffnete damit den obersten Ausweis vorsichtig. Er war auf einen Mann namens Joachim Gerrig ausgestellt, geboren 1951 in Krefeld. Der zweite Ausweis war der der Frau. Sie hieß Elfriede Gerrig, 1960 in Flensburg geborene Bachmann. Christian ließ die Ausweise so liegen und suchte mit dem Schein seiner Taschenlampe die Umgebung ab. Zwischen den beiden Leichen ragte eine Stahlverstärkung aus der Wand hervor, an beiden Enden jedoch im Beton verankert. Daran war eine Fußschelle befestigt, ein Ring in der Stahlstrebe, der andere hing frei herunter, beide Ringe geschlossen. Unter den herabhängenden Fußschellen entdeckte Christian einen noch frischen, erheblichen Blutfleck, in dem große Stücke zerfetzten Gewebes schwammen. Als Christian klar wurde, was er da sah, wollte sein Magen sofort wieder rebellieren: Martin hatte, vermutlich in der Tüte des Mannes, das Messer gefunden, das er noch im Krankenhaus umklammert hielt, und sich damit Stück für Stück die linke Ferse weggesäbelt, um aus der Fußfessel zu entkommen.

Anna saß im Clubhaus und wärmte sich bei einer Tasse Tee auf. Sie war vom stundenlangen Warten vollkommen durchgefroren. Der Golfclub war auf polizeiliche Anweisung für die nächsten Tage geschlossen worden, der Pächter des Clubhauses jedoch hielt seinen Betrieb in reduzierter Besetzung aufrecht. Vermutlich hoffte er, seinen Verdienstausfall durch hungrige Polizisten auffangen zu können. Auch Anna war hungrig, hatte aber das Gefühl, nie wieder einen Bissen herunterbekommen zu können. Gesehen hatte sie nichts, weder Martin noch die Schrecknisse im Bunker, doch die knappen Informationen, die Karen ihr gegeben hatte, und das Getuschel der Clubangestellten zerrten genug an ihren Nerven.

Langsam senkte sich die Abenddämmerung herab, die fahle Novembersonne am Horizont besaß nicht mehr genug Kraft, sich gegen den Einbruch der Nacht zu stemmen. Anna sah aus dem Fenster und war in den Anblick der sich vor ihr ausbreitenden Hügel und Wiesen versunken, sanft geschwungen, teppichbedeckt, dahinter Bismarcks Sachsenwald, in durch den Sonnenuntergang ausgewaschenen Farben, nur noch Graustufen und ein einsetzender leichter Schnürlregen, der die Sicht nun vollständig zu verwischen drohte. Sie bemerkte nicht, wie Christian sich ihrem Tisch näherte.

»Tut mir leid, tut mir wirklich leid. Ich hätte mich nicht von dir herfahren lassen dürfen.«

»Schon okay. Du siehst furchtbar aus. Setz dich. Trink einen Tee.«

Christian schüttelte den Kopf. »Keine Zeit. Ich muss noch mal ins Krankenhaus. Karen ist jetzt mit dem Biologen im Bunker. Herd und Volker nehmen mich mit. Fahr du bitte nach Hause, das hättest du schon längst tun sollen.«

»Ich habe versucht, dich auf dem Handy zu erreichen.«

»Kein Netz im Bunker, tut mir leid.«

Anna lächelte: »Hör auf, dich zu entschuldigen. Ich habe den ganzen Nachmittag auf dich gewartet, jetzt wirst du mich nicht mehr los. Ich fahre mit nach Reinbek und kutschiere dich dann nach Hamburg zurück.«

Martin war zwar immer noch bewusstlos, aber sein Kreislauf hatte sich nach der Bluttransfusion ein wenig stabilisiert. Neben seinem Bett saß Frau Abendroth in einem unbequemen Sessel. Sie mühte sich redlich, die Augen aufzuhalten, der Arzt hatte ihr eine starke Beruhigungsspritze gegeben. Früher oder später würde sie einschlafen und das Pflegepersonal nicht mehr mit ihren ängstlichen Fragen von der Arbeit abhalten. Ihr Mann lag zwei Stationen weiter und erholte sich von seinem Blutverlust.

Christian sprach mit dem Arzt, bekam aber von ihm keine verlässliche Aussage, ob und wann mit Martin Abendroths Aufwachen zu rechnen sei. Der Körper sei zwar erst mal über den Berg, doch kein Mensch konnte wissen, welchen Schaden Martins Psyche genommen hatte und wie stark sein Überlebenswille war. Während Christians Gespräch mit dem Arzt stand Volker auf dem Flur, die ganze Zeit den Blick unverwandt durch die Glasscheibe auf den blutverkrusteten jungen Mann geworfen, der nur noch von Verbänden zusammengehalten schien.

»Ich bleibe über Nacht hier«, sagte er plötzlich zu Christian, und sein entschlossener Ton ließ weder Fragen noch Diskussionen zu.

Die anderen fuhren nach Hamburg zurück. Pete und Eberhard jeweils in ihren Dienstwagen, Christian mit Anna. Schon kurz hinter Reinbek bemerkte Christian, dass ihnen ein Wagen folgte. Nur mit einiger Mühe konnte er in dem inzwischen stärker gewordenen Regen die Autonummer entziffern. Er gab sie telefonisch an Daniel zur Überprüfung durch. Es dauerte keine zwei Minuten, dann hatte er den Namen.

»Fahr einfach in deinem ganz normalen Tempo weiter«, meinte er zu Anna, »es ist Lars. Lars Berger.«

»Oh, mein Gott, was macht der hier? Glaubst du …?«

»… dass er sich Martin geschnappt hat, um Uta zu rächen? Ich weiß nicht. Aber ich werde ihn fragen, darauf kannst du Gift nehmen.«

Lars folgte ihnen bis nach Hamburg in die Schanze zur Einsatzzentrale. Dort sprang Christian blitzschnell aus Annas Auto und sprintete zu Lars’ Wagen. Er riss die Fahrertür auf und zerrte Lars, noch bevor der wusste, wie ihm geschah, aus dem Auto. Anna sah zu, wie Christian Utas verdutzten Bruder am Oberarm ins Gebäude zog, dann legte sie den ersten Gang ein, wendete und fuhr nach Hause.