Auf einer Amerikakarte sah die Stadt klein aus. Sie war nur ein artiger kleiner Punkt an einer fadendünnen roten Straße, die über ein ansonsten leeres kleinfingerbreites Stück Papier führte. Aber aus der Nähe betrachtet und auf dem Erdboden hatte sie eine halbe Million Einwohner. Sie bedeckte eine Fläche von über zweihundertsechzig Quadratkilometern. Dort gab es fast hundertfünfzigtausend Haushalte. Sie besaß über achthundert Hektar Parkflächen. Sie gab pro Jahr eine halbe Milliarde Dollar aus und nahm fast ebenso viel durch Steuern, Gebühren und Abgaben ein. Sie war groß genug, um eine Polizei mit zwölfhundert Beamten zu haben.
Und sie war groß genug, dass das organisierte Verbrechen zweigeteilt war. Den Westen der Stadt kontrollierten die Ukrainer. Den Osten kontrollierten die Albaner. Die Demarkationslinie zwischen ihnen war so genau fixiert wie die Grenzen eines Wahlbezirks. Eigentlich folgte sie der Center Street, die von Nord nach Süd verlaufend die Stadt halbierte, aber sie verlief im Zickzack und hatte Aus- und Einbuchtungen, um einzelne Blocks oder Viertel ein- oder auszuschließen, je nachdem, welche historischen Gegebenheiten spezielle Regelungen rechtfertigten. Die Verhandlungen waren schwierig gewesen. Es hatte kleinere Revierkämpfe gegeben. Auch ein paar unangenehme Zwischenfälle. Aber zuletzt war doch eine Einigung erzielt worden, die sich zu bewähren schien. Beide Parteien gingen einander aus dem Weg. Wirkliche Kontakte zwischen ihnen hatten schon länger nicht mehr stattgefunden.
Bis zu diesem Maimorgen. Der ukrainische Boss stellte seinen Wagen in einem Parkhaus in der Center Street ab und ging nach Osten ins albanische Gebiet. Allein. Er war fünfzig Jahre alt und wie die Bronzestatue eines antiken Helden gebaut: groß, kräftig und muskulös. Er nannte sich Gregory, die für Amerikaner am leichtesten auszusprechende Version seines Familiennamens. Er war unbewaffnet und trug eine körperbetonte Hose und ein enges T-Shirt, um das zu beweisen. Nichts in den Taschen. Keine verdeckt getragene Waffe. Er bog mal links, mal rechts ab, drang tiefer ein und war zu einem abgelegenen Straßenblock unterwegs, in dem die Albaner seines Wissens ihre Geschäfte in einer Bürosuite hinter einem Holzlagerplatz betrieben.
Sobald er einen Fuß über die Linie setzte, wurde er auf dem ganzen Weg beschattet. Anrufe meldeten seine Position, sodass er bei der Ankunft von sechs schweigenden Gestalten erwartet wurde, die auf dem Gehsteig vor dem Tor des Holzlagerplatzes einen Halbkreis bildeten. Wie zur Verteidigung aufgestellte Schachfiguren. Er blieb stehen und breitete die Arme aus. Drehte sich langsam einmal um sich selbst. Enge Hose, enges T-Shirt. Keine Beulen. Keine Ausbuchtungen. Kein Messer. Keine Pistole. Unbewaffnet vor sechs Kerlen, die bestimmt bewaffnet waren. Trotzdem machte er sich keine Sorgen. Die Albaner würden ihn niemals unprovoziert angreifen. Das wusste er. Ein Gebot der Höflichkeit. Manieren waren Manieren.
Einer der sechs Kerle trat vor. Teils, um ihm den Weg zu versperren, teils, um zuzuhören.
Gregory sagte: »Ich muss Dino sprechen.«
Dino war der Boss der Alba ner.
Der Kerl fragte: »Warum ?«
»Ich habe Informationen für ihn.«
»Worüber ?«
»Über etwas, das er wissen muss.«
»Ich könnte dir seine Telefonnummer geben.«
»Diese Sache muss persönlich besprochen werden.«
»Unbedingt gleich jetzt ?«
»Ja, sofort.«
Der Kerl schwieg zunächst, dann wandte er sich ab und verschwand durch die Fußgängertür in dem großen stählernen Rolltor. Die anderen fünf rückten zusammen, um die Lücke zu schließen. Gregory wartete. Die fünf Kerle beobachteten ihn teils wachsam, teils fasziniert. Dies war eine einzigartige Gelegenheit. Das gab es nie wieder. Als sähe man ein Einhorn. Der Boss der anderen Seite. Hier vor ihnen. Frühere Verhandlungen hatten auf neutralem Boden, auf einem Golfplatz außerhalb der Stadt stattgefunden.
Gregory wartete. Fünf Minuten später kam der Mann durch die Fußgängertür zurück. Er ließ sie offen. Er machte eine einladende Handbewegung. Gregory setzte sich in Bewegung, zog den Kopf leicht ein und ging durch die Tür. Er roch frisches Kiefernholz und hörte das Kreischen einer Säge.
Der Kerl sagte: »Wir müssen kontrollieren, ob du verdrahtet bist.«
Gregory nickte und zog sein T-Shirt über den Kopf. Sein muskulöser, durchtrainierter Oberkörper war dicht behaart. Kein Draht. Der Mann tastete die Nähte seines T-Shirts ab und gab es zurück. Gregory zog es wieder an, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
Der Mann sagte: »Komm mit.«
Er führte Gregory tief in die mit Wellblech verkleidete Halle hinein. Die anderen fünf Männer folgten ihnen. Sie kamen zu einer schlichten Brandschutztür aus Stahl. Dahinter lag ein fensterloser Raum, der als Sitzungszimmer eingerichtet war. An einem Ende bildeten vier zusammengeschobene Laminattische eine Art Barriere. Auf dem mittleren Stuhl auf der anderen Seite saß Dino. Er war ein bis zwei Jahre jünger als Gregory, ein bis zwei Zoll kleiner, aber breiter. Er hatte schwarze Haare und auf der linken Gesichtshälfte eine Messernarbe, die über der Augenbraue kurz und vom Backenknochen bis zum Unterkiefer lang war – wie ein umgekehrtes Fragezeichen.
Der Kerl, der bisher geredet hatte, zog Gregory einen Stuhl gegenüber von Dino heraus, ging dann um die Tische herum und setzte sich rechts neben Dino wie die treue rechte Hand des Bosses. Die anderen nahmen zu zweit und zu dritt neben den beiden Platz. So hatte Gregory, auf der anderen Seite sitzend, sechs ausdruckslose Gesichter vor sich. Zunächst sprach niemand, bis Dino schließlich fragte: »Was verschafft mir das Vergnügen ?«
Manieren waren Manieren.
Gregory antwortete: »Die Stadt steht kurz davor, einen neuen Polizeichef zu bekommen.«
»Das wissen wir«, sagte Dino.
»Aus den eigenen Reihen.«
»Das wissen wir«, wiederholte Dino.
»Er hat angekündigt, energisch gegen uns beide vorzugehen.«
»Das wissen wir«, sagte Dino zum dritten Mal.
»Wir haben einen Spitzel in seinem Büro.«
Dino schwieg. Das hatte er nicht gewusst.
Gregory sagte: »Unser Spitzel hat auf einem in einer Schublade versteckten USB -Stick eine Geheimakte entdeckt.«
»Was für eine Akte ?«
»Sein Plan für das Vorgehen gegen uns.«
»Wie sieht der aus ?«
»Vorerst noch nicht sehr detailliert«, erwiderte Gregory. »Vieles ist nur skizziert. Aber das macht nichts, weil Tag für Tag, Woche für Woche weitere Puzzleteile dazukommen. Weil er permanent Insiderinformationen erhält.«
»Von wem ?«
»Nach langer Suche ist unser Spitzel auf eine weitere Akte gestoßen.«
»Was für eine weitere Akte ?«
»Mit einer Liste.«
»Was für eine Liste ?«
»Eine Liste der vertrauenswürdigsten Informanten des Police Departments«, sagte Gregory.
»Und ?«
»Auf der Liste haben vier Namen gestanden.«
»Und ?«
»Zwei davon waren meine eigenen Leute«, sagte Gregory.
Keiner sprach.
Zuletzt fragte Dino: »Was hast du mit ihnen gemacht ?«
»Das kannst du dir sicher vorstellen.«
Wieder sprach keiner.
Dann fragte Dino: »Warum erzählst du mir das ? Was hat das alles mit mir zu tun ?«
»Die beiden anderen Namen auf der Liste sind Männer von dir.«
Schweigen.
Gregory sagte: »Wir sind in der gleichen misslichen Lage.«
Dino fragte: »Wer sind die beiden ?«
Gregory nannte ihre Namen.
Dino fragte: »Warum erzählst du mir von ihnen ?«
»Weil wir eine Vereinbarung haben«, antwortete Gregory. »Ich bin ein Mann, der Wort hält.«
»Gehe ich unter, würdest du enorm profitieren. Die ganze Stadt wäre dein Revier.«
»Ich würde nur auf dem Papier profitieren«, entgegnete Gregory. »Mir ist plötzlich klar geworden, dass ich mit dem Status quo zufrieden sein sollte. Wo würde ich genug ehrliche Männer finden, um deine Unternehmen zu führen ? Ich kann offenbar nicht mal genug für meine eigenen auftreiben.«
»Ich anscheinend auch nicht.«
»Also verschieben wir unseren Streit auf morgen. Heute respektieren wir unsere Vereinbarung. Tut mir leid, dass ich dir diese peinliche Nachricht überbringen musste, aber meine eigene Lage ist mir auch peinlich. Das zählt hoffentlich. Wir befinden uns in derselben misslichen Lage.«
Dino nickte, sagte aber nichts.
Gregory sagte: »Ich habe eine Frage.«
»Dann raus damit«, sagte Dino.
»Hättest du mich gewarnt, wie ich dich gewarnt habe, wenn du einen Spitzel bei der Polizei hättest ?«
Dino schwieg lange nachdenklich.
Dann sagte er: »Ja, und aus denselben Gründen. Wir haben eine Vereinbarung. Und wenn Leute von uns beiden auf ihrer Liste stehen, sollte keiner von uns voreilig Dummheiten machen.«
Gregory nickte und stand auf.
Der Mann rechts neben Dino stand ebenfalls auf, um ihn nach draußen zu begleiten.
Dino fragte: »Sind wir jetzt sicher ?«
»Von meiner Seite aus schon«, antwortete Gregory. »Dafür kann ich garantieren. Seit heute Morgen sechs Uhr. Wir haben einen Kerl im städtischen Krematorium. Er schuldet uns Geld. Er war bereit, heute eine Frühschicht einzulegen.«
Dino nickte, ohne sich dazu zu äußern.
Gregory fragte: »Sind wir von eurer Seite aus sicher ?«
»Spätestens heute Abend«, sagte Dino. »Wir haben einen Kerl, der bei der Autoverwertung an der Schrottpresse arbeitet. Auch er schuldet uns Geld.«
Sein Vertrauter geleitete Gregory durch die große Halle zu der Fußgängertür in dem stählernen Rolltor und in den sonnigen Maimorgen hinaus.
Im selben Augenblick befand sich Jack Reacher siebzig Meilen weit entfernt in einem Greyhound-Bus auf der Interstate. Er saß im Bus hinten links auf dem Fensterplatz über einer Achse. Der Platz neben ihm war frei. Außer ihm fuhren weitere neunundzwanzig Personen mit. Die übliche Mischung. Nichts Auffälliges. Abgesehen von einer speziellen Situation, die gewisses Interesse weckte. Schräg gegenüber eine Reihe vor ihm hockte ein Kerl, der mit auf die Brust gesunkenem Kopf schlief. Er hatte graue Haare, die dringend geschnitten werden mussten, und schlaffe graue Haut, als hätte er viel Gewicht verloren. Sein Alter schätzte Reacher auf siebzig Jahre. Er trug eine kurze blaue Jacke mit Reißverschluss. Gewachste Baumwolle, vermutlich wasserfest. Aus einer Tasche ragte das Ende eines dicken braunen Umschlags.
Diese Art Umschlag kannte Reacher. Er hatte schon mehrmals welche gesehen. War ihr Geldautomat defekt, betrat er manchmal eine Bankfiliale und hob mit seiner Bankkarte direkt an der Kasse Geld ab. Fragte der Kassierer nach dem gewünschten Betrag, sagte er sich, wenn immer mehr Automaten defekt seien, sei es vielleicht besser, gleich eine ordentliche Summe abzuheben, und verlangte das Doppelte oder Dreifache des Betrags, den er sonst abgehoben hätte. Eine größere Summe. Daraufhin fragte der Kassierer, ob er einen Umschlag dafür wolle. Manchmal sagte Reacher nur aus Spaß Ja und bekam sein Geld in einem Umschlag, der mit dem identisch war, der dem Schlafenden aus der Tasche ragte. Farbe des Kraftpapiers, Größe, Seitenverhältnis, Dicke, Gewicht … alles identisch. Ein paar Hundert oder einige Tausend Dollar, je nach Stückelung der Scheine.
Reacher schien nicht der Einzige zu sein, der den Umschlag gesehen hatte. Auch dem Typen direkt vor ihm war er aufgefallen. Das war klar. Er interessierte sich sehr dafür. Er sah nach drüben und zu Boden, nach drüben und zu Boden, wieder und wieder. Er war ein schlaksiger junger Kerl mit fettigem Haar und einem schütteren Kinnbart. Kaum zwanzig, in einer Jeansjacke. Fast noch ein Jugendlicher. Er beobachtete, überlegte, plante. Leckte sich die Lippen.
Der Bus rollte weiter. Reacher schaute abwechselnd aus dem Fenster und beobachtete den Umschlag und dann wieder den Kerl, der den Umschlag beobachtete.
Gregory kam aus dem Parkhaus in der Center Street und fuhr auf sicheres ukrainisches Gebiet zurück. Sein Büro lag hinter einem Taxiunternehmen, schräg gegenüber einem Pfandhaus und neben einer Firma, die Gerichtskautionen stellte – drei Unternehmen, die ihm gehörten. Er parkte und ging hinein. Seine Topleute erwarteten ihn. Insgesamt vier, alle ihm und untereinander ähnlich. Nicht blutsverwandt, aber alle aus denselben Dörfern, Städten und Gefängnissen in der alten Heimat, was vermutlich noch besser war.
Alle sahen ihn an. Vier Gesichter, acht große Augen, aber nur eine Frage.
Die er beantwortete.
»Totaler Erfolg«, sagte er. »Dino hat mir die ganze Story abgenommen. Der Mann ist echt blöd, kann ich euch sagen. Ich hätte ihm die Brooklyn Bridge verkaufen können. Die beiden Kerle, die ich genannt habe, sind Geschichte. Er braucht mindestens einen Tag, um alles umzuorganisieren. Die Gelegenheit ist günstig, meine Freunde. Wir haben etwa vierundzwanzig Stunden Zeit. Ihre Flanke ist völlig ungeschützt.«
»Typisch Albaner«, sagte seine eigene rechte Hand.
»Wohin hast du unsere beiden geschickt ?«
»Auf die Bahamas. Dort gibt’s einen Kasinobetreiber, der uns Geld schuldet. Er hat ein nettes Hotel.«
Die grünen Hinweistafeln neben der Interstate kündigten eine Stadt an. Der erste Halt des Tages. Reacher beobachtete, wie der Kerl mit dem Kinnbart seinen Plan ausheckte. Eine Gleichung mit zwei Unbekannten. Würde der Kerl mit dem Geld hier aussteigen ? Oder auf jeden Fall aufwachen, wenn der Bus langsamer wurde, abbog und zuletzt hielt ?
Reacher wartete. Der Bus nahm die Ausfahrt. Dann führte eine vierspurige State Road nach Süden durch flaches, noch von Regen nasses Land weiter. Die Fahrbahn war eben. Die Reifen dröhnten. Der Typ mit dem Geld schlief weiter. Der Kerl mit dem Kinnbart beobachtete ihn weiter. Reacher vermutete, dass sein Plan feststand. Er fragte sich, wie gut dieser Plan sein mochte. Clever wäre es gewesen, den Umschlag ziemlich bald herauszuziehen, ihn gut zu verbergen und dann zu versuchen, den Bus umgehend nach dem Halten zu verlassen. Selbst wenn der Typ vor dem Busbahnhof aufwachte, würde er zunächst etwas verwirrt sein und vielleicht nicht mal merken, dass der Umschlag weg war. Nicht sofort. Und wieso sollte er dann gleich jemanden verdächtigen ? Er würde annehmen, der Umschlag sei ihm aus der Tasche gefallen. Er würde eine Minute lang seinen Sitz, den Raum darunter und den unter dem Vordersitz absuchen, unter den er den Umschlag im Schlaf mit einem Tritt befördert haben konnte. Erst danach würde er anfangen, sich fragend umzusehen. Inzwischen würde der Bus halten, damit Leute aus- und einsteigen konnten. Der Mittelgang wäre dann blockiert. Ein Kerl konnte leicht hinausschlüpfen, kein Problem. Das wäre der clevere Ablauf gewesen.
Wusste der Kerl das ? Reacher erfuhr es nie.
Der Typ mit dem Geld wachte zu früh auf.
Der Bus wurde langsamer, dann hielt er mit zischenden Bremsen an einer roten Ampel, und der Mann hob ruckartig den Kopf, blinzelte, klopfte auf seine Tasche und schob den Umschlag so tief hinein, dass niemand ihn mehr sehen konnte.
Reacher lehnte sich zurück.
Der Kerl mit dem Kinnbart lehnte sich zurück.
Der Bus fuhr weiter. Auf beiden Seiten erstreckten sich Felder, die im Frühjahr hellgrün gesprenkelt waren. Dann kamen die ersten Gewerbegrundstücke: Landmaschinen und einheimische Autos, alle auf riesigen Flächen mit Hunderten von Fahrzeugen unter Flaggen und Girlanden. Als Nächstes folgten Bürogebäude und ein riesiger Supermarkt am Stadtrand. Danach tauchte die eigentliche Stadt auf. Die vierspurige Straße wurde zweispurig, führte zu höheren Gebäuden. Aber der Bus bog links ab, machte einen höflichen Bogen um die teuren Viertel und erreichte eine halbe Meile weiter den Busbahnhof. Der erste Halt des Tages. Reacher blieb auf seinem Platz. Seine Fahrkarte galt bis zur Endstation.
Der Typ mit dem Geld stand auf.
Er nickte leicht vor sich hin, zog seine Hose hoch und seine Jacke herunter. Alles Dinge, die ein alter Mann macht, bevor er sich zum Aussteigen anschickt.
Er trat auf den Gang, schlurfte nach vorn. Ohne Gepäck. Nur er allein. Graues Haar, blaue Jacke, eine Tasche prall, eine Tasche leer.
Der Kerl mit dem Kinnbart hatte einen neuen Plan.
Der kam ihm ganz plötzlich. Reacher konnte praktisch sehen, wie sich die Zahnräder in seinem Hinterkopf drehten und ineinandergriffen. Schlussfolgerungen, die auf bestimmten Annahmen beruhten. Busbahnhöfe lagen nie in guten Stadtvierteln. Die Ausgänge würden auf schäbige Straßen mit den Rückseiten anderer Häuser, unbebauten Grundstücken, vielleicht Parkplätzen hinausführen. Dort draußen würde es schlecht einsehbare Ecken und leere Bürgersteige geben. Dann Anfang zwanzig gegen Anfang siebzig. Ein Schlag von hinten. Ein einfacher Straßenraub. Dergleichen kam ständig vor. Wie schwierig konnte das sein ?
Der Kerl mit dem Kinnbart sprang auf und hastete den Mittelgang entlang, folgte dem Mann mit dem Geld in zwei Metern Abstand.
Reacher stand auf und folgte den beiden.
Der Typ mit dem Geld wusste, wohin er wollte. Das war klar. Er brauchte sich nicht umzusehen, um sich zu orientieren. Er trat einfach auf die Straße hinaus, wandte sich nach Osten und ging los. Ohne Zögern. Aber auch ohne Tempo. Er schlurfte langsam dahin. Er bewegte sich ein wenig unsicher. Mit hängenden Schultern. Er wirkte alt und müde, ausgepowert und niedergeschlagen. Antriebslos. Er sah aus, als wäre er zwischen zwei gleich unattraktiven Orten unterwegs.
Der Kerl mit dem Kinnbart folgte ihm mit ungefähr sechs Schritten Abstand, blieb zurück, ging langsam, bremste sich bewusst. Was bestimmt Selbstbeherrschung verlangte. Er war schlaksig und langbeinig, Typ nervöses Rennpferd. Er hätte am liebsten gleich losgelegt. Aber das Terrain war ungeeignet. Zu flach und offen. Die Gehsteige waren breit. Vor ihnen lag eine Ampelkreuzung, an der drei Autos bei Rot standen. Drei Fahrer, die gelangweilt aus dem Fenster sahen. Vielleicht auch Mitfahrer. Alles potenzielle Zeugen. Lieber noch warten.
Der Mann mit dem Geld blieb am Randstein stehen. Wartete darauf, die Straße überqueren zu können. Wollte geradeaus weiter. Dort erhoben sich ältere Gebäude an engeren Straßen. Breiter als Gassen, aber im Schatten liegend und von alten drei- bis vierstöckigen Mauern gesäumt.
Besseres Terrain.
Die Ampel sprang um. Der Typ mit dem Geld schlurfte über die Straße, irgendwie resigniert. Der Kerl mit dem Kinnbart folgte sechs Schritte hinter ihm. Reacher verringerte den Abstand zwischen ihnen ein wenig. Er spürte, dass der entscheidende Augenblick bevorstand. Der Junge würde nicht ewig lange warten. Er würde nicht darauf setzen, dass das Bessere der Feind des Guten war. Zwei Blocks weiter würden ihm genügen.
Sie setzten ihren Weg fort, hintereinander her, mit weitem Abstand, ohne aufeinander zu achten. Der erste Block erschien gut geeignet, aber er war noch zu nahe an der Ampelkreuzung, deshalb blieb der Kerl mit dem Kinnbart zurück, bis der Typ mit dem Geld die Straße zum nächsten Block überquert hatte. Der einsam genug wirkte. Hier gab es ein paar mit Brettern verschalte Schaufenster, ein geschlossenes Fast-Food-Restaurant und ein Steuerberaterbüro mit schmutzigen Fensterscheiben.
Perfekt.
Zeit, sich zu entscheiden.
Reacher vermutete, dass der Junge hier zuschlagen würde. Und weil er sich davor vermutlich nervös umschauen würde, blieb er hinter der Ecke zur Querstraße außer Sicht, eine, zwei, drei Sekunden lang, bis der Junge Zeit gehabt hatte, seine Umgebung zu kontrollieren. Als Reacher dann hinter der Ecke hervorkam, war der Kerl mit dem Kinnbart schon dabei, die Lücke zu schließen, indem er den Abstand mit schnellen Schritten verringerte. Reacher rannte ungern, aber unter diesen Umständen musste es sein.
Er kam zu spät. Der Kerl mit dem Kinnbart stieß den Mann mit dem Geld um, der mit dumpfem Knall zu Boden ging. Mit einer fließenden Bewegung bückte der Kerl mit dem Kinnbart sich, griff ihm in die Tasche und zog den Geldumschlag heraus. Das war der Augenblick, in dem Reacher schwerfällig rennend ankam: ein Meter fünfundneunzig aus Knochen und Muskeln und hundertzehn Kilo bewegter Masse gegen einen schlaksigen Jungen, der sich gerade wieder aufrichtete. Reacher rammte ihn mit einer Schulter, sodass der Junge wie ein Crashtest-Dummy durch die Luft wirbelte und über den Gehsteig rutschend halb im Rinnstein landete. Dort blieb er bewegungslos liegen.
Reacher ging zu ihm und nahm ihm den Geldumschlag ab. Er war nicht zugeklebt. Das waren sie nie. Er sah hinein. Ein dickes Bündel Scheine, ein Hunderter obenauf, ein weiterer unten. Er blätterte das Bündel durch. Offenbar lauter Hunderter. Tausende und Abertausende Dollar. Vielleicht fünfzehn Mille. Oder sogar zwanzig.
Er blickte sich um. Der alte Mann hob den Kopf, sah sich in Panik um. Er hatte eine Platzwunde im Gesicht. Von dem Sturz. Oder seine Nase blutete. Reacher hielt den Geldumschlag hoch. Der alte Mann starrte ihn an. Wollte sich aufrappeln, konnte aber nicht.
Reacher trat auf ihn zu.
Er fragte: »Irgendwas gebrochen ?«
Der Mann fragte: »Was ist passiert ?«
»Können Sie sich bewegen ?«
»Ich glaube schon.«
»Okay, drehen Sie sich um.«
»Hier ?«
»Auf den Rücken«, erklärte Reacher. »Damit wir Sie aufsetzen können.«
»Was ist passiert ?«
»Erst muss ich Sie durchchecken. Vielleicht brauchen Sie einen Krankenwagen. Haben Sie ein Handy ?«
»Keinen Krankenwagen«, sagte der Typ. »Keinen Arzt.«
Er holte tief Luft, biss die Zähne zusammen, wand sich und strampelte wie ein Mensch, der einen Albtraum hat, bis er auf dem Rücken lag.
Er atmete aus.
Reacher fragte: »Wo tut’s weh ?«
»Überall.«
»Wie sonst auch oder mehr ?«
»Wie sonst auch, denk ich.«
»Also gut.«
Reacher legte eine Hand flach zwischen die Schulterblätter des Typs und klappte ihn bis in Sitzhaltung nach vorn, drehte ihn zur Seite und schob ihn an den Randstein, sodass seine Füße etwas tiefer auf der Straße lagen, was vermutlich bequemer war.
Der Mann sagte: »Meine Mom hat mir immer verboten, in der Gosse zu spielen.«
»Meine auch«, sagte Reacher. »Aber im Augenblick spielen wir nicht.«
Er gab ihm den Umschlag. Der Mann nahm ihn entgegen, betastete ihn und drückte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, wie um sich davon zu überzeugen, dass er real war. Reacher setzte sich neben ihn. Der Mann warf einen Blick in den Umschlag.
»Was ist passiert ?«, fragte er noch mal. Er wies mit dem Daumen über die Schulter. »Hat er mich überfallen ?«
Fünf, sechs Meter rechts von ihnen lag der Kerl mit dem Kinnbart bewegungslos mit dem Gesicht nach unten.
»Er ist hinter Ihnen aus dem Bus gestiegen«, sagte Reacher. »Er hat den Umschlag in Ihrer Tasche gesehen.«
»Waren Sie auch in dem Bus ?«
Reacher nickte. Er sagte: »Ich bin gleich hinter Ihnen aus dem Busbahnhof gekommen.«
Der Mann steckte den Umschlag wieder ein.
Er sagte: »Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr.«
»Gern geschehen«, entgegnete Reacher.
»Sie haben mir das Leben gerettet.«
»War mir ein Vergnügen.«
»Ich würde Ihnen gern eine Belohnung anbieten.«
»Nicht nötig.«
»Ich könnte’s ohnehin nicht«, erklärte der Mann. Er berührte seine Tasche. »Dies ist eine Zahlung, die ich leisten muss. Sie ist sehr wichtig. Dafür brauche ich jeden Cent. Das tut mir leid. Ich muss mich entschuldigen. Ich habe ein schlechtes Gewissen.«
»Unsinn«, sagte Reacher.
Fünf, sechs Meter von ihnen entfernt kam der Kerl mit dem Kinnbart auf Händen und Knien hoch.
Der Typ mit dem Geld sagte: »Keine Polizei.«
Der Junge sah sich um. Er war zittrig und fühlte sich benommen, aber er hatte schon einige Meter Vorsprung. Sollte er’s riskieren ?
Reacher fragte: »Warum keine Polizei ?«
»Die stellt Fragen, wenn sie einen Haufen Geld sieht.«
»Fragen, die Sie nicht beantworten möchten ?«
»Ich könnte’s ohnehin nicht«, sagte der Mann wieder.
Der Kerl mit dem Kinnbart ergriff die Flucht. Er rappelte sich auf und rannte weg: mit blauen Flecken, schwankend und unkoordiniert, aber trotzdem schnell. Reacher ließ ihn laufen. Er war für heute genug gerannt.
Der Mann mit dem Geld sagte: »Ich muss jetzt weiter.«
Er hatte Schürfwunden an Stirn und Wangenknochen und Blut an der Oberlippe – aus seiner Nase, die ziemlich angeschwollen wirkte.
»Wissen Sie bestimmt, dass Sie okay sind ?«, fragte Reacher.
»Das muss ich sein«, antwortete der Mann. »Mir bleibt nicht viel Zeit.«
»Zeigen Sie mir, ob Sie aufstehen können.«
Das konnte der Mann nicht. Er besaß keine Kraft mehr, oder seine Knie versagten, oder beides traf zu. Schwer zu sagen. Reacher half ihm auf die Beine. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihm gebeugt im Rinnstein. Er drehte sich mühsam zum Gehsteig um und stellte den Fuß auf den Randstein. Doch ihm fehlte die Kraft, diese fünfzehn Zentimeter zu überwinden. Sein rechtes Knie musste aufgeschürft und geschwollen sein. Der Stoff seiner Hose war genau an der Stelle zerrissen.
Reacher trat hinter ihn, legte ihm die Hände unter die Ellbogen und hob sie etwas an. Darauf machte der Mann einen schwerelosen Schritt wie ein Astronaut auf dem Mond.
Reacher fragte: »Können Sie gehen ?«
Der Mann versuchte es. Er schaffte ein paar Schritte, fuhr jedoch jedes Mal stöhnend zusammen, wenn er sein rechtes Knie belastete.
»Wie weit müssen Sie gehen ?«, fragte Reacher.
Der Mann blickte sich prüfend um. Stellte fest, wo er sich befand. »Noch drei Blocks«, antwortete er. »Auf der anderen Straßenseite.«
»Das bedeutet viele Randsteine«, meinte Reacher. »Mehrfach rauf und runter.«
»Beim Gehen wird’s besser.«
»Zeigen Sie’s mir«, forderte Reacher ihn auf.
Der Mann setzte sich in Bewegung, wie zuvor nach Osten, langsam schlurfend, mit leicht gespreizten Armen, als hätte er Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Das Zusammenzucken und das Stöhnen blieben, wurden eher noch schlimmer.
»Sie brauchen einen Stock«, sagte Reacher.
»Ich brauche einen Haufen Zeug«, erklärte der Mann.
Reacher trat rechts neben ihn, legte ihm eine Hand unter den Ellbogen und stützte ihn leicht. Mechanisch wirkte das wie ein Spazierstock oder eine Krücke. Eine nach oben gerichtete Kraft, die auf die Schulter des Typs einwirkte. Einfachste Physik.
»Versuchen Sie’s noch mal«, sagte Reacher.
»Sie können nicht mitkommen.«
»Warum nicht ?«
Der Mann antwortete: »Sie haben schon mehr als genug für mich getan.«
»Das ist nicht der wahre Grund. Sie hätten gesagt, das könnten Sie wirklich nicht von mir verlangen. Irgendwas höflich Vages. Aber was Sie gesagt haben, war viel nachdrücklicher. Sie haben gesagt, dass ich nicht mitkommen kann. Weshalb nicht ? Wohin wollen Sie ?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen.«
»Ohne mich kommen Sie nicht hin.«
Der Mann atmete ein und atmete aus, und seine Lippen bewegten sich, als übte er, was er sagen wollte. Er hob eine Hand und berührte die Schürfwunde an seiner Stirn, dann seine Wange, dann seine Nase. Dabei zuckte er jeweils leicht zusammen.
Er sagte: »Helfen Sie mir zum richtigen Block, und helfen Sie mir über die Straße. Machen Sie dann kehrt, und gehen Sie nach Hause. Das ist der größte Gefallen, den Sie mir tun könnten. Ganz im Ernst. Ich wäre Ihnen dankbar. Ich bin Ihnen schon jetzt dankbar. Das verstehen Sie hoffentlich.«
»Ich verstehe nichts«, entgegnete Reacher.
»Ich darf niemanden mitbringen.«
»Wer sagt das ?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen.«
»Nehmen wir mal an, ich wäre ohnehin in diese Richtung unterwegs. Sie könnten sich von mir trennen und hineingehen, und ich würde weitergehen.«
»Dann würden Sie mein Ziel kennen.«
»Das kenne ich bereits.«
»Wie können Sie das wissen ?«
Reacher kannte quer durch Amerika alle Arten von Städten im Osten und Westen, im Norden und Süden, in jeder möglichen Größe, jedem Alter und jedem Zustand. Er kannte ihren Alltag, ihre Rhythmen. Er kannte die in ihre Mauern eingebrannte Geschichte. Dieser Straßenblock war einer von hunderttausend ganz ähnlichen östlich des Mississippi. Großhandelskontore, ein paar Geschäfte für Alltagsbedarf, etwas Leichtindustrie, ein paar Anwälte und Spediteure, Immobilienmakler und Reisebüros. Vielleicht auch Wohnungen in den Hinterhöfen. Alles Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts geschäftig und voller Leben. Jetzt leer stehend und zerfallend und von der Zeit ausgehöhlt. Daher die mit Brettern vernagelten Schaufenster und das geschlossene Schnellrestaurant. Aber manche Etablissements hielten sich länger als andere. Und eine bestimmte Sorte hielt sich am längsten. Manche alten Gewohnheiten waren hartnäckig.
»Drei Blocks von hier und auf der anderen Straßenseite«, erklärte Reacher. »Eine Bar. Dorthin wollen Sie.«
Der Mann schwieg.
»Um eine Zahlung zu leisten«, sagte Reacher. »In einer Bar, vor dem Mittagessen. Folglich an irgendeinen hiesigen Kredithai. Das ist meine Vermutung. Fünfzehn oder zwanzig Mille. Sie stecken in Schwierigkeiten. Ich glaube, Sie haben Ihr Auto verkauft. Den besten Preis haben Sie auswärts erzielt. Vielleicht bei einem Sammler. Bei einem Mann wie Ihnen war’s vermutlich ein alter Wagen. Sie sind mit dem Auto hingefahren und mit dem Bus zurückgekommen. Nach einem Umweg über die Bank des Käufers. Der Kassierer hat Ihnen das Geld in einen Umschlag gesteckt.«
»Wer sind Sie ?«
»Eine Bar ist ein öffentlicher Ort. Ich habe manchmal Durst wie jeder andere. Vielleicht gibt es dort Kaffee. Ich setze mich an einen anderen Tisch. Sie können so tun, als würden Sie mich nicht kennen. Beim Hinausgehen werden Sie wieder Hilfe brauchen. Ihr Knie wird bestimmt steif.«
»Wer sind Sie ?«, wiederholte der Kerl.
»Ich heiße Jack Reacher. Ich war bei der Militärpolizei. Ich bin dafür ausgebildet, Dinge zu entdecken.«
»Es war ein Chevy Caprice. Das zweitürige Coupé. Alles original. Perfekter Zustand. Sehr niedrige Laufleistung.«
»Von Autos verstehe ich nichts.«
»Die alten Caprices sind ziemlich gesucht.«
»Wie viel haben Sie dafür bekommen ?«
»Zweiundzwanzigeinhalb.«
Reacher nickt. Etwas mehr, als er gedacht hatte. Druckfrische Scheine, eng gepackt.
Er fragte: »Das sind Sie alles schuldig ?«
»Bis zwölf Uhr«, entgegnete der Mann. »Danach wird ein Aufschlag fällig.«
»Dann sollten wir losgehen. Bestimmt brauchen wir ziemlich lange.«
»Ich danke Ihnen«, sagte der Mann. »Ich heiße Aaron Shevick. Ich bin Ihnen ewig zu Dank verpflichtet.«
»Die Freundlichkeit von Fremden«, sagte Reacher, »bewirkt, dass die Welt sich dreht. Darüber hat irgendein Kerl ein Theaterstück geschrieben.«
»Tennessee Williams«, sagte Shevick. »Endstation Sehnsucht.«
»Eine Straßenbahn könnten wir jetzt brauchen. Drei Blocks für einen Nickel wäre super.«
Sie machten sich auf den Weg. Reacher mit langsamen kleinen Schritten, Shevick humpelnd und schwankend, aus physikalischen Gründen ganz schief gehend.
Die Bar lag im Erdgeschoss eines schlichten alten Klinkerbaus in der Mitte des Blocks. Sie hatte eine verkratzte braune Tür in der Mitte und je zwei schmutzige Fenster auf beiden Seiten. Ihr irischer Name war in flackernder grüner Leuchtschrift über der Tür angebracht, und in den Fenstern machten irische Harfen, Kleeblätter und weitere staubige Symbole Reklame für Biermarken, von denen Reacher nur eine kannte. Er half Shevick vom Gehsteig herunter, über die Straße und über den anderen Gehsteig zum Eingang. Die Uhr in seinem Kopf zeigte zwanzig vor zwölf an.
»Ich gehe zuerst hinein«, sagte er. »Dann kommen Sie rein. Das ist besser als umgekehrt. Wir kennen uns nicht, okay ?«
»Wie lange ?«, fragte Shevick.
»Ein paar Minuten«, antwortete Reacher. »Sehen Sie zu, dass Sie wieder zu Atem kommen.«
»Okay.«
Reacher zog die Tür auf und trat ein. Die Beleuchtung war trübe, und die Bar roch nach verschüttetem Bier und einem Desinfektionsmittel. Der Raum war relativ groß. Nicht höhlenartig, aber auch nicht nur ein umgebauter Laden. Eine lange Reihe von Vierertischen säumte den Mittelgang bis zu der quadratischen Theke in der linken Ecke am Ende des Raums. Hinter der Theke stand ein fetter Kerl mit Viertagebart und einem Geschirrtuch wie ein Rangabzeichen über der Schulter. An einzelnen Tischen zählte Reacher vier Gäste, alle zusammengesunken und schweigsam, alle so alt und müde, ausgelaugt und niedergeschlagen wirkend wie Shevick. Zwei von ihnen hielten Bierflaschen mit langem Hals umklammert, die anderen halb leere Gläser, als fürchteten sie, sie könnten ihnen jeden Augenblick weggenommen werden.
Keiner von ihnen sah wie ein Kredithai aus. Vielleicht war der Barkeeper zuständig. Als Agent oder Vermittler oder Mittelsmann. Reacher trat an die Bar und verlangte Kaffee. Es gab keinen, was enttäuschend, aber nicht überraschend war. Der Tonfall des Kerls war höflich, doch Reacher vermutete, dass er das nicht gewesen wäre, hätte der Kerl nicht mit jemandem von seiner Statur und seinem Auftreten gesprochen. Ein Durchschnittsbürger hätte vermutlich eine sarkastische Antwort erhalten.
Statt Kaffee ließ Reacher sich eine Flasche einheimisches Bier geben: kalt und glitschig, voller kleiner Wassertropfen und überschäumend. Er ließ einen Dollar Trinkgeld auf der Theke liegen und ging zu dem nächsten freien Vierertisch, der zufällig in der rechten hinteren Ecke stand, was günstig war, weil er dort sitzen und den ganzen Raum überblicken konnte.
»Nicht dort !«, rief der Barkeeper.
»Warum nicht ?«, fragte Reacher.
»Reserviert.«
Die anderen vier Gäste schauten auf, schauten weg.
Reacher kam zurück und nahm seinen Dollar wieder mit. Kein Bitte, kein Danke, kein Trinkgeld. Er ging schräg durch den Raum zum ersten Tisch, der auf der anderen Seite unter einem schmutzigen Fenster stand. Die gleiche Anordnung, aber rückwärts gedacht. Er hatte eine Ecke hinter sich und konnte die gesamte Bar überblicken. Er nahm einen Schluck Bier, vor allem Schaum, und dann kam Shevick hereingehinkt. Er sah zu dem leeren Tisch in der hinteren rechten Ecke und blieb überrascht stehen. Er suchte den ganzen Raum ab. Sah den Barkeeper, die vier einsamen Gäste, Reacher und nochmals den Ecktisch an. Der Tisch blieb leer.
Shevick hinkte darauf zu, machte dann aber erneut halt. Er änderte seine Richtung, hinkte stattdessen zur Theke. Er sprach den Barkeeper an. Reacher war zu weit entfernt, um verstehen zu können, was er sagte, aber Shevick stellte bestimmt eine Frage. Vermutlich: Wo ist Soundso ? Dazu gehörte ein verständnisloser Blick zu dem leeren Ecktisch hinüber. Er schien eine sarkastische Antwort zu bekommen. Vielleicht: Was bin ich – ein Hellseher ? Shevick wich von der Theke ins Niemandsland zurück, in dem er überlegen konnte, was er als Nächstes tun sollte.
Die Uhr in Reachers Kopf zeigte 11.45 Uhr an.
Shevick hinkte zu dem leeren Tisch, blieb einen Augenblick unschlüssig davor stehen. Dann setzte er sich gegenüber der Ecke – wie auf einem Besucherstuhl vor einem Schreibtisch, nicht im Chefsessel dahinter. Er hockte kerzengerade auf der Stuhlkante und beobachtete halb zur Seite gedreht die Tür, als hielte er sich bereit, höflich aufzuspringen, wenn der Kerl, den er erwartete, eintraf.
Nur kam niemand herein. In der Bar blieb es still. Ein dankbares Schlucken, ein feuchtes Atmen, ein leises Quietschen, als der Barkeeper Gläser polierte. Shevick starrte die Tür an. Die Minuten vergingen.
Reacher stand auf und ging an die Theke. Zu der Stelle, die Shevicks Tisch am nächsten war. Er stützte die Ellbogen auf und machte ein erwartungsvolles Gesicht wie ein Typ, der etwas bestellen will. Der Barkeeper drehte ihm den Rücken zu und hatte plötzlich etwas sehr Wichtiges am anderen Ende der Theke zu tun. Logisch: kein Trinkgeld, kein Service. Damit hatte Reacher gerechnet. Es verschaffte ihm Gelegenheit, mit Shevick zu reden.
Er flüsterte: »Was ?«
»Er ist nicht da«, antwortete Shevick ebenso leise.
»Ist er sonst immer hier ?«
»Immer«, flüsterte Shevick. »Er sitzt den ganzen Tag an diesem Tisch.«
»Wie oft waren Sie schon hier ?«
»Dreimal.«
Der Barkeeper war noch immer weit weg beschäftigt.
Shevick flüsterte: »In fünf Minuten schulde ich ihnen dreiundzwanzigfünf, nicht zweiundzwanzigfünf.«
»Der Verspätungszuschlag ist tausend Dollar ?«
»Für jeden Tag.«
»Nicht Ihre Schuld«, flüsterte Reacher. »Schließlich ist der Kerl nicht gekommen.«
»Mit diesen Leuten kann man nicht vernünftig reden.«
Shevick starrte wieder die Tür an. Der Barkeeper beendete seine imaginäre Tätigkeit und watschelte diagonal durch den Raum hinter der Theke – mit feindselig hochgerecktem Kinn, als wäre er möglicherweise widerwillig bereit, eine Bestellung aufzunehmen.
Er baute sich vor Reacher auf und wartete.
Reacher fragte: »Was ?«
»Woll’n Sie was ?«, fragte der Mann.
»Jetzt nicht mehr. Ich wollte nur, dass Sie herkommen. Sie sehen aus, als könnten Sie Bewegung brauchen. Aber nun sind Sie da, und ich bin zufrieden. Trotzdem vielen Dank.«
Der Kerl starrte ihn an. Machte sich seine Situation klar. Vielleicht hatte er einen Baseballschläger oder einen Revolver unter der Theke, aber an den würde er nie herankommen. Reacher war nur eine Armlänge entfernt. Also würde er mit Worten reagieren müssen. Was mühsam werden könnte. So viel war klar. Letztlich rettete ihn sein Wandtelefon. Es klingelte hinter ihm. Mit einem altmodischen Klingelton. Ein gedämpft klagender Glockenton.
Der Barkeeper drehte sich um, nahm den Anruf entgegen. Das Telefon im klassischen Design hatte ein bis zum Fußboden reichendes langes Spiralkabel. Der Barkeeper hörte kurz zu, dann legte er auf. Er nickte zu Shevick am hinteren Ecktisch hinüber.
Er rief ihm zu: »Kommen Sie um sechs Uhr wieder.«
»Was ?«, fragte Shevick.
»Sie haben gehört, was ich gesagt habe.«
Der Barkeeper ging weg, weil eine weitere imaginäre Arbeit wartete.
Reacher setzte sich an Shevicks Tisch.
Shevick fragte: »Was soll das heißen, dass ich um sechs Uhr wiederkommen soll ?«
»Wahrscheinlich ist der Kerl, auf den Sie warten, aufgehalten worden. Er hat angerufen, damit Sie wissen, wo sie sind.«
»Aber das weiß ich nicht«, sagte Shevick. »Was ist mit meiner Frist bis zwölf Uhr ?«
»Nicht Ihre Schuld«, wiederholte Reacher. »Der Kerl hat die Übergabe verpasst, nicht Sie.«
»Er wird sagen, dass ich ihnen einen weiteren Tausender schulde.«
»Nicht, wenn er sich nicht blicken lässt. Was hier alle wissen. Der Barkeeper hat seinen Anruf entgegengenommen. Er ist Zeuge. Sie waren hier, aber der andere Typ nicht.«
»Ich kann keine weiteren tausend Dollar auftreiben«, erklärte Shevick. »Ich hab sie einfach nicht.«
»Die Verschiebung ist nicht Ihre Schuld. Folglich müssen Sie keine Konsequenzen befürchten. Sie waren mit einem gesetzlichen Zahlungsmittel in der Tasche zur rechten Zeit am rechten Ort. Die anderen sind nicht gekommen, um es in Empfang zu nehmen. Da greift Gewohnheitsrecht. Ein Anwalt könnte es Ihnen erklären.«
»Keine Anwälte«, sagte Shevick.
»Machen die Ihnen auch Angst ?«
»Ich kann mir keinen leisten. Vor allem nicht, wenn ich weitere tausend Dollar auftreiben muss.«
»Das müssen Sie nicht. Diese Leute können nicht beides haben. Sie waren rechtzeitig hier. Die anderen nicht.«
Der Barkeeper funkelte sie aus sicherer Entfernung an.
Die Uhr in Reachers Kopf sprang auf 12.00 Uhr.
Er sagte: »Wir können hier nicht sechs Stunden warten.«
»Meine Frau macht sich bestimmt Sorgen«, sagte Shevick. »Ich sollte heimgehen und sie beruhigen. Und abends wieder herkommen.«
»Wo wohnen Sie ?«
»Ungefähr eine Meile von hier.«
»Wenn Sie wollen, begleite ich Sie.«
Shevick zögerte einen langen Augenblick.
Dann sagte er: »Nein, das kann ich Ihnen wirklich nicht zumuten. Sie haben schon viel zu viel für mich getan.«
»Sehen Sie, das war höflich vage.«
»Ich meine, ich kann Sie nicht länger beanspruchen. Sie haben bestimmt Wichtigeres zu tun.«
»Etwas tun zu müssen, vermeide ich im Allgemeinen. Offenbar eine Reaktion auf den strikten Militärdienst, mit dem ich aufgewachsen bin. Daher habe ich kein bestimmtes Ziel und alle Zeit der Welt, um es zu erreichen. Ich bin gern bereit, eine Meile Umweg zu machen.«
»Nein, das kann ich nicht von Ihnen verlangen.«
»Dienst habe ich, wie schon gesagt, bei der Militärpolizei getan, wo wir gelernt haben, auf Dinge zu achten. Nicht nur auf physische Spuren, sondern auch auf das Verhalten von Menschen. Wie sie sich benehmen, woran sie glauben. Die menschliche Natur und so fort und so weiter. Das meiste davon war Bullshit, manches jedoch nützlich. Im Augenblick haben Sie einen Fußmarsch durch kein besonders gutes Viertel vor sich – mit über zwanzig Mille in der Tasche, die Ihnen Unbehagen verursachen, weil Sie das Geld nicht mehr haben sollten und es auf keinen Fall verlieren dürfen. Weil Sie heute schon mal überfallen worden sind, haben Sie Angst vor diesem Weg, auf dem ich Ihnen helfen könnte, und sind nach dem Überfall verletzt, wogegen ich auch etwas tun könnte, sodass Sie mich insgesamt anflehen müssten, Sie heimzubegleiten.«
Shevick schwieg.
»Aber Sie sind ein Gentleman«, fuhr Reacher fort. »Sie wollten mir eine Belohnung zahlen. Begleite ich Sie jetzt nach Hause und lerne Ihre Frau kennen, müssten Sie mich wenigstens zum Mittagessen einladen. Nur gibt es leider keins. Das ist Ihnen peinlich, aber das muss es nicht sein, denn ich weiß Bescheid. Sie haben Probleme mit einem Geldverleiher. Sie haben seit ein paar Monaten nicht mehr zu Mittag gegessen. Sie sehen aus, als hätten Sie eine Menge Gewicht verloren. Ihre Haut ist ganz schlaff. Also kaufen wir unterwegs ein paar Sandwiches. Von Onkel Sams Dime. Von dem kriege ich mein Geld. Ihre Steuerdollar. Nachmittags unterhalten wir uns, und dann begleite ich Sie wieder her. Sie können Ihren Kerl bezahlen, und ich gehe meiner Wege.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Shevick. »Aufrichtig.«
»Gern geschehen«, erwiderte Reacher. »Ehrlich.«
»Wohin sind Sie unterwegs ?«
»Irgendwohin. Das hängt oft vom Wetter ab. Ich hab’s gern warm. Dann brauche ich mir keinen Mantel zu kaufen.«
Der Barkeeper funkelte sie erneut aus der Ferne an.
»Kommen Sie, wir gehen«, sagte Reacher. »Hier drinnen könnte man glatt verdursten.«
Der Mann, der an dem Tisch in der hintersten Ecke der Bar auf Aaron Shevick hätte warten sollen, war ein vierzigjähriger Albaner namens Fisnik, einer der beiden Männer, die Gregory, der Boss der Ukrainer, an diesem Morgen erwähnt hatte. Anschließend hatte Dino ihn zu Hause angerufen und angewiesen, bei ihm vorbeizuschauen, bevor er seine Arbeit in der Bar aufnahm. Dinos Tonfall ließ nichts Böses ahnen. Er klang im Gegenteil freundlich munter, als ginge es um Lob und Anerkennung. Vielleicht mehr Verantwortung oder ein Bonus oder beides. Vielleicht eine Beförderung oder eine Sonderstellung innerhalb der Organisation.
Aber so lief es nicht. Fisnik betrat die Halle durch die Fußgängertür in dem Rolltor, roch frisches Holz, hörte das Kreischen einer Säge und kam gut gelaunt ins Büro. Eine Minute später war er mit Gewebeband an einen Stuhl gefesselt, das Holz roch plötzlich nach Särgen, und die Säge klang nach Folter. Sie begannen damit, dass sie seine Kniescheiben mit einem Akkuschrauber von De Walt durchbohrten. Dann machten sie weiter. Er erzählte ihnen nichts, weil er nichts zu erzählen hatte. Sein Schweigen wurde als stoisches Geständnis ausgelegt. Es brachte ihm widerstrebende Bewunderung für seine Standhaftigkeit ein, konnte jedoch den Bohrer nicht aufhalten. Er starb ungefähr zur selben Zeit, als Reacher und Shevick die Bar verließen.
Die erste Hälfte des eine Meile langen Weges führte durch ein Viertel mit alten Klinkergebäuden wie dem, in dem sich die Bar befand. Aber dann folgte ein Gebiet, das früher vermutlich Weideland gewesen war, bis nach dem Zweiten Weltkrieg die GI s heimkehrten. Damals waren hier in Reih und Glied Siedlungshäuser gebaut worden: alle einstöckig, manche als Split-Level-Häuser, je nach Baugelände. Siebzig Jahre später hatten alle mehrmals neue Dächer erhalten und waren längst nicht mehr identisch: Viele wiesen Anbauten oder Fassadenverkleidungen auf, manche hatten einen gepflegten Rasen, bei anderen sah der Garten verwildert aus. Aber ansonsten herrschte noch der Geist sparsamer Nachkriegsuniformität in der Siedlung vor – mit kleinen Grundstücken, engen Straßen, schmalen Gehsteigen und Kurvenradien, die den Fähigkeiten von Fords und Chevys, Studebakers und Plymouths aus dem Jahr 1948 entsprachen.
Reacher und Shevick machten unterwegs an der Imbisstheke einer Tankstelle halt. Sie kauften drei Sandwiches mit Geflügelsalat, drei Beutel Kartoffelchips und drei Dosen Limonade. Reacher trug die Tüte in der rechten Hand und stützte Shevick mit der linken. So bewegten sie sich humpelnd durch die halbe Siedlung. Shevicks Heim befand sich in einer Sackgasse mit einer beengten Wendefläche, die kaum breiter als die Straße selbst war. Sein Haus stand auf der linken Seite hinter einem weißen Staketenzaun, durch den frühblühende Rosen wuchsen. Das einstöckige Ranchhaus mit den Standardmaßen aller Häuser hier hatte ein Dach aus Bitumenpappe und eine weiße Holzschalung. Es wirkte gepflegt, aber doch ein wenig vernachlässigt. Die Fenster sahen staubig aus, und der Rasen war zu hoch.
Shevick und Reacher gingen einen Weg aus Betonplatten entlang, der kaum für beide nebeneinander Platz bot. Shevick zog seinen Schlüssel aus der Tasche, aber bevor er ihn ins Schloss stecken konnte, wurde die Haustür von innen geöffnet. Auf der Schwelle stand eine Frau, die Mrs. Shevick sein musste. Sie war grau, gebeugt und abgemagert wie er, ebenfalls ungefähr siebzig, aber sie trug den Kopf hoch, und ihr Blick war direkt. Ihr inneres Feuer brannte noch. Sie starrte ihren Mann an: Stirn aufgeschürft, Nase geschwollen, angetrocknetes Blut an der Lippe.
»Bin gestürzt«, erklärte Shevick. »Am Randstein gestolpert. Hab mir das Knie aufgeschlagen. Das ist das Schlimmste. Dieser Gentleman war so freundlich, mir zu helfen.«
Die Frau schaute kurz zu Reacher, verständnislos, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihren Mann.
Sie sagte: »Wir müssen dich erst mal säubern.«
Sie trat zur Seite, und Shevick betrat die Diele.
»Hast du …«, begann seine Frau, aber sie brachte den Satz nicht zu Ende. Vielleicht machte der Fremde sie verlegen. Sie hatte zweifellos fragen wollen, ob er den Kerl bezahlt habe. Aber manche Dinge mussten privat bleiben.
Shevick sagte: »Die Sache ist kompliziert.«
Reacher hielt die Sandwichtüte hoch.
»Wir haben den Lunch mitgebracht«, sagte er. »Wir dachten, unter den Umständen sei es schwierig, in den Laden zu gehen.«
Mrs. Shevick blickte ihn an, noch immer verständnislos. Und dann leicht gekränkt. Verlegen. Beschämt.
»Er weiß Bescheid, Maria«, sagte Shevick. »Er war Kriminalbeamter in der Army und hat mich sofort durchschaut.«
»Du hast’s ihm erzählt ?«
»Er hat’s selbst rausgekriegt. Dafür ist er ausgebildet.«
»Was ist kompliziert ?«, fragte sie. »Was ist passiert ? Wer hat dich so zugerichtet ? Etwa dieser Mann ?«
»Welcher Mann ?«
Sie sah Reacher an.
»Der Mann mit dem Lunch«, sagte sie. »Ist er einer von ihnen ?«
»Nein, nein«, entgegnete Shevick hastig. »Absolut nicht ! Er hat nichts mit ihnen zu tun.«
»Warum folgt er dir dann ? Oder eskortiert dich. Er kommt mir wie ein Gefängniswärter vor.«
»Als ich gestolpert und hingeknallt bin, war er zufällig in der Nähe und hat mir aufgeholfen. Als er gesehen hat, dass ich nicht allein gehen konnte, hat er mich begleitet. Er verfolgt mich nicht. Er eskortiert mich auch nicht. Er ist hier, weil ich hier bin. Du kannst nicht einen ohne den anderen haben. Nicht im Augenblick. Weil ich mir das Knie aufgeschlagen habe. So einfach ist das.«
»Vorhin hast du gesagt, die Sache sei kompliziert.«
»Wir sollten reingehen«, sagte Shevick.
Seine Frau zögerte kurz, dann drehte sie sich um und ging voraus. Drinnen sah das Haus ähnlich aus wie von außen. Alt, gut gepflegt, aber in letzter Zeit etwas vernachlässigt. Die Zimmer wirkten klein, die Flure eng. Sie betraten das Wohnzimmer, in dem es ein zweisitziges Sofa, zwei Sessel und einen Antennenanschluss, aber keinen Fernseher gab.
Mrs. Shevick fragte: »Was ist kompliziert ?«
»Fisnik war nicht da«, antwortete ihr Mann. »Normalerweise sitzt er den ganzen Tag in der Bar. Aber nicht heute. Er hat mir telefonisch bestellen lassen, dass ich um sechs Uhr wiederkommen soll.«
»Wo ist das Geld also jetzt ?«
»Ich hab’s noch immer.«
»Wo ?«
»In meiner Tasche.«
»Fisnik wird sagen, dass wir ihnen weitere tausend Dollar schulden.«
»Dieser Gentleman denkt, dass er das nicht kann.«
Die Frau schaute Reacher nochmals an, bevor sie sich an ihren Mann wandte: »Komm, wir müssen dich ein bisschen sauber machen.« Zu Reacher sagte sie: »Bitte legen Sie den Lunch in den Kühlschrank.«
Der sich als mehr oder weniger leer erwies. Reacher stand davor, zog die Tür auf und fand einen sauberen Innenraum mit nur wenigen Frischhalteboxen vor. Er legte die Tüte ins Mittelfach und ging ins Wohnzimmer zurück, um zu warten. An den Wänden hingen Familienfotos, die wie in einer Zeitschrift in kleinen Gruppen angeordnet waren. Die ältesten Fotos waren leicht verfärbte Schwarz-Weiß-Bilder in Zierrahmen. Das erste zeigte einen GI , der mit seiner jungen Frau vor diesem Haus stand. Der Mann trug eine frisch gebügelte Khakiuniform. Ein Gefreiter. Vermutlich zu jung, um im Zweiten Weltkrieg gekämpft zu haben. Vermutlich als Besatzer in Deutschland oder Japan stationiert. Vermutlich im Koreakrieg wieder eingezogen. Die Frau hatte ein wadenlanges Kleid mit Blumenmuster an. Beide lächelten. Die weiße Holzverkleidung hinter ihnen leuchtete in der Sonne. Der Garten vor dem kleinen Haus war noch nicht angelegt.
Auf dem zweiten Foto standen sie auf Rasen und hatten ein Baby in den Armen. Das gleiche Lächeln, dieselbe Holzverkleidung. Statt Uniform trug der junge Vater eine Hose mit hoher Taille aus einer neuen Wunderfaser und ein kurzärmeliges weißes Hemd. Die junge Mutter hatte das Blumenkleid gegen einen dünnen Pullover und eine Dreiviertelhose vertauscht. Das Baby war in eine Wolldecke gewickelt, die nur unscharf sein blasses Gesicht sehen ließ.
Die dritte Aufnahme zeigte diese drei schätzungsweise acht Jahre später. Hinter ihnen verdeckte wilder Wein Teile der Holzverkleidung. Das Gras unter ihren Füßen war dicht, der Mann weniger knochig, etwas stärker um die Taille, etwas breiter um die Schultern. Sein Haar war mit Brillantine zurückgekämmt und nicht mehr so voll. Die Frau wirkte hübscher als früher, aber irgendwie müde wie die meisten Frauen auf Fotos aus den fünfziger Jahren.
Bei dem vor ihnen stehenden achtjährigen Mädchen handelte es sich um Maria Shevick. Ihre Gesichtsform und der offene Blick waren unverkennbar. Sie war erwachsen, ihre Eltern waren alt geworden und gestorben, sie hatte dieses Haus geerbt. Das vermutete Reacher. Dass er recht hatte, bewies die nächste Gruppe von Fotos. Jetzt in verblassten Kodakfarben, aber am selben Ort. Auf dem Rasen vor der weißen Holzverkleidung. Eine Art Tradition. Die erste Aufnahme zeigte Mrs. Shevick mit ungefähr zwanzig Jahren neben einem gerade aufgerichteten und schlanken Mr. Shevick, ebenfalls um die zwanzig. Ihre Gesichter waren schmal und jung und von Schatten konturiert, ihr Lächeln wirkte breit und glücklich.
Auf dem zweiten Foto dieser Reihe hielt dasselbe Paar ein Baby in den Armen. Es wurde von links nach rechts und in der Reihe darunter sprunghaft größer, lernte laufen, war dann ein Mädchen von vier, sechs und acht Jahren, während die Shevicks zu engen Tanktops, Puffärmeln und Schlaghosen Frisuren aus den siebziger Jahren trugen.
Die nächste Reihe zeigte, wie dieses Mädchen ein Teenager, eine Highschool-Absolventin und eine junge Frau wurde. Dann eine ältere Frau. Inzwischen musste sie fast fünfzig sein, rechnete Reacher sich aus. Wie ihre Generation wohl hieß ? Sie musste irgendeinen Namen haben. Heutzutage hatte jede einen.
»Ah, da sind Sie«, sagte Mrs. Shevick hinter ihm.
»Ich habe Ihre Fotos bewundert.«
»Ja«, sagte sie.
»Sie haben eine Tochter.«
»Ja«, sagte sie wieder.
Dann kam Shevick herein. Er hatte kein Blut mehr an der Oberlippe. Seine Schürfwunden glänzten von irgendeiner gelben Salbe. Sein Haar war frisch gebürstet.
Er sagte: »Kommt, wir wollen essen.«
In der Küche stand ein kleiner Tisch mit Aluminiumkanten und einer Laminatplatte, durch jahrzehntelanges Wischen trüb und stumpf, aber einst hell und glänzend. Dazu passend gab es drei Kunststoffstühle. Alles vermutlich erworben, als Maria Shevick ein kleines Mädchen gewesen war. Hier hatte sie gelernt, wie Erwachsene zu essen. Viele Jahre später bat sie jetzt Reacher und ihren Mann, sich zu setzen, legte die Sandwiches auf Porzellanteller, kippte die Chips in Schalen, goss die Limonaden in schmale hohe Gläser und legte Stoffservietten auf den Tisch. Sie nahm ebenfalls Platz und sah Reacher an.
»Sie müssen uns für sehr töricht halten«, sagte sie, »dass wir in diese Situation geraten sind.«
»Eigentlich nicht«, entgegnete Reacher. »Eher für glücklos. Oder für sehr verzweifelt. Offensichtlich hat diese Situation Ihre letzten Reserven aufgezehrt. Sie haben Ihren Fernseher verkauft. Sicher auch vieles andere. Ich vermute, dass Sie eine Hypothek auf Ihr Haus aufgenommen haben. Aber das war alles nicht genug. Sie mussten eine weitere Geldquelle erschließen.«
»Ja«, sagte sie.
»Dafür hatten Sie bestimmt gute Gründe.«
»Ja«, wiederholte sie.
Danach schwieg sie. Ihr Mann und sie aßen langsam, einen kleinen Bissen nach dem anderen, zwei, drei Chips, einen Schluck Limonade. Als wollten sie diesen neuen Genuss auskosten. Oder weil sie fürchteten, sie könnten sich den Magen verderben. In der Küche herrschte Stille. Es gab keine vorbeifahrenden Autos, keinen Straßenlärm. Die Wände waren teils gekachelt, teils mit einer Blumentapete bedeckt, die an das Kleid von Mrs. Shevicks Mutter auf dem ersten Foto erinnerte. Der Boden bestand aus Linoleum, in dem Stilettoabsätze Vertiefungen hinterlassen hatten, die im Lauf der Zeit fast wieder eingeebnet worden waren. Herd und Kühlschrank hatte man erneuert; sie schienen aus der Zeit von Nixons Präsidentschaft zu stammen. Doch die Arbeitsplatten waren vermutlich noch original. Sie bestanden aus blassgelbem Laminat mit feinen Wellenlinien, die an ein EKG erinnerten.
Mrs. Shevick aß ihr Sandwich auf. Sie trank ihre Limonade aus. Sie nahm die letzten kleinen Stücke Kartoffelchips mit einem feuchten Zeigefinger auf. Sie tupfte ihre Lippen mit der Serviette ab. Sie sah zu Reacher hinüber.
Sie sagte: »Danke.«
Er sagte: »Bitte sehr.«
»Sie denken, dass Fisnik keine weiteren tausend Dollar verlangen kann.«
»Ich glaube, dass er kein Recht dazu hat. Ob er’s tut, steht auf einem anderen Blatt.«
»Ich denke, wir werden zahlen müssen.«
»Ich bin gern bereit, das mit dem Mann zu diskutieren. In Ihrem Auftrag. Wenn Sie möchten. Ich könnte verschiedene Argumente vorbringen.«
»Und Sie wären bestimmt überzeugend. Aber mein Mann hat mir erzählt, dass Sie sich nur auf der Durchreise befinden. Morgen sind Sie nicht mehr hier. Wir aber schon. Zahlen ist vermutlich sicherer.«
Aaron Shevick sagte: »Wir haben das Geld nicht.«
Seine Frau gab keine Antwort. Sie spielte mit den Ringen an ihrem Finger. Sicher unbewusst. Sie hatte einen schmalen goldenen Ehering und einen kleinen Brillantring. Reacher konnte sich vorstellen, dass sie ans Leihhaus dachte. Vermutlich in einer schäbigen Straße in der Nähe des Busbahnhofs. Aber für tausend Bucks würde sie mehr als einen Ehering und einen kleinen Solitär brauchen. Vielleicht hatte sie noch etwas Schmuck von ihrer Mutter. In einer Kommodenschublade mit weiteren kleinen Erbstücken von Onkeln und Tanten: Broschen und Nadeln, Uhrketten und Manschettenknöpfe.
Sie sagte: »Diese Brücke überqueren wir, wenn wir sie erreichen. Vielleicht ist er vernünftig. Vielleicht verlangt er keinen Aufschlag.«
Ihr Mann sagte: »Das sind keine vernünftigen Leute.«
Reacher fragte ihn: »Haben Sie dafür direkte Beweise ?«
»Nur indirekte«, antwortete Shevick. »Ganz zu Anfang hat Fisnik mir die verschiedenen Strafen erläutert. Er hatte Fotos und ein kurzes Video auf seinem Handy. Ich musste es mir ansehen. Daher haben wir uns mit keiner Zahlung verspätet. Jedenfalls bis heute nicht.«
»Haben Sie je daran gedacht, zur Polizei zu gehen ?«
»Natürlich. Aber wir haben den Vertrag freiwillig geschlossen. Wir haben uns Geld von ihnen geliehen. Wir haben ihre Bedingungen akzeptiert. Ich hatte auf Fisniks Handy gesehen, welche Strafen es gibt. Insgesamt war uns das zu riskant.«
»Bestimmt klug«, sagte Reacher, obwohl er es nicht so meinte. Er rechnete sich aus, dass Fisnik statt Vertragstreue einen Kinnhaken brauchte. Und er musste vielleicht mit dem Gesicht auf seinen Ecktisch geknallt werden. Andererseits war Reacher weder siebzig noch gebrechlich noch halb verhungert. Bestimmt klug.
Mrs. Shevick sagte: »Wo wir stehen, wissen wir um sechs Uhr.«
Den ganzen Nachmittag lang schnitten sie dieses Thema nicht wieder an. Das war eine Art unausgesprochener Vereinbarung. Stattdessen machten sie höflich Konversation, indem sie Biografien austauschten. Mrs. Shevick hatte das Haus tatsächlich von ihren Eltern geerbt, die es damals unbesehen über die GI Bill gekauft hatten, weil auch sie sich dem Nachkriegsdrang zur Mittelschicht nicht entziehen konnten. Wie der Rasen auf dem Foto zeigte, war sie selbst ein Jahr später geboren worden und hier groß geworden; dann waren ihre Eltern gestorben, und sie hatte im selben Jahr ihren späteren Mann kennengelernt. Er war Feinmechaniker, hoch spezialisiert, in der Nähe aufgewachsen. Ein wichtiger Beruf, sodass man ihn nicht einzog und nach Vietnam schickte. Genau wie ihre Eltern zuvor bekamen sie binnen eines Jahres eine Tochter, die hier in zweiter Generation aufwuchs. Sie war gut in der Schule, bekam einen ordentlichen Job. Nie verheiratet, also leider keine Enkel. Reacher fiel auf, wie ihr Tonfall sich veränderte, je näher die Story der Gegenwart kam. Ihre Stimme klang ausdrucksloser, gepresster, als gäbe es Dinge, die nicht ausgesprochen werden durften.
Die Uhr in seinem Kopf sprang auf 17.00 Uhr um. Eine Meile bedeutete eine Viertelstunde für ihn und zwanzig Minuten für die meisten Leute, aber bei Shevicks Tempo würden sie fast eine Stunde brauchen.
»Wir müssen los«, sagte er.
Reacher half Shevick wieder vom Randstein hinunter, über die Straße, den Randstein hinauf und über den Gehsteig bis zum Eingang der Bar. Auch diesmal ging er als Erster hinein. Aus demselben Grund wie zuvor. Ein Unbekannter, der unmittelbar vor der Zielperson hereinkam, wurde unbewusst zehnmal weniger mit ihr in Verbindung gebracht als ein Unbekannter, der gleich nach ihr eintrat. Das lag in der menschlichen Natur. Überwiegend Bullshit, aber ab und zu war doch ein Treffer dabei.
Hinter der Theke stand derselbe fette Kerl. Außer ihm waren jetzt neun Gäste anwesend. Zwei Paare und fünf Einzelgänger, die allein an separaten Tischen saßen. Einer von ihnen hatte schon vor sechs Stunden dagehockt. Zu den einzelnen Gästen gehörte auch eine Frau von etwa achtzig Jahren. Sie hielt ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit zwischen den Händen. Vermutlich kein Wasser.
An dem Vierertisch in der hinteren Ecke saß ein Mann.
Eine große, massige Gestalt, ungefähr vierzig und so blass, dass sein Gesicht im Halbdunkel zu leuchten schien. Er hatte helle Augen und bleiche Augenbrauen. Sein maisgelbes Haar war so kurz geschnitten, dass es glitzerte. Seine dicken weißen Handgelenke ruhten auf der Tischkante, und weiße Pranken lagen auf einem großen schwarzen Kassenbuch. Zu einem schwarzen Anzug trug er ein weißes Oberhemd und eine schwarze Seidenkrawatte. Unter dem Kragen lugte eine Tätowierung hervor. Irgendein Wort in unbekannter Schrift. Vermutlich Kyrillisch.
Reacher setzte sich, ohne etwas zu bestellen. Eine Minute später kam Shevick hereingehinkt. Er sah wieder zu dem Tisch in der hinteren rechten Ecke. Blieb wieder überrascht stehen. Dann ließ er sich an dem freien Vierertisch neben Reachers Tisch nieder.
Er flüsterte: »Das ist nicht Fisnik.«
»Bestimmt nicht ?«
»Fisnik hat einen dunklen Teint und schwarzes Haar.«
»Haben Sie diesen Kerl schon mal gesehen ?«
»Nie. Immer nur Fisnik.«
»Vielleicht ist er indisponiert und hat deshalb angerufen. Er musste einen Ersatzmann schicken, was nicht vor sechs Uhr möglich war.«
»Vielleicht.«
Reacher sagte nichts.
»Was ?«, flüsterte Shevick.
»Sie haben den Mann wirklich noch nie gesehen ?«
»Warum ?«
»Weil er Sie dann auch nicht kennt. Er hat nur einen Eintrag in seinem Buch.«
»Worauf wollen Sie hinaus ?«
»Ich könnte Sie sein. Ich könnte Sie vertreten, den Kerl auszahlen und alle Details regeln.«
»Falls er mehr verlangt, meinen Sie ?«
»Ich könnte versuchen, ihm das auszureden. Die meisten Leute tun letztlich doch das Richtige. Das ist meine Erfahrung.«
Diesmal schwieg Shevick.
»Eines muss ich allerdings wissen«, sagte Reacher. »Sonst stehe ich blöd da.«
»Was denn ?«
»Ist damit Schluss ? Zweiundzwanzigeinhalb, und Sie sind schuldenfrei ?«
»Ja das sind wir ihnen schuldig.«
»Her mit dem Umschlag«, sagte Reacher.
»Das ist verrückt !«
»Sie hatten einen anstrengenden Tag. Ruhen Sie sich jetzt aus.«
»Was Maria gesagt hat, stimmt. Sie sind morgen nicht mehr hier.«
»Ich hinterlasse Ihnen kein Problem. Der Kerl stimmt zu oder eben nicht. Tut er’s nicht, sind Sie auch nicht schlimmer dran. Aber das müssen Sie entscheiden. Mir ist beides recht. Ich suche keinen Streit. Ein ruhiges Leben ist mir lieber. Aber ich könnte Ihnen den Weg nach dort hinten abnehmen. Ihr Knie braucht Schonung, denke ich.«
Shevick saß lange stumm und unbeweglich da. Dann gab er Reacher den Umschlag. Er zog ihn aus der Tasche und schob ihn verstohlen über den Tisch. Reacher griff danach. Dick und prall. Schwer. Er steckte ihn ein.
»Warten Sie hier«, sagte er.
Er stand auf und machte sich auf den Weg zur rechten hinteren Ecke. Er hielt sich für einen im 20. Jahrhundert geborenen und im 21. Jahrhundert lebenden modernen Menschen, aber er wusste auch, dass es in seinem Kopf eine Verbindung zur primitiven Vergangenheit des Menschen gab, in der über Hunderttausende von Jahren hinweg jedes Lebewesen ein Räuber oder Rivale hatte sein können, der augenblicklich richtig eingeschätzt und beurteilt werden musste. Wer war der Überlegene ? Wer würde sich unterwerfen müssen ?
Was da an dem Ecktisch saß, würde eine Herausforderung sein. Falls es dazu kam. Falls die Diskussion ins Tätliche abglitt. Keine kolossale Herausforderung. Irgendwo zwischen groß und klein. Der Mann würde technisch schlechter sein, wenn er nicht auch in der U. S. Army gedient hatte, die die schmutzigsten Nahkampftricks der Welt lehrte, auch wenn sie das nie zugeben würde. Andererseits war der Kerl groß, etliche Jahre jünger und bestimmt kein heuriger Hase. Er sah nicht aus, als würde er sich leicht einschüchtern lassen. Er sah aus, als wäre er’s gewöhnt, Sieger zu bleiben. Der atavistische Teil von Reachers Gehirn registrierte das alles und löste Alarmstufe Gelb aus, aber er ging trotzdem weiter. Der Kerl hinter dem Tisch beobachtete ihn seinerseits, um zu einer Beurteilung zu gelangen. Wer war der Überlegene ? Er wirkte ziemlich zuversichtlich. Als schätzte er seine Chancen gut ein.
Reacher nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem sechs Stunden zuvor Shevick gesessen hatte. Auf dem Besucherstuhl. Aus der Nähe betrachtet schien der Kerl im Chefsessel doch etwas älter zu sein. Eher Mitte vierzig. In leitender Position. Ein Mann von Substanz, aber der gewichtige Eindruck litt unter seiner geisterhaften Blässe. Die war das Auffälligste an ihm. Und seine Tätowierung, die amateurhaft aussah. Gefängnisarbeit. Vermutlich aus keinem amerikanischen Gefängnis.
Der Kerl griff nach dem Kassenbuch, schlug es auf und stellte es vor sich auf die Tischplatte. Wie ein Kartenspieler, der sein Blatt fast an die Brust drückt, hatte er Mühe, darin zu lesen.
Er fragte: »Wie heißen Sie ?«
»Wie heißen Sie ?«, fragte Reacher.
»Mein Name spielt keine Rolle.«
»Wo ist Fisnik ?«
»Fisnik ist abgelöst worden. Was Sie ihm schuldig waren, schulden Sie jetzt mir.«
»Das genügt mir nicht«, sagte Reacher. »Dies ist eine wichtige Transaktion. Hier geht’s um viel Geld. Fisnik hat mir Geld geliehen, und ich muss es ihm zurückzahlen.«
»Ich habe Ihnen gesagt, dass Fisnik abgelöst worden ist. Fisniks Klienten sind jetzt meine. Schulden Sie Fisnik Geld, schulden Sie’s jetzt mir. So einfach ist das. Wie heißen Sie also ?«
Reacher sagte: »Aaron Shevick.«
Der Kerl sah mit zusammengekniffenen Augen in sein Kassenbuch.
Er nickte.
Er fragte: »Ist dies eine Abschlusszahlung ?«
»Bekomme ich eine Quittung ?«, fragte Reacher.
»Hat Fisnik Quittungen ausgestellt ?«
»Sie sind nicht Fisnik. Ich weiß nicht mal Ihren Namen.«
»Mein Name ist nicht wichtig.«
»Für mich schon. Ich muss wissen, an wen ich zahle.«
Der Mann tippte sich mit einem geisterhaft bleichen Finger an die Schläfe.
»Ihre Quittung ist hier«, sagte er. »Mehr brauchen Sie nicht zu wissen.«
»So riskiere ich, dass Fisnik morgen hinter mir her ist.«
»Ich hab’s Ihnen schon zweimal gesagt: Gestern haben Sie Fisnik gehört, heute gehören Sie mir. Auch morgen gehören Sie noch mir. Fisnik ist Geschichte. Fisnik gibt’s nicht mehr. Manche Dinge ändern sich eben. Wie viel schulden Sie mir ?«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Reacher. »Ich habe mich darauf verlassen, dass Fisnik mir das sagen würde. Er hatte eine Formel.«
»Welche Formel ?«
»Für Gebühren und Strafen und Zuschläge. Auf den nächsten Hunderter aufgerundet plus weitere fünfhundert als Verwaltungsgebühr. Das war seine Regel. Ich habe sie nie ganz verstanden, aber er sollte nicht glauben, dass ich ihm was abhandeln wollte. Ich habe lieber gezahlt, was er verlangt hat. Das war sicherer.«
»Wie viel sollte es Ihrer Meinung nach sein ?«
»Diesmal ?«
»Als Ihre Abschlusszahlung.«
»Ich möchte nicht, dass Sie glauben, ich wollte Ihnen was abhandeln. Nicht wenn Sie Fisniks Geschäft geerbt haben. Ich gehe davon aus, dass die Bedingungen bleiben.«
»Nennen Sie mir beide Zahlen«, sagte der Kerl. »Womit Sie rechnen und was sich nach Fisniks Formel ergeben würde. Vielleicht haben Sie Glück, und wir teilen uns den Unterschied. Als Einführungsangebot.«
»Ich rechne mit achthundert Dollar«, sagte Reacher. »Aber Fisnik würde vermutlich auf vierzehnhundert kommen. Sie wissen schon: Auf den nächsten Hunderter aufgerundet plus fünfhundert Verwaltungsgebühr.«
Der Kerl sah mit zusammengekniffenen Augen in sein Kassenbuch.
Er nickte langsam, weise, vollkommen einverstanden.
»Aber ohne Rabatt«, sagte er. »Ich habe mich dagegen entschieden. Ich nehme die vollen vierzehnhundert.«
Er klappte das Buch zu und legte es flach auf den Tisch.
Reacher griff in seine Tasche, steckte den Daumen in den Umschlag und zählte vierzehn Hunderter von Shevicks Geld ab. Er schob sie dem Kerl hin, der sie mit geübten Fingern nachzählte, zusammenfaltete und einsteckte.
»Sind wir jetzt quitt ?«, fragte Reacher.
»Voll und ganz.«
»Quittung ?«
Der Kerl tippte sich nochmals an die Schläfe.
»Verschwinden Sie jetzt«, sagte er. »Bis zum nächsten Mal.«
»Bis wann ?«, fragte Reacher.
»Bis Sie den nächsten Kredit brauchen.«
»Hoffentlich nie wieder.«
»Loser wie Sie brauchen immer einen. Sie wissen, wo Sie mich finden können.«
Reacher schwieg einen Moment.
»Ja«, sagte er dann, »das weiß ich. Verlassen Sie sich drauf.«
Er blieb noch einen Augenblick länger sitzen, dann stand er auf und ging langsam weg, ohne nach links oder rechts zu sehen, durch die Tür auf den Gehsteig hinaus.
Eine Minute später kam Shevick hinter ihm hergehinkt.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte Reacher.
Shevick hatte noch ein Handy. Er habe es nicht verkauft, sagte er, weil ein altes Klapphandy nahezu wertlos sei. Außerdem brauche er es manchmal wirklich. Reacher erklärte ihm, dies sei eine dieser Gelegenheiten. Er forderte ihn auf, ein Taxi zu rufen. Shevick protestierte, er könne sich keines leisten. Reacher versicherte ihm, dieses eine Mal könne er sich ein Taxi leisten.
Der Wagen, der vorfuhr, war ein klappriger alter Crown Vic mit abplatzendem orangerotem Lack, einem Suchscheinwerfer an der A-Säule und einem Taxischild mit Magnetfuß auf dem Dach. Optisch kein ansprechendes Fahrzeug. Aber es funktionierte. Es schaukelte sie eine Meile weit zu Shevicks Haus und setzte sie dort ab. Reacher stützte Shevick auf dem schmalen Weg zur Haustür. Auch diesmal ging sie auf, bevor der Mann seinen Schlüssel ins Schloss stecken konnte. Auf Mrs. Shevicks Gesicht standen stumme Fragen. Ein Taxi ? Wegen deines Knies ? Warum ist der große Mann dann wieder mitgekommen ?
Und vor allem: Schulden wir ihnen weitere tausend Dollar ?
»Es ist wieder kompliziert«, sagte Shevick.
Sie gingen in die Küche. Der Herd war kalt. Also kein Abendessen. Sie hatten heute schon mal gegessen. Als sie alle am Küchentisch saßen, erzählte Shevick seinen Teil der Geschichte. Kein Fisnik. Stattdessen ein Ersatzmann. Ein finsterer blasser Unbekannter mit einem schwarzen Buch. Dann Reachers Angebot, seine Rolle zu übernehmen.
Mrs. Shevick starrte Reacher an.
Der sagte: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er ein Ukrainer war. Er hatte ein Häftlingstattoo am Hals. Eindeutig in kyrillischer Schrift.«
»Ich glaube nicht, dass Fisnik ein Ukrainer war«, entgegnete Mrs. Shevick. »Fisnik ist ein albanischer Name. Ich habe ihn in der Bibliothek nachgeschlagen.«
»Er hat gesagt, Fisnik sei abgelöst worden. Er hat gesagt, Fisniks Klienten seien jetzt seine. Er hat gesagt, wer Fisnik Geld schulde, schulde es jetzt ihm. Er hat dieselbe Information mehrmals wiederholt. So einfach ist das, hat er gesagt.«
»Wollte er weitere tausend Dollar ?«
»Er hat das offene Kassenbuch so dicht vor sich gehalten, dass er kaum hineinsehen konnte. Das war mir anfangs ein Rätsel. Ich dachte, ich sollte die Eintragungen nicht sehen können. Als er nach meinem Namen fragte, habe ich Aaron Shevick gesagt. Er hat in sein Buch geschaut und genickt. Das ist mir komisch vorgekommen.«
»Warum ?«
»Wie wahrscheinlich ist’s, dass er gerade den Buchstaben S erwischt hatte ? Eins zu sechsundzwanzig. Möglich, aber unwahrscheinlich. Also sollte ich vermutlich nicht sehen, was in dem Buch stand, sondern was nicht darin stand. Weil es leer war. Das war meine Vermutung. Dann hat er sie damit bewiesen, dass er fragte, wie viel ich schuldig bin. Das wusste er nicht. Er hatte Fisniks altes Kassenbuch nicht. Dies war ein neues leeres Buch.«
»Was bedeutet das alles ?«
»Es bedeutet, dass dies keine routinemäßige interne Reorganisation war. Sie haben Fisnik nicht auf die Bank gesetzt und einen Ersatzmann auf den Platz geschickt. Das war eine feindliche Übernahme von außen. Das gesamte Management ist ausgewechselt worden. Ich habe mir noch mal durch den Kopf gehen lassen, was der Kerl gesagt und wie er sich ausgedrückt hat. Er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass hier Leute von außen reindrängen.«
»Augenblick !«, sagte Mrs. Shevick. »Ich habe da was im Radio gehört. Letzte Woche, glaube ich. Wir bekommen einen neuen Polizeichef. Er sagt, dass es in der Stadt rivalisierende ukrainische und albanische Banden gibt.«
Reacher nickte.
»Da haben Sie’s«, erklärte er. »Die Ukrainer übernehmen einen Teil der Geschäfte der Albaner. Daher haben Sie’s jetzt mit neuen Leuten zu tun.«
»Wollten sie die zusätzlichen tausend Dollar ?«
»Diese Leute blicken nach vorn, nicht in die Vergangenheit zurück. Sie sind bereit, Fisniks alte Darlehen abzuschreiben. Ganz oder teilweise. Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig. Sie wissen nicht, wie viel die Leute schuldig sind. Diese Informationen haben sie nicht. Und wieso sollten sie die Altschulden nicht abschreiben ? Das war schließlich nicht ihr Geld. Sie wollen seine Kunden, sonst nichts. Mit diesen Leuten wollen sie zukünftig Geschäfte machen.«
»Haben Sie den Mann bezahlt ?«
»Er wollte wissen, was ich schuldig bin, und ich habe riskiert, vierzehnhundert Dollar zu sagen. Er hat in sein leeres Kassenbuch gesehen und feierlich genickt. Also habe ich ihm vierzehnhundert Dollar gezahlt, und er hat mir auf Nachfrage bestätigt, dass wir quitt sind.«
»Wo ist das restliche Geld ?«
»Hier«, sagte Reacher. Er zog den Umschlag aus der Tasche. Kaum dünner als zuvor. Noch immer mit zweihundertelf Scheinen. Zwanzigtausendeinhundert Dollar. Er legte ihn gleich weit von allen entfernt in die Tischmitte. Shevick und seine Frau starrten ihn schweigend an.
Reacher sagte: »Wir leben in einem Universum der Zufälle. Alle Jubeljahre einmal entwickeln die Dinge sich zum Guten. Wie jetzt. Jemand hat einen Bandenkrieg angefangen, und Sie sind das exakte Gegenteil von einem Kollateralschaden.«
Shevick entgegnete: »Nicht, wenn Fisnik nächste Woche aufkreuzt und dies alles plus sieben Mille Aufgeld verlangt.«
»Das tut er nicht«, meinte Reacher. »Fisnik ist abgelöst worden. Wenn ein ukrainischer Gangster mit einem Häftlingstattoo das sagt, ist er ziemlich sicher tot. Oder sonst wie außer Gefecht. Er kommt weder nächste Woche noch sonst irgendwann. Und Sie sind mit dem neuen Kerl quitt. Das hat er selbst gesagt. Ihnen kann nichts mehr passieren.«
Danach herrschte lange Schweigen.
Mrs. Shevick sah Reacher an.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie.
In diesem Augenblick klingelte Shevicks Handy. Er hinkte in die Diele hinaus, um den Anruf entgegenzunehmen. Reacher hörte ein leises, blechernes Quäken aus dem Lautsprecher. Eine Männerstimme, dachte er. Was gesagt wurde, war nicht zu verstehen. Irgendwelche ausführlichen Informationen. Er hörte Shevick antworten: laut und deutlich, nur drei Meter entfernt, etwas Zustimmendes murmelnd, das müde resigniert und nicht überrascht, aber trotzdem enttäuscht klang. Dann stellte Shevick eine unmissverständliche Frage.
Er fragte: »Wie viel ?«
Das blecherne Quäken antwortete.
Shevick klappte sein Handy zu. Er blieb einen Augenblick stehen, dann hinkte er in die Küche zurück und setzte sich wieder an den Tisch. Er faltete die Hände vor sich. Er betrachtete den Geldumschlag schmerzlich lächelnd. Gleich weit von allen entfernt. Mitten auf dem Tisch.
Er sagte: »Sie brauchen weitere vierzigtausend Dollar.«
Seine Frau schloss die Augen und schlug die Hände vors Gesicht.
Reacher fragte: »Wer braucht die ?«
»Nicht Fisnik«, antwortete Shevick. »Auch nicht die Ukrainer. Keiner von ihnen. Dies ist das andere Ende der Geschichte. Der eigentliche Grund dafür, dass wir uns Geld leihen mussten.«
»Werden Sie erpresst ?«
»Nein, nichts in dieser Richtung. Ich wollte, es wäre so einfach. Ich kann nur sagen, dass es Rechnungen gibt, die wir bezahlen müssen. Eine ist gerade fällig geworden. Jetzt müssen wir weitere vierzigtausend Dollar auftreiben.« Er sah wieder den Umschlag an. »Dank Ihrer Bemühungen haben wir schon einen Teil davon.« Er rechnete im Kopf nach. »Theoretisch müssen wir weitere achtzehntausendneunhundert Dollar auftreiben.«
»Bis wann ?«
»Morgen früh.«
»Können Sie das ?«
»Ich könnte weitere achtzehn Cent finden.«
»Warum so schnell ?«
»Manche Dinge können nicht warten.«
»Was wollen Sie tun ?«
Shevick gab keine Antwort.
Seine Frau nahm die Hände vom Gesicht.
»Wir müssen uns das Geld leihen«, sagte sie. »Was bleibt uns anderes übrig ?«
»Von wem ?«
»Von dem Mann mit dem Häftlingstattoo«, sagte sie. »Von wem sonst ? Wir sind schon überall verschuldet.«
»Können Sie’s zurückzahlen ?«
»Diese Brücke überqueren wir, wenn wir sie erreichen.«
Keiner sprach.
Reacher sagte: »Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr helfen kann.«
Mrs. Shevick schaute ihn an.
»Doch, das können Sie«, sagte sie.
»Kann ich das ?«
»Sie müssen sogar.«
»Muss ich das ?«
»Der Mann mit dem Häftlingstattoo hält Sie für Aaron Shevick. Sie müssen unser Geld von ihm holen.«
Sie diskutierten eine weitere halbe Stunde darüber. Reacher und die Shevicks, hin und her. Bestimmte Tatsachen standen frühzeitig fest. Fixpunkte. Ausschlusskriterien. Sie brauchten das Geld unbedingt. Keine Frage. Keine Debatte. Sie brauchten es absolut bis zum Morgen. Kein Spielraum. Keine Flexibilität.
Sie wollten absolut nicht sagen, warum.
Ihre Ersparnisse waren weg. Ihr Haus war weg. Sie hatten es vor Kurzem gegen lebenslängliches Wohnrecht verkauft. Es gehörte nun der Bank. Der Verkaufserlös war bereits ausgegeben. Ihre Kreditkarten waren ausgereizt und gesperrt. Sie hatten ihre Sozialversicherung beliehen. Sie hatten ihre Lebensversicherung verkauft und ihr Festnetztelefon abgemeldet. Nachdem nun auch ihr Auto weg war, besaßen sie nichts Wertvolles mehr. Übrig waren nur ein paar billige Schmuckstücke, eigene und geerbte: fünf schmale Eheringe aus 585er-Gold, drei kleine Brillantringe und eine vergoldete Armbanduhr mit einem Sprung im Glas. Reacher schätzte, dass der warmherzigste Pfandleiher der Welt ihnen an einem Glückstag vielleicht zweihundert Dollar dafür geben würde. Bestimmt nicht mehr. Und an einem Unglückstag vielleicht nur hundert. Nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein.
Sie erzählten, sie seien vor fünf Wochen erstmals bei Fisnik gewesen. Seinen Namen hatten sie von einer Nachbarin bekommen. Gerüchteweise erwähnt, nicht als Empfehlung. Irgendeine Art Skandal. Eine reißerische Geschichte über die Frau eines Verwandten eines anderen Nachbarn, die sich von einem Gangster in einer Bar Geld geliehen hatte. Von einem Mann namens Fisnik, man stelle sich das vor ! Shevick hatte den Suchradius durch scheinbar harmlose Nachfragen eingeengt und angefangen, die Bars in dem betreffenden Gebiet abzuklappern: schüchtern, errötend, verlegen, angestarrt, überall nach einem gewissen Fisnik fragend, bis ein fetter Kerl in der vierten Bar sarkastisch mit dem Daumen auf einen Ecktisch gewiesen hatte.
Reacher fragte: »Wie ist’s abgelaufen ?«
»Sehr einfach«, sagte Shevick. »Ich bin an seinen Tisch getreten und habe dort gestanden, während er mich begutachtet hat. Dann hat er mir ein Zeichen gemacht, ich solle mich setzen, und ich hab’s getan. Anfangs bin ich um den heißen Brei rumgeschlichen, aber dann habe ich mir ein Herz genommen und gesagt: Also, ich brauche Geld und habe gehört, dass Sie welches verleihen. Er wollte wissen, wie viel, und ich hab’s ihm gesagt. Er hat mir die Vertragsbedingungen erklärt. Er hat mir Fotos gezeigt. Ich habe mir das Video angesehen. Ich habe ihm meine Kontonummer genannt. Zwanzig Minuten später war das Geld auf meiner Bank. Es ist von irgendwoher über eine Firma in Delaware überwiesen worden.«
»Ich dachte an einen Umschlag voller Geldscheine«, sagte Reacher.
»Zurückzahlen mussten wir das Geld in bar.«
Reacher nickte.
»Zwei Dinge auf einmal«, sagte er. »Wucherzinsen und Geldwäsche. Sie haben schmutziges elektronisches Geld überwiesen und sauberes Bargeld von der Straße zurückbekommen. Und üppige Zinsen obendrauf. Bei Geldwäsche verliert man meist einen bestimmten Prozentsatz, statt Zinsen zu bekommen. Echt clever, diese Jungs !«
»Den Eindruck hatten wir auch.«
»Glauben Sie, dass die Ukrainer besser oder schlimmer sein werden ?«
»Schlimmer, denke ich. Das Gesetz des Dschungels scheint sich schon durchzusetzen.«
»Wie wollen Sie das Geld jemals zurückzahlen ?«
»Das ist ein Problem von morgen.«
»Sie haben nichts mehr zu veräußern.«
»Vielleicht ergibt sich irgendwas.«
»In Ihren Träumen.«
»Nein, in der Realität. Wir warten auf etwas. Wir haben Grund zu der Annahme, dass es sehr bald eintreten wird. Wir müssen nur durchhalten, bis es so weit ist.«
Sie wollten absolut nicht sagen, worauf sie warteten.
Zwanzig Minuten später trat Reacher leichtfüßig vom Randstein und überquerte mit raschen Schritten die Straße und den jenseitigen Gehsteig und zog die Eingangstür der Bar auf. Drinnen schien es heller zu sein als zuvor, weil es draußen dunkler war, und der Lärmpegel war etwas höher, weil sich jetzt mehr Gäste dort aufhielten, darunter fünf Männer, die sich an einem Vierertisch drängten und alte Erinnerungen aufwärmten.
Der blasse Kerl saß immer noch an seinem Ecktisch.
Reacher ging auf ihn zu. Der blasse Kerl beobachtete ihn unentwegt. Reacher nahm sich etwas zurück. Hier gab es Konventionen zu befolgen. Geldverleiher und Bittsteller. Er versuchte, sich unbefangen zu bewegen, ohne irgendwie bedrohlich zu wirken. Er setzte sich auf denselben Stuhl wie zuvor.
Der blasse Kerl sagte: »Aaron Shevick, richtig ?«
»Ja«, sagte Reacher.
»Was führt Sie so bald wieder her ?«
»Ich brauche einen Kredit.«
»Schon ? Sie haben mich eben erst ausgezahlt.«
»Bei mir hat sich etwas ergeben.«
»Sehen Sie«, meinte der Kerl, »Loser wie Sie kommen immer zurück.«
»Ja, ich weiß«, sagte Reacher.
»Wie viel brauchen Sie ?«
»Achtzehntausendneunhundert Dollar«, sagte Reacher.
Der blasse Kerl schüttelte den Kopf.
»Nicht zu machen«, sagte er.
»Warum nicht ?«
»Das ist ein zu großer Schritt im Vergleich von den achthundert beim letzten Mal.«
»Vierzehnhundert.«
»Sechshundert davon waren Gebühren und Aufgeld. Gekriegt haben Sie nur achthundert.«
»Das war damals. Heute ist heute. So viel brauche ich.«
»Tilgen Sie verlässlich ?«
»Bisher immer«, antwortete Reacher. »Fragen Sie Fisnik.«
»Fisnik ist Geschichte«, sagte der Kerl.
Sonst nichts.
Reacher wartete.
Dann sagte der blasse Kerl: »Vielleicht kann ich Ihnen doch helfen. Aber ich würde ein Risiko eingehen, müssen Sie wissen, das sich im Preis widerspiegeln müsste. Wären Sie mit diesem Szenario einverstanden ?«
»Ich denke schon«, erwiderte Reacher.
»Und ich muss Ihnen sagen, dass ich jemand bin, der gern in runden Zahlen denkt. Achtzehn-neun sind nichts für mich. Wir müssten zwanzig sagen. Dann würde ich elfhundert als Verwaltungsgebühr aufschlagen. Sie bekämen genau den Betrag, den Sie brauchen. Möchten Sie die Zinssätze hören ?«
»Ich denke schon«, wiederholte Reacher.
»Seit Fisniks Ära hat sich einiges verändert. Wir leben in einem Zeitalter der Innovation. Wir sind zu dynamischer Preisgestaltung übergegangen. Der Zins steigt oder fällt je nach Angebot und Nachfrage, aber auch unser Eindruck von dem Kunden ist wichtig. Ist er verlässlich ? Können wir ihm vertrauen ? Fragen dieser Art.«
»Wo stehe ich dann ?«, fragte Reacher. »Oben oder unten ?«
»Mit Ihnen fange ich lieber ganz oben an, bei den schlimmsten Risiken. Tatsächlich mag ich Sie nicht besonders, Aaron Shevick. Bei Ihnen habe ich kein gutes Gefühl. Sie nehmen zwanzig mit, Sie bringen mir in einer Woche von heute fünfundzwanzig. Danach sind pro Woche oder angefangene Woche fünfundzwanzig Prozent fällig. Und eine Verspätungsgebühr von tausend Dollar pro Tag oder angefangenem Tag. Nach dem ersten Termin ist der Gesamtbetrag auf Anforderung sofort fällig. Können oder wollen Sie nicht zahlen, müssen Sie mit höchst unerfreulichen Konsequenzen rechnen. Das alles sollte Ihnen vorher klar sein. Ich muss hören, wie Sie’s mit eigenen Worten bestätigen. Diese Dinge kann man nicht zu Papier bringen und unterschreiben lassen. Ich habe Fotos, die Sie sich ansehen müssen.«
»Klasse«, sagte Reacher.
Der Kerl tippte auf seinem Smartphone herum und gab es Reacher dann quer, als wollte er ihm Landschaften, keine Porträts zeigen, was passend war, weil alle Dargestellten lagen. Die meisten waren in einem schimmligen Kellerloch mit Gewebeband an ein eisernes Bettgestell gefesselt. Manchen hatte man die Augäpfel mit einem Löffel herausgehebelt, und andere wiesen tiefe Schnitte von einer Elektrosäge auf. Wieder andere hatten Brandwunden von einem Lötkolben, und manche waren mit Akkuschraubern, die noch in ihrem Fleisch steckten, angebohrt worden.
Scheußliche Bilder.
Doch nicht das Schlimmste, was Reacher in seinem Leben gesehen hatte.
Aber vielleicht die schlimmste Zusammenstellung auf einem einzigen Smartphone.
Reacher gab das Handy zurück. Der Kerl tippte wieder darauf herum, bis er dort war, wo er sein wollte. Jetzt wurde es ernst.
Er fragte: »Verstehen Sie die Vertragsbedingungen ?«
»Ja«, antwortete Reacher.
»Sind Sie damit einverstanden ?«
»Ja«, antwortete Reacher.
»Bankkonto ?«
Reacher nannte ihm Shevicks Bankkonto. Der Kerl gab die Ziffern auf seinem Display ein, dann tippte er auf ein großes grünes Quadrat rechts unten. Auf den Sendeknopf.
Er sagte: »Das Geld ist in zwanzig Minuten auf Ihrem Konto.«
Dann rief er den Kameramodus auf, hob plötzlich das Smartphone und knipste ein Bild von Reacher.
Er sagte: »Danke, Mr. Shevick. War mir ein Vergnügen. Ich erwarte Sie also in genau einer Woche.«
Dabei tippte er sich mit einem knochenweißen Finger erneut an die Schläfe. Wie um zu zeigen, wo alles gespeichert war. Eine irgendwie bedrohliche Geste.
Und wenn schon, dachte Reacher.
Er stand auf und ging in die Dunkelheit hinaus. Am Randstein stand eine Limousine. Ein schwarzer Lincoln mit laufendem Motor und einem Fahrer, der sich am Steuer sitzend entspannte, wie es wartende Chauffeure immer tun, wenn sie Pause haben.
Außerhalb der Limousine wartete ein weiterer Mann an der hinteren rechten Tür lehnend. Er war wie der Fahrer angezogen. Und wie der Kerl in der Bar. Schwarzer Anzug, weißes Oberhemd, schwarze Seidenkrawatte. Wie eine Uniform. Er sah aus, wie der Kerl am Ecktisch nach etwa einem Monat in der Sonne ausgesehen hätte. Bleich, aber nicht auffällig blass. Er hatte einen blonden Bürstenhaarschnitt und eine schiefe Boxernase und vernarbte Augenbrauen. Kein guter Kämpfer, sagte Reacher sich. Musste offenbar viel einstecken.
Der Mann fragte: »Sind Sie Shevick ?«
Reacher fragte: »Wer will das wissen ?«
»Die Leute, von denen Sie sich eben Geld geliehen haben.«
»Sie scheinen schon zu wissen, wer ich bin.«
»Wir fahren Sie jetzt nach Hause.«
»Und wenn ich nicht will ?«, fragte Reacher.
»Das gehört zu dem Deal«, antwortete der Kerl.
»Zu welchem Deal ?«
»Wir müssen wissen, wo Sie wohnen.«
»Warum ?«
»Rückversicherung.«
»Schlagen Sie im Telefonbuch nach.«
»Das haben wir schon getan.«
»Und ?«
»Sie stehen nicht im Telefonbuch. Sie besitzen keine Immobilie.«
Reacher nickte. Die Shevicks hatten ihr Festnetztelefon gekündigt. Und ihr Häuschen gehörte jetzt der Bank.
Der Kerl sagte: »Also müssen wir Ihnen einen persönlichen Besuch abstatten.«
Reacher schwieg.
Der Kerl fragte: »Gibt’s eine Mrs. Shevick ?«
»Warum ?«
»Vielleicht sollten wir ihr einen kurzen Besuch abstatten, während wir uns ansehen, wo Sie wohnen. Wir legen Wert auf ein enges Verhältnis zu unseren Kunden. Wir lernen gern ihre Familie kennen. Das ist oft nützlich. Los jetzt, steigen Sie ein !«
Reacher schüttelte den Kopf.
»Sie täuschen sich«, sagte der Kerl. »Sie haben keine Wahl. Dies gehört zu dem Deal. Sie schulden uns Geld.«
»Ihr milchweißer Freund hat mir den Vertrag erklärt. Er hat alle Bestimmungen ausführlich besprochen. Die Verwaltungsgebühr, die dynamische Preisgestaltung, die Strafzinsen. Er hat sie sogar mit einem Video illustriert. Danach hat er mich gefragt, ob ich zustimme, und ich habe Ja gesagt, und damit war der Vertrag geschlossen. Sie können nicht anfangen, ihn zu ergänzen, damit Sie mich heimfahren und die Familie kennenlernen können. Dem hätte ich vorher zustimmen müssen. Ein Vertrag ist keine Einbahnstraße. Er wird verhandelt und angenommen. Einseitige Veränderungen kann’s nicht geben. Das ist ein Grundprinzip.«
»Sie haben ein flinkes Mundwerk.«
»Hoffentlich«, sagte Reacher. »Manchmal fürchte ich, dass ich nur pedantisch bin.«
»Was ?«
»Sie können mir anbieten, mich mitzunehmen, aber Sie können nicht darauf bestehen, dass ich Ihr Angebot annehme.«
»Was ?«
»Sie haben gehört, was ich gesagt habe.«
»Okay, ich biete Ihnen an, Sie mitzunehmen. Letzte Chance. Steigen Sie ein.«
»Sagen Sie bitte.«
Der Kerl zögerte sekundenlang.
Er sagte: »Bitte steigen Sie ein.«
»Okay«, meinte Reacher, »weil Sie so nett gefragt haben.«
Die ziemlich sicherste Methode, eine widerstrebende Geisel im Auto zu transportieren, besteht darin, sie ohne Sicherheitsgurt ans Steuer zu setzen. Das taten die Kerle mit dem Lincoln nicht. Sie entschieden sich für die konventionelle zweitbeste Methode. Sie setzten Reacher hinter den leeren Beifahrersitz, wo er nichts vor sich hatte, was er hätte angreifen können. Der Kerl, der ihn abgepasst hatte, stieg links hinten ein, saß halb zur Seite gedreht wachsam hinter dem Fahrer.
Er fragte: »Wohin ?«
»Wenden«, antwortete Reacher.
Der Fahrer wendete, fuhr mit dem rechten Vorderrad auf den Randstein gegenüber und ließ ihn wieder auf den Asphalt klatschen.
»Fünf Blocks geradeaus«, erklärte Reacher.
Der Fahrer gab Gas. Er war eine kleinere Version des ersten Kerls. Nicht so blass. Ein Weißer, gewiss, aber nicht blendend weiß. Auch er trug einen goldenen Bürstenhaarschnitt. Auf dem linken Handrücken prangte eine Messernarbe. Vermutlich eine Defensivwunde. Aus seiner rechten Manschette schlängelte sich ein verblassendes Tattoo. Er hatte große rosa Segelohren.
Ihre Reifen polterten über rissigen Asphalt und kurze Abschnitte mit Kopfsteinpflaster. Nach fünf Blocks erreichten sie die Kreuzung, an der Shevick hatte warten müssen. Dort rollten sie aus der alten Welt in die neue. Flaches, offenes Terrain. Beton und Kies. Breite Gehwege. Bei Dunkelheit sah alles anders aus. Vor ihnen lag der Busbahnhof.
»Geradeaus«, sagte Reacher.
Der Fahrer rollte bei Grün über die Kreuzung. Sie passierten den Busbahnhof. Sie machten einen höflichen Bogen um die teuren Viertel. Eine halbe Meile weiter erreichten sie die Stelle, wo der Bus von der Hauptstraße abgebogen war.
»Rechts abbiegen«, befahl Reacher. »Weiter in Richtung Highway.«
Er sah, dass die Straße innerhalb der Stadtgrenze Center Street hieß. Dann wurde sie vierspurig und bekam eine Straßennummer. Vor ihnen der riesige Supermarkt. Anschließend die Gewerbeparks mit Bürogebäuden.
»Wohin zum Teufel fahren wir ?«, fragte der Kerl auf dem Rücksitz. »Hier draußen wohnt niemand.«
»Drum gefällt’s mir«, sagte Reacher.
Der Asphalt war glatt. Die Reifen zischten darüber. Vor ihnen fuhren keine Autos. Wie es hinter ihnen aussah, wusste Reacher nicht. Aber er durfte nicht riskieren, sich umzudrehen.
Er sagte: »Erzählen Sie mir noch mal, warum Sie meine Frau kennenlernen wollen.«
Der Kerl neben ihm sagte: »Das finden wir nützlich.«
»Wieso ?«
»Bankkredite zahlt man zurück, weil man sich Sorgen wegen seiner Kreditwürdigkeit, seines guten Namens und seines Ansehens in der Gemeinde macht. Aber bei Ihnen trifft das alles nicht mehr zu. Sie sind in der Gosse gelandet. Was macht Ihnen jetzt noch Sorgen ? Was wird Sie dazu bringen, pünktlich zu zahlen ?«
Sie passierten die Bürogebäude. Weiterhin kein Verkehr. Vor ihnen tauchte der Autohändler auf. Ein Maschendrahtzaun, ordentlich aufgereihte Fahrzeuge, im Mondschein grau aussehende Girlanden.
»Klingt wie eine Drohung«, sagte Reacher.
»Töchter sind auch gut.«
Noch immer kein Verkehr.
Reacher boxte den Kerl ins Gesicht. Eine ansatzlos geschlagene Gerade. Eine Explosion ohne die geringste Vorwarnung. Eine Dampframme mit der ganzen Wucht, die in so beengtem Raum möglich war. Der Kopf des Kerls knallte an den Fensterrahmen hinter ihm. Blutnebel aus seiner Nase besprühte das Glas.
Reachers nächste Gerade traf den Fahrer. Mit ebensolcher Wucht. Und dem gleichen Ergebnis. Er beugte sich über die Sitzlehne, traf den Kerl am rechten Ohr, dass sein Kopf von der Seitenscheibe abprallte, und ließ eine zweite und dritte Gerade folgen, nach der bei ihm die Lichter ausgingen. Der Kerl sackte über dem Lenkrad zusammen.
Reacher rollte sich im hinteren Fußraum zusammen.
Sekunden später prallte der Lincoln mit vierzig Meilen in der Stunde gegen den Zaun des Autohändlers. Reacher hörte einen ohrenbetäubenden Knall und ein schrilles Kreischen. Die Airbags entfalteten sich, und er wurde an die Lehne des Vordersitzes geworfen, der sich losriss und den Airbag aufschlitzte, als der Wagen fast ungebremst in das erste einer langen Reihe von Ausstellungsfahrzeugen unter Flaggen und Girlanden knallte. Die Frontscheibe des Lincolns zersplitterte, sein Heck stieg hoch und krachte wieder zu Boden, der Motor setzte aus, dann kam die Limousine zum Stehen. Zu hören war nur mehr zischender Dampf, der unter der aufgewölbten Motorhaube entwich.
Reacher faltete sich auseinander und stemmte sich nach oben auf den Rücksitz. Er hatte alle starken Aufpralle mit dem Rücken abgefangen und fühlte sich, wie Shevick auf dem Gehsteig liegend ausgesehen hatte. Durchgerüttelt. Schmerzen am ganzen Körper. Noch im Rahmen oder schlimmer ? Er tippte auf Ersteres. Er bewegte Kopf, Schultern, Arme und Beine. Nichts gebrochen. Nichts gerissen. So weit, so gut.
Was man von den beiden anderen Männern nicht sagen konnte. Der Fahrer hatte den explodierenden Airbag ins Gesicht bekommen und war dann am Hinterkopf von dem anderen Kerl getroffen worden, der wie ein Speer vom Rücksitz nach vorn und durch die zersplitternde Frontscheibe geflogen war. Jetzt lag er mit dem Gesicht nach unten auf der aufgewölbten Motorhaube. Seine Füße waren Reacher am nächsten. Er bewegte sich so wenig wie der Fahrer.
Reacher stieß seine Tür auf, wobei verformtes Blech kreischte, kroch hinaus und drückte die Tür wieder hinter sich zu. Hinter ihnen war niemand gefahren, aber in Gegenrichtung erkannte er Autoscheinwerfer, vielleicht noch eine halbe Meile entfernt. Bei sechzig Meilen in der Stunde waren sie in einer halben Minute hier. Der Wagen, den der Lincoln gerammt hatte, war ein Minivan von Ford. Seine rechte Flanke war völlig eingedrückt. Nach innen gebogen wie eine Banane. Auf dem Aufkleber an seiner Frontscheibe stand Unfallfrei . Der Lincoln war ein Totalschaden. Bis zur Frontscheibe wie eine Ziehharmonika zusammengefaltet. Wie eine Sicherheitsreklame in der Zeitung. Bis auf den Kerl auf der Motorhaube.
Zeit zu verschwinden.
Reacher kletterte durch das Loch im Zaun, steif und wund, mit Prellungen und blauen Flecken, aber funktionierend. Er mied die Straße und stolperte parallel zu ihr über Felder und unbebaute Grundstücke, fünfzig Meter vom Asphalt entfernt, wohin kein Autoscheinwerfer reichte, während der Verkehr auf der Straße plötzlich zunahm. Er umging die beiden ersten Bürogebäude auf der Rückseite, dann änderte er seine Richtung und hielt auf den Parkplatz des riesigen Supermarkts zu, den er überqueren wollte, um wieder auf die Hauptstraße zu gelangen.
Gregory erhielt die Nachricht mehr oder weniger sofort – von einem Raumpfleger, der in der Notaufnahme arbeitete. Teil des ukrainischen Netzwerks. Der Mann machte eine Rauchpause und rief sofort an. Zwei von Gregorys Leuten, eben auf Fahrtragen eingeliefert. Mit Blinklicht und Sirene. Einer schwer verletzt, der andere noch schwerer. Beide würden vermutlich sterben. Angeblich hatte es draußen bei dem Fordhändler einen Unfall gegeben.
Gregory rief seine Topleute zusammen. Zehn Minuten später waren sie alle an einem Tisch im Hinterzimmer des Taxiunternehmens versammelt. Seine rechte Hand sagte: »Sicher wissen wir nur, dass heute Abend zwei unserer Leute zu einer Bar gefahren sind, um die Adresse eines ehemaligen Kreditkunden der Albaner zu überprüfen.«
»Aber wie lange kann es dauern, eine Adresse zu überprüfen ?«, fragte Gregory. »Damit müssen sie längst fertig gewesen sein. Hier muss etwas ganz anderes vorliegen. Dies kann nichts mit der Überprüfung zu tun haben. Wer, zum Teufel, wohnt schon dort draußen bei dem Ford-Händler ? Also haben sie den Kerl heimgebracht, sich die Adresse notiert, vielleicht ein Foto vom Haus gemacht und sind anschließend zu dem Ford-Händler gefahren. Warum ? Sie müssen einen Grund gehabt haben. Und warum sind sie verunglückt ?«
»Vielleicht hat man sie dorthin gejagt. Oder sie wurden gelockt, dann gerammt und von der Straße abgedrängt. Dort draußen ist’s nachts ziemlich einsam.«
»Glaubst du, dass das Dino war ?«
»Man muss sich fragen: Warum gerade diese zwei ? Vielleicht sind sie verfolgt worden, seit sie von der Bar weggefahren sind. Was nachvollziehbar wäre. Weil Dino hier möglicherweise etwas beweisen will. Wir haben ihm sein Geschäft gestohlen. Da ist eine Reaktion unvermeidlich.«
»Aber anfangs hat er stillgehalten.«
»Jetzt vielleicht nicht mehr.«
»Wie viel wird er beweisen wollen ?«
»Vielleicht war’s das«, meinte der Kerl. »Zwei Männer für zwei Männer. Wir behalten das Kreditgeschäft. Das wäre eine ehrenhafte Kapitulation. Er ist ein realistischer Mann. Er hat nicht viele Optionen. Er kann keinen Krieg anfangen, solange die Cops uns beobachten.«
Gregory sagte nichts. Im Raum herrschte Schweigen. Das einzige Geräusch waren gedämpfte Stimmen im Taxifunk im vorderen Dispatcherraum. Niemand achtete darauf. Sonst hätten sie gehört, wie ein Fahrer meldete, er habe eben eine alte Lady vor dem Supermarkt abgesetzt und werde die Wartezeit nutzen, um sich etwas extra zu verdienen und einen Mann heimzufahren – zu der alten GI -Siedlung im Osten der Stadt. Der Kerl war zu Fuß, sah aber einigermaßen zivilisiert aus und hatte Geld in der Tasche. Vielleicht hatte sein Wagen eine Panne. Das waren vier Meilen hin, vier Meilen zurück. Er würde wieder da sein, bevor die alte Lady an den Backwaren vorbei war. Kein Problem.
In diesem Augenblick erhielt Dino eine Meldung, die einen viel früheren und unvollständigen Stand der Dinge abbildete. Sie hatte fast eine Stunde gebraucht, um über mehrere Zwischenstationen nach oben zu gelangen. Von dem Unfall bei dem Ford-Händler war darin nicht die Rede. Der größte Teil des Tages war damit draufgegangen, Fisnik und seinen von Gregory genannten Komplizen zu entsorgen. Die Reorganisation war erst sehr spät angegangen worden. Fast als nachträglicher Einfall. Ein Ersatzmann war zu der Bar geschickt worden, um Fisniks Geschäft fortzuführen. Als der Kerl kurz nach acht Uhr abends hingekommen war, hatte er auf der Straße ukrainische Bewacher gesehen. Zwei Männer mit einem Town Car. Er war zum Notausgang auf der Rückseite des Gebäudes geschlichen und hatte dort einen Blick in die Bar werfen können. Ein Ukrainer hatte an Fisniks Ecktisch gesessen und mit einem großen Kerl gesprochen, der zerzaust und arm aussah. Offenbar ein Kunde.
Daraufhin hatte der Ersatzmann den Rückzug angetreten. Er hatte telefonisch Meldung erstattet. Der Mann, dem er das meldete, rief einen anderen Mann an. Der wiederum mit einem anderen telefonierte. Und so weiter. Weil schlechte Nachrichten langsam verbreitet werden, erreichte sie Dino erst nach fast einer Stunde. Er rief seine Topleute in dem Büro hinter dem Holzlagerplatz zusammen.
Er sagte: »Es gibt zwei mögliche Szenarien. Entweder war die Sache mit der Liste des neuen Polizeichefs wahr, und sie haben die Gelegenheit genutzt, um sich unser Kreditgeschäft opportunistisch und verräterisch anzueignen, oder sie war gelogen, und sie haben die Übernahme sorgfältig geplant und uns reingelegt, damit wir ihnen den Weg dafür ebnen.«
Seine rechte Hand sagte: »Ich denke, wir müssen hoffen, dass die erste Möglichkeit zutrifft.«
Dino schwieg lange nachdenklich.
Dann sagte er: »Wir müssen so tun, als träfe sie zu, fürchte ich. Uns bleibt nichts anderes übrig. Wir können jetzt keinen Krieg anfangen. Wir müssen sie das Kreditgeschäft behalten lassen. Ich sehe keine vernünftige Möglichkeit, es zurückzubekommen. Aber wir müssen uns ehrenhaft ergeben. Doch es muss zwei gegen zwei heißen. Mit weniger dürfen wir uns nicht zufriedengeben. Legt zwei ihrer Männer um, dann sind wir wieder quitt.«
Seine rechte Hand fragte: »Welche zwei ?«
»Mir egal«, antwortete Dino.
Dann überlegte er sich die Sache anders.
»Nein, sucht sie sorgfältig aus«, sagte er. »Vielleicht können wir uns damit einen Vorteil verschaffen.«
Reacher stieg vor dem Haus der Shevicks aus dem Taxi und ging auf dem schmalen Weg aus Betonplatten zur Haustür. Sie wurde geöffnet, bevor er klingeln konnte. Shevick stand von hinten beleuchtet mit seinem Mobiltelefon in der Hand auf der Schwelle.
»Das Geld ist vor einer Stunde eingegangen«, verkündete er. »Vielen Dank.«
»Gern geschehen.«
»Sie sind spät dran. Wir dachten schon, Sie würden nicht mehr kommen.«
»Ich musste einen kleinen Umweg machen.«
»Wohin ?«
»Gehen wir rein«, sagte Reacher. »Wir müssen miteinander reden.«
Diesmal setzten sie sich ins Wohnzimmer. Mit den Familienfotos an den Wänden und dem aus der Wand hängenden Antennenkabel. Die Shevicks bekamen die Sessel, Reacher das zweisitzige Sofa.
Er sagte: »Alles ist ziemlich genauso abgelaufen wie bei Fisnik und Ihnen. Allerdings hat der Kerl ein Foto von mir gemacht. Was letztlich eine gute Sache sein kann. Ihr Name, mein Gesicht. Ein bisschen Verwirrung schadet nie. Aber wenn ich ein echter Klient gewesen wäre, hätte mir das nicht gefallen. Ganz und gar nicht. Es hätte sich wie ein knochiger Finger auf meiner Schulter angefühlt. Ich wäre mir verletzlich vorgekommen. Draußen hat mich eine weitere Überraschung erwartet. Zwei Typen wollten mich nach Hause fahren, um zu sehen, wo ich wohne – und mit wem. Meine Frau, falls ich eine habe. Das war ein weiterer knochiger Finger. Vielleicht eine ganze knochige Hand.«
»Was ist passiert ?«
»Wir drei haben ein anderes Arrangement getroffen. Ohne die geringste Verbindung zu Ihrem Namen oder Ihrer Adresse. Tatsächlich ziemlich verwirrend in Bezug auf den genauen Ablauf. Ich wollte ein gewisses mysteriöses Element einführen. Die Bosse werden eine Message vermuten, ohne recht zu wissen, von wem. Ich denke, sie werden auf die Albaner tippen. Jedenfalls nicht auf Sie.«
»Was ist aus den Männern geworden?«
»Die waren Teil der Botschaft. Wir sind hier in Amerika. Schickt kein Arschloch, das letztes Mal bei einem MMMA -Turnier in einem Kiewer Kellerlokal Siebter geworden ist. Nehmt die Sache wenigstens ernst. Beweist Respekt.«
»Sie haben Ihr Gesicht gesehen.«
»Sie werden sich nicht daran erinnern. Sie hatten einen Unfall. Sie sind schwer verletzt. In ihrer Erinnerung werden ein, zwei Stunden fehlen. Ein Filmriss, wie er nach physischen Traumata häufig vorkommt, wenn sie nicht vorher sterben.«
»Dann ist also alles in Ordnung ?«
»Eigentlich nicht«, sagte Reacher.
»Warum nicht ?«
»Diese Männer sind keine vernünftigen Leute.«
»Das wissen wir.«
»Wie wollen Sie das Geld zurückzahlen ?«
Keine Antwort.
»Heute in einer Woche brauchen Sie fünfundzwanzig Mille. Verspäten dürfen Sie sich nicht. Der Kerl hat mir Fotos auf seinem Handy gezeigt. Fisnik kann nicht schlimmer ausgesehen haben. Sie brauchen irgendeine Art Plan.«
Shevick sagte: »Eine Woche ist lang.«
»Eigentlich nicht«, wiederholte Reacher.
Mrs. Shevick sagte: »Vielleicht passiert bis dahin etwas Gutes.«
Mehr nicht.
Reacher sagte: »Sie müssen mir wirklich erzählen, worauf Sie warten.«
Natürlich ging es um ihre Tochter. Während Mrs. Shevick die Geschichte erzählte, glitt ihr Blick mehrmals über die gerahmten Fotos an der Wand. Der Name ihrer Tochter war Margaret, seit ihrer Kindheit Meg genannt. Sie war ein aufgewecktes, fröhliches Kind gewesen, voller Charme und Energie. Sie liebte andere Kinder. Sie liebte den Kindergarten. Sie liebte die Grundschule. Sie las und schrieb und zeichnete gern. Sie lächelte und schwatzte ständig. Sie konnte jeden dazu überreden, alles zu tun. Sie hätte Eskimos Eis verkaufen können, sagte ihre Mutter.
Meg liebte auch die weiterführenden Schulen bis zur Highschool. Sie war beliebt. Alle mochten sie. Sie spielte Theater und sang im Chor und war eine gute Leichtathletin und Schwimmerin. Sie machte ihren Abschluss, ging aber nicht aufs College. Sie hatte gute Noten, aber trockenes Buchwissen war nicht ihre Stärke. Sie brauchte den Umgang mit Menschen, musste lächeln und plaudern und Leute um den Finger wickeln. Ihnen ihren Willen aufzwingen, um es genau zu sagen. Sie mochte es, eine Aufgabe zu haben.
Sie bekam einen ersten Job in der Werbebranche und arbeitete bei einer PR -Agentur nach der anderen, um zu verkaufen, wofür das örtliche Establishment gerade Geld besaß. Sie arbeitete hart, machte sich einen Namen, wurde befördert und verdiente mit dreißig ein Mehrfaches von dem, was ihr Vater jemals als Feinmechaniker verdient hatte. Zehn Jahre später, mit vierzig, verdiente sie weiter gut, hatte aber das Gefühl, ihre Erfolgskurve sei abgeflacht. Ihr Tempo hatte nachgelassen. Sie konnte ihre Gipfelhöhe über sich sehen. Manchmal saß sie am Schreibtisch und dachte: Das soll’s gewesen sein ?
Nein, beschloss sie. Sie wollte noch einen großen Erfolg. Größer als groß. Sie befand sich am falschen Ort, das wusste sie. Sie würde umziehen müssen. Nach San Francisco, wo das Hightech-Geld war. Wo komplizierte Dinge erklärt werden mussten. Oder nach New York. Aber sie konnte sich nicht entscheiden. Die Zeit verging. Dann kam San Francisco überraschenderweise zu ihr. Gewissermaßen. Später sah sie, dass dies ein Spiel war, das Immobilienmakler und IT -Entwickler ständig spielten und bei dem es darum ging herauszufinden, wo das übernächste Silicon Valley liegen würde. Um frühzeitig einsteigen zu können. Aus irgendeinem Grund erfüllte ihre Heimatstadt alle geheimen Kriterien. Aufstrebend, die richtigen Leute, die richtige Bausubstanz und Power, gutes Internet. Die ersten Scouts schnüffelten bereits herum.
Vom Freund eines Freundes wurde Meg einem Mann empfohlen, der einen Mann kannte, der ihr ein Gespräch mit einem Start-up-Gründer vermittelte. Sie trafen sich in einem Coffeeshop in der Innenstadt. Der Gründer war ein Mittzwanziger, der gerade erst mit dem Flugzeug aus Kalifornien gekommen war. Ein im Ausland geborenes Computergenie, das medizinische Software und Apps für Smartphones entwickelte. Mrs. Shevick gestand ein, nie genau gewusst zu haben, woraus das Produkt bestand, außer dass es zu der Sorte gehörte, die Leute reich machte.
Meg bekam den Job. Sie wurde Vizepräsidentin für Kommunikation und Kommunalpolitik. Das Start-up-Unternehmen steckte noch in den Kinderschuhen, daher war das Gehalt nicht großartig. Nur wenig mehr, als sie bereits verdiente. Aber die Zusatzleistungen hatten es wirklich in sich. Aktienoptionen, üppige Altersversorgung, großzügige Krankenversicherung und ein europäisches Coupé als Dienstwagen. Dazu verrücktes Zeug aus San Francisco wie kostenlose Pizza, Süßigkeiten und Massagen. Das alles gefiel ihr. Am weitaus wertvollsten fand sie jedoch die Aktienoptionen, die sie eines Tages zur Milliardärin machen konnten. Buchstäblich. Dafür gab es genügend Beispiele.
Anfangs lief alles ziemlich gut. Meg rührte sehr erfolgreich die Werbetrommel, und im ersten Jahr sah es mehrmals so aus, als wäre der Gipfel erreichbar. Aber das schafften sie nicht ganz. Das zweite Jahr verlief ähnlich. Weiter glanzvoll und glamourös, topmodern und an der Spitze des Fortschritts, aber in Wirklichkeit passierte nichts. Das dritte Jahr war schlimmer. Die Investoren wurden nervös. Der Geldhahn wurde weitgehend zugedreht. Aber sie speckten ab und hielten durch. Sie mieteten nur noch ein Stockwerk ihres Gebäudes. Keine Pizza, keine Süßigkeiten mehr. Die Massagetische wurden zusammengeklappt und verräumt. Sie arbeiteten mehr als je zuvor, Schulter an Schulter auf beengtem Raum, weiter entschlossen, weiter zuversichtlich.
Dann bekam Meg Krebs.
Genauer gesagt erfuhr sie, dass sie seit etwa einem halben Jahr Krebs hatte. Sie war zu beschäftigt gewesen, um zum Arzt zu gehen. Sie hatte geglaubt, ihr Gewichtsverlust sei auf Überarbeitung zurückzuführen. Aber das stimmte nicht. Die Diagnose war niederschmetternd: ein aggressiver, relativ weit fortgeschrittener Krebs. Der einzige Hoffnungsstrahl war eine neuartige Chemotherapie. Sie war exotisch und teuer, schien aber gut anzuschlagen. Ihre Erfolgsquote war hoch. Die einzige Chance, sagten die Ärzte. Termine wurden abgesagt, und Megs Behandlung sollte gleich am folgenden Morgen beginnen.
Womit die Probleme anfingen.
Mrs. Shevick sagte: »Mit ihrer Krankenversicherung hat’s ein Problem gegeben. Der Computer hat ihre Versichertennummer nicht akzeptiert. Während sie sich auf die Chemo vorbereitet hat, sind immer wieder Leute gekommen, die nach ihrem Namen, ihrem Geburtsdatum und ihrer Sozialversicherungsnummer gefragt haben. Ein Albtraum ! Sie haben mit der Versicherung telefoniert, bei der sie als Kundin geführt war, aber ihre Nummer ist immer mit einer Fehlermeldung quittiert worden. Angeblich nur eine Computerpanne. Keine große Sache, die bis zum Folgetag behoben sein würde. Aber das Krankenhaus konnte nicht warten. Wir mussten unterschreiben, dass wir die Behandlungskosten übernehmen würden, wenn die Versicherung nicht zahlte. Das sei nur eine Formalität, hat es geheißen. Angeblich passierten solche Computerpannen dauernd. Alles würde wieder in Ordnung kommen.«
»Oder auch nicht, vermute ich«, sagte Reacher.
»Dann kam das Wochenende mit zwei weiteren Behandlungen, und dann war’s Montag, und dann erfuhren wir die Wahrheit.«
»Nämlich?«, fragte Reacher, obwohl er sie sich vorstellen konnte.
Mrs. Shevick schüttelte den Kopf, seufzte und machte eine abwehrende Handbewegung, als brächte sie die Worte nicht heraus. Als könnte sie unmöglich weiterreden. Ihr Mann beugte sich mit auf die Knie gestützten Ellbogen nach vorn und erzählte weiter.
»Im dritten Jahr«, sagte er, »als die Investoren nervös wurden, war alles viel schlimmer, als irgendjemand ahnte. Der Boss hatte Geheimnisse – vor allen, auch vor Meg. Hinter den Kulissen zerfiel alles. Er hatte schon lange keine Rechnungen mehr bezahlt, keinen Cent. Darunter fiel auch die Krankenversicherung der Angestellten. Er hat einfach aufgehört, die Prämie zu überweisen. Megs Versicherungsnummer war ungültig, weil der Vertrag gekündigt war. Am vierten Tag ihrer Behandlung haben wir erfahren, dass sie überhaupt nicht versichert war.«
»Nicht ihre Schuld«, meinte Reacher. »Das war Betrug oder ein Vertragsbruch. Dagegen muss es ein Mittel geben.«
»Oder sogar zwei«, warf Shevick ein. »Es gibt einen staatlichen Hilfsfonds und einen Hilfsfonds der Versicherungsindustrie, beide für genau solche Fälle. Natürlich haben wir uns an beide gewandt. Sie haben sich sofort darangemacht, die Zuständigkeit zwischen sich aufzuteilen. Sobald das geschehen ist, wollen sie uns ersetzen, was wir bisher ausgegeben haben, und alle weiteren Kosten übernehmen. Wir warten jeden Tag auf ihre Entscheidung.«
»Aber Sie können Megs Behandlung nicht unterbrechen.«
»Sie braucht so viel. Ihr Zimmer, drei bis vier Behandlungen täglich, Medikamente, Bestrahlungen, alle möglichen Scans, Laboruntersuchungen … Staatliche Unterstützung bekommt sie keine. Theoretisch ist sie noch angestellt, theoretisch bekommt sie ein gutes Gehalt. Die Presse interessiert sich nicht für ihren Fall. Wo ist die Story ? Ein Kind braucht etwas, die Eltern zahlen. Kommt täglich vor. Vielleicht hätten wir diesen Vordruck nicht unterschreiben sollen. Vielleicht hätte sich eine andere Möglichkeit aufgetan. Aber wir haben nun mal unterschrieben. Das Krankenhaus will natürlich sein Geld – für Unterbringung, Personalkosten und millionenteure Geräte. Also verlangt es Vorauszahlungen. Das ist in solchen Fällen üblich. Bar auf die Hand, sonst passiert nichts. Daran können wir nichts ändern. Wir müssen durchhalten, bis uns jemand zu Hilfe kommt. Das könnte morgen früh sein. Wir haben sieben Chancen, bevor die Woche vorbei ist.«
»Sie brauchen einen Anwalt«, sagte Reacher.
»Können wir uns nicht leisten.«
»Wahrscheinlich wäre der Ihre so eine Art Präzedenzfall. Sie könnten einen bekommen, der die Sache kostenlos übernimmt.«
»Von der Sorte hatten wir schon drei«, erklärte Shevick. »Sie bieten kostenlose Rechtsberatung an. Ganz junge Leute. Ärmer als wir.«
»Sieben Chancen, bevor die Woche vorbei ist«, sagte Reacher. »Klingt wie ein Countrysong.«
»Das ist alles, was wir haben.«
»Na ja, es könnte fast als Plan durchgehen.«
»Danke.«
»Haben Sie einen Plan B ?«
»Eigentlich nicht.«
»Sie könnten versuchen abzutauchen. Ich bin dann längst fort. Das Foto, das der Kerl von mir gemacht hat, nützt ihnen nichts.«
»Sie sind fort ?«
»Ich kann nirgends eine Woche bleiben.«
»Sie haben unseren Namen. Bestimmt ist’s nicht schwierig, uns aufzuspüren. Da reicht schon ein Blick in ein altes Telefonbuch.«
»Erzählen Sie mir von den Anwälten.«
»Sie arbeiten umsonst«, sagte Shevick. »Wie gut können sie da sein ?«
»Klingt wie ein weiterer Countrysong.«
Shevick gab keine Antwort. Mrs. Shevick sah auf.
»Sie sind zu dritt«, sagte sie. »Drei nette junge Männer. Im Rahmen eines Bürgerprojekts zur Rechtsberatung tätig. Bestimmt mit besten Absichten. Aber die Mühlen der Justiz mahlen langsam.«
Reacher sagte: »Plan B wäre die Polizei. Hat sich heute in einer Woche nichts anderes ergeben, sollten Sie aufs Polizeirevier gehen und Ihre Story erzählen.«
Shevick fragte: »Wie gut würde sie uns beschützen ?«
»Nicht besonders, fürchte ich«, antwortete Reacher.
»Und wie lange ?«
»Nicht besonders lange«, sagte Reacher.
»Damit würden wir die Schiffe hinter uns verbrennen«, sagte Mrs. Shevick. »Passiert die andere Sache nicht bald, brauchen wir diese Leute mehr denn je. An wen sollen wir uns wenden, wenn die nächste Rechnung kommt ? Gehen wir zur Polizei, schneiden wir uns von allen Geldquellen ab.«
»Okay«, erklärte Reacher. »Keine Polizei. Sieben Chancen. Das mit Meg tut mir leid. Ehrlich. Ich hoffe wirklich, dass sie’s schafft.«
Er stand auf und kam sich in dem kleinen Raum mit niedriger Decke riesig vor.
Shevick fragte: »Sie gehen ?«
Reacher nickte.
»Ich nehme mir in der Stadt ein Hotelzimmer«, sagte er. »Vielleicht komme ich morgen früh noch mal vorbei. Um mich vor der Abreise zu verabschieden. Tu ich’s nicht, war’s mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Bei Ihren Schwierigkeiten wünsche ich Ihnen alles Gute.«
Er ließ sie allein in dem halb leeren Wohnzimmer zurück. Schloss die Haustür hinter sich und folgte dem schmalen Weg zur Straße, ging an geparkten Autos und stillen Häusern vorüber bis zur Hauptstraße, auf der er in Richtung Innenstadt abbog.
Auf der Westseite der Center Street gab es einen besonderen Straßenblock mit zwei nebeneinanderliegenden Restaurants, einem dritten am Nordrand des Blocks, einem vierten am Südrand und einem fünften an der Parallelstraße. Alle fünf florierten. Sie hatten viel Stammpublikum und waren immer voll. Immer im Gespräch. Mit fünf Restaurants auf engstem Raum stellte dies das Gourmetviertel der Stadt dar. Die Lieferdienste und Wäschereien liebten diese räumliche Nähe. Ein Stopp, fünf Kunden. Lieferungen waren einfach.
Abholungen ebenfalls. Dies war ein ukrainischer Block, weil er westlich der Center Street lag. Sie schauten regelmäßig vorbei, um ihr Schutzgeld zu kassieren. Ein Stopp, fünf Kunden. Ideal. Sie kamen am späten Abend, wenn die Kassen voll waren. Bevor sonst jemand bezahlt wurde. Sie gingen hinein, immer zwei Kerle, immer paarweise, schwarze Anzüge, schwarze Seidenkrawatten und blasse ausdruckslose Gesichter. Sie sagten niemals ein Wort. Theoretisch wäre es schwierig gewesen, ihnen etwas Illegales nachzuweisen. Tatsächlich war selbst zu Anfang, vor vielen Jahren, keine Forderung gestellt worden, sondern die Besucher hatten nur gemurmelt: Hübsch haben Sie’s hier. Wär doch schade, wenn der Einrichtung was zustieße . Höfliche Konversation. Darauf wurde ein Hunderter angeboten und mit einem Kopfschütteln abgelehnt, bis ein zweiter Hunderter draufgelegt und mit einem Nicken akzeptiert wurde. Später lag das Geld meist in einem Briefumschlag am Platz des Maître d’hôtel bereit und wurde wortlos übergeben. Theoretisch eine freiwillige Leistung. Tausend Dollar für einen Spaziergang um den Block. Fast legal. Nette Arbeit, wenn man sie kriegen konnte. Natürlich wollten viele den Gig. Natürlich bekamen ihn die Bonzen. Führungskräfte, die sich ein ruhiges Leben machen wollten.
An diesem speziellen Abend war damit Schluss.
Sie hatten ihren Wagen in der Center Street geparkt und mit den dortigen Restaurants begonnen. Dann waren sie entgegen dem Uhrzeigersinn um den Block geschlendert und hatten in den Restaurants auf der Nordseite, in der Parallelstraße und auf der Südseite kassiert. Jetzt gingen sie weiter und wollten um die letzte Ecke des Karrees biegen, um zu ihrem Wagen zurückzukehren.
Das alles taten sie. Ohne auf ein paar wichtige Einzelheiten zu achten. Gleich an der nächsten Querstraße stand ein Abschleppwagen: geparkt, aber mit laufendem Motor und brennenden Rückfahrscheinwerfern. Ungefähr auf gleicher Höhe kam ihnen ein Mann in einem schwarzen Regenmantel rasch auf dem anderen Gehsteig entgegen. Was hatte das zu bedeuten ? Das fragten sie sich nicht. Sie waren Führungskräfte, die sich ein ruhiges Leben machen wollten.
Fahrer und Beifahrer trennten sich an der Motorhaube ihres Wagens, um zu ihren Türen zu gehen. Sie öffneten sie fast synchron und sahen sich noch mal mit hochgerecktem Kinn um, damit niemand im Zweifel sein konnte, wem dieser Block gehörte.
Sie achteten nicht darauf, dass der Abschleppwagen sich in Bewegung setzte, langsam zurückstieß, genau auf sie zu. Sie achteten nicht darauf, dass der Mann im Regenmantel schräg über die Straße auf sie zukam.
Sie glitten auf ihre Sitze, Füße, Knie, Hintern, aber bevor sie die Türen schließen konnten, tauchte auf einer Seite eine Gestalt aus dem Dunkel auf, und der Mann im Regenmantel erschien auf der anderen. Beide hatten Pistolen Kaliber .22 mit aufgeschraubten langen dicken Schalldämpfern, die kaum Schussknalle hören ließen, als die Sitzenden mit jeweils mehreren Kopfschüssen aus nächster Nähe erledigt wurden. Die beiden Kerle im Auto fielen nach vorn und sackten von den Pistolen weg nach innen. Ihre zertrümmerten Schädel stießen über der Mittelkonsole zusammen, als machten sie sich den Platz streitig.
Dann wurden die Türen ihres Wagens zugeknallt. Inzwischen war der Abschleppwagen heran. Die Gestalt aus dem Dunkel und der Mann im Regenmantel halfen dem Fahrer, das Auto auf den Haken zu nehmen. Anschließend stiegen alle drei in den Abschleppwagen, der gemächlich davonfuhr. Ein gewöhnlicher Anblick. Ein Pannenfahrzeug, das würdelos auf den Vorderrädern und mit dem rückwärtigen Teil in der Luft abgeschleppt wurde. Hinter den Scheiben war nichts zu erkennen. Dafür sorgte die Schwerkraft. Die beiden Kerle würden im vorderen Fußraum zusammengesackt sein. Weich und schlaff. Die Leichenstarre würde erst in Stunden einsetzen.
Sie fuhren direkt zur Autoverwertung. Dort stellten sie den Wagen auf ölgetränkter Erde ab. Ein riesiger Radlader tauchte auf. Statt einer Ladeschaufel verfügte er über eine Ladegabel, mit der er das Auto anhob und zur Schrottpresse transportierte. Er setzte ihn auf dem Stahlboden einer dreiseitigen Box ab, die nicht viel größer als der Wagen war, und stieß zurück. Die vierte Seite der Box klappte hoch, ihr Deckel senkte sich herab.
Ein Motor röhrte und Hydraulikschläuche vibrierten. Die Seiten der Box bewegten sich knirschend nach innen, als von allen Seiten hundertfünfzig Tonnen Druck ausgeübt wurde. Dann kamen sie zum Stehen, kehrten fauchend in ihre Ausgangslage zurück, und ein Druckkolben stieß einen Stahlwürfel mit etwa einem Meter Seitenlänge heraus. Der Quader verharrte noch einen Augenblick auf einem massiven Stahlgitter, damit heraussickernde Flüssigkeiten abfließen konnten. Benzin und Öl, Bremsflüssigkeit und Kühlmittel aus der Klimaanlage. Und weitere Flüssigkeiten wie diesmal. Dann erschien ein Schwenklader, der statt einer Ladegabel eine Greifklaue besaß. Er packte den Stahlwürfel, fuhr damit weg und stapelte ihn auf dem Lagerplatz mit Hunderten von weiteren Quadern.
Erst dann rief der Mann in dem Regenmantel Dino an. Totaler Erfolg. Zwei für zwei. Ehre wiederhergestellt. Sie hatten ihr Kreditgeschäft gegen das Gourmetkarree eingetauscht. Kurzfristig ein Verlust, aber langfristig vielleicht ein Gewinn. Damit hatten sie einen Fuß in der Tür. Dies war ein Brückenkopf, der sich verteidigen und später vergrößern ließ. Vor allem bewies er, dass Reviere neu definiert werden konnten.
Dino ging zufrieden ins Bett.
Reacher war über das zufällig wartende Taxi auf dem Parkplatz des Supermarkts erfreut gewesen. Teils wegen der Zeitersparnis. Er hatte sich ausgerechnet, dass die Shevicks sich Sorgen machen würden. Und teils wegen der Mühe, die es ihm besonders in seinem lädierten Zustand ersparte. Aber damit hatte er sich keinen Gefallen getan. Sein ganzer Körper war steif geworden, sodass sich sein Rückweg in die Innenstadt schmerzhaft gestaltete.
Sein Orientierungssinn sagte ihm, dass die beste Route die schon bekannte Strecke war. An der Bar und am Busbahnhof vorbei und weiter zur Center Street, wo die Häuser der großen Hotelketten stehen würden, vielleicht auch etwas südlich davon, alle innerhalb weniger Blocks. Er kannte sich mit Städten aus. Er marschierte schneller, als er eigentlich wollte, achtete auf seine Haltung, hielt den Kopf hoch, straffte die Schultern, ließ die Arme locker und spürte die Schmerzen auf, ignorierte sie bewusst, gab ihnen nicht nach.
Auf der Straße vor der Bar hielt sich niemand mehr auf. Kein geparkter Town Car, keine aggressiven Schlägertypen. Reacher überquerte die Straße und sah durch eines der schmutzigen Fenster. An den staubigen Harfen und Kleeblättern vorbei. Der Ukrainer hockte noch immer an seinem Tisch in der hinteren rechten Ecke. Noch immer leuchtend blass. Vor ihm saß niemand. Kein unglücklicher Kunde, der in der Gosse gelandet war.
Reacher setzte seinen Weg fort, wurde lockerer, bewegte sich besser. Er ließ die alten Klinkergebäude hinter sich, ging über die Kreuzung, passierte den Busbahnhof und suchte den Himmel vor sich nach Neonlicht ab. Nach Hochhäusern mit Leuchtreklamen an den Fassaden. Die Banken, Versicherungen oder TV -Sender sein konnten. Oder Hotels. Davon gab es insgesamt sechs, die eine stolze kleine Citygruppe bildeten. Ein tapferes Statement.
Die hellsten Leuchtreklamen gab es halb links voraus im Südwesten. Um dorthin zu gelangen, überquerte er die Center Street auf einer Straße, die eigentlich nicht besser als die mit der Bar war. Aber man hatte sie mit viel Geld herausgeputzt. Die Straßenbeleuchtung funktionierte. Die Gehsteige waren intakt. Und es gab hier keine mit Brettern verschalten Schaufenster, aber eine Menge Büros. Nicht unbedingt von Firmen. Vor allem Non-Profit-Organisationen. Städtische Dienststellen und dergleichen. Eine Eheberatung. Das Bürgerbüro einer Partei. Alle bis auf eins waren dunkel. Schräg gegenüber am Ende des Blocks. Es war noch hell beleuchtet. Seine restaurierte Fassade erinnerte an ein altmodisches Ladengeschäft. Auf dem Schaufenster stand in großer Schreibmaschinenschrift, die Reacher aus seiner Jugend vertraut war, The Public Law Project . Das Bürgerprojekt zur Rechtsberatung.
Sie sind zu dritt, hatte Mr. Shevick gesagt.
Von einem Bürgerprojekt.
Drei nette junge Männer.
Hinter dem Fenster standen moderne helle Büromöbel, auf denen sich Akten türmten. An den Schreibtischen saßen drei Männer. Jung, gewiss. Ob sie nett waren, konnte Reacher nicht beurteilen. Darüber wollte er sich kein Urteil erlauben. Alle waren gleich gekleidet, trugen beige Chinos und blaue Hemden mit Button-down-Kragen.
Reacher überquerte die Straße. Aus der Nähe sah er, dass ihre Namen an der Eingangstür standen. In der gleichen Schreibmaschinenschrift, aber kleiner. Die Namen lauteten Julian Harvey Wood, Gino Vettoretto und Isaac Mehay-Byford. Eine Menge Namen für nur drei Kerle, fand Reacher. Alle hatten mehrere Abkürzungen hinter ihrem Namen stehen. Doktortitel von Stanford Law, Harvard und Yale.
Er zog die Tür auf und trat ein.
Die drei Kerle sahen überrascht auf. Einer war schwarzhaarig, einer blond, und einer lag dazwischen. Sie schienen alle Ende zwanzig zu sein und sahen müde aus. Anstrengende Arbeit, nicht genug Schlaf, Pizza und Kaffee. Wie damals im Jurastudium.
Der Dunkle fragte: »Was können wir für Sie tun ?«
»Wer sind Sie ?«, fragte Reacher. »Julian, Gino oder Isaac ?«
»Ich bin Gino.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Gino«, sagte Reacher. »Kennen Sie zufällig ein altes Ehepaar namens Shevick ?«
»Warum ?«
»Ich habe gerade ein paar Stunden mit den beiden verbracht und einiges über ihre Probleme erfahren. Sie haben mir erzählt, dass sie sich von drei Anwälten eines Bürgerprojekts beraten lassen. Ich frage mich, ob Sie das sind. Ich nehme es sogar an. Ich meine, wie viele Bürgerprojekte kann eine Stadt dieser Größe sich leisten ?«
Der Blonde sagte: »Wenn sie unsere Mandanten sind, können wir natürlich nicht über ihren Fall sprechen.«
»Wer sind Sie ?«
»Ich bin Julian.«
Der Mittlere sagte: »Und ich bin Isaac.«
»Ich bin Reacher. Freut mich, Sie kennenzulernen. Sind die Shevicks Ihre Mandanten ?«
»Ja, das sind sie«, sagte Gino. »Also können wir nicht über sie reden.«
»Machen Sie ein hypothetisches Beispiel daraus. Ist es in einem Fall wie ihrem wahrscheinlich, dass einer der beiden eingeschalteten Hilfsfonds innerhalb der nächsten sieben Tage zahlt ?«
Isaac sagte: »Darüber sollten wir wirklich nicht sprechen.«
»Bloß theoretisch«, meinte Reacher. »Als abstraktes Gedankenexperiment.«
»Die Sache ist kompliziert«, sagte Julian.
»Weshalb ?«
»Ich meine, theoretisch betrachtet wäre ein Fall wie dieser anfangs simpel, aber er würde sehr kompliziert werden, wenn Familienmitglieder sich bereit erklären, für Zahlungen zu bürgen. Dieser Schritt würde die Dringlichkeit mindern. Das meine ich buchstäblich. Er würde sie um eine Stufe herabsetzen. Die Hilfsfonds bearbeiten viele Zehntausend Anträge. Vielleicht sogar Hunderttausende. Wissen sie bestimmt, dass ein Patient ohnehin behandelt wird, bekommt er einen anderen Code. Er wird herabgestuft. Nicht gerade in die unterste Schublade, aber doch auf die lange Bank geschoben. Während dringendere Fälle vorgezogen werden.«
»Die Shevicks haben also einen Fehler gemacht, als sie unterschrieben haben ?«
»Über die Shevicks dürfen wir nicht sprechen«, erklärte Gino. »Wir sind zu Vertraulichkeit verpflichtet.«
»Theoretisch«, entgegnete Reacher. »Hypothetisch. Wäre es für hypothetische Eltern ein Fehler, die Verpflichtungserklärung zu unterschreiben ?«
»Aber natürlich«, sagte Isaak. »Betrachten Sie die Sache mal aus der Sicht eines Bürokraten. Der Patient wird behandelt. Wie, ist dem Bürokraten egal. Er weiß nur, dass er keine negative Publicity zu befürchten hat. Also kann er sich beliebig viel Zeit lassen. Die hypothetischen Eltern hätten standhaft bleiben, Nein sagen und die Unterschrift verweigern sollen.«
»Das konnten sie nicht über sich bringen, vermute ich.«
»Ich stimme Ihnen zu, dass das unter den Umständen schwierig gewesen wäre. Aber es hätte funktioniert. Der Bürokrat hätte sein Scheckbuch zücken müssen. Ohne Wenn und Aber.«
»Da wäre noch viel Aufklärung zu leisten«, meinte Gino. »Die Leute sollten ihre Rechte im Voraus kennen. Vor Ort ist nichts mehr zu machen. Man sieht das eigene Kind auf einer Tragbahre liegen. Alles viel zu emotional.«
Reacher fragte: »Wird sich in den nächsten sieben Tagen etwas daran ändern ?«
Keiner antwortete.
Was natürlich auch eine Art Antwort war.
Schließlich sagte Julian: »Das Problem ist, dass sie jetzt Zeit haben, alle möglichen Argumente vorzubringen. Der Staatsfonds gibt Steuergelder aus. Seine Existenz ist unpopulär. Deshalb will die Regierung, dass der Versicherungsfonds zahlt. Der gibt wiederum das Geld der Aktionäre aus. Daher spielt die Versicherung den Ball wieder und wieder an den Staat zurück, bis sich etwas ändert.«
»Was denn ?«
»Der Patient stirbt«, sagte Isaac. »Für den Versicherungsfonds ist das der Hauptgewinn. Weil daraus eine ganz neue Argumentation resultiert. Das Quasi-Vertragsverhältnis hat zwischen der Versicherung und dem Verstorbenen existiert. Was ist da zu ersetzen ? Der Verstorbene hat kein Geld ausgegeben. Für seine Krankheitskosten sind großzügige Verwandte aufgekommen. Das passiert ständig. Solche Kosten werden so häufig übernommen, dass sie in der Einkommenssteuererklärung eigens ausgewiesen werden können. Aber das ist nicht so, als würde man Aktien kaufen. Es gibt keine Gewinnbeteiligung. Dieses Geld ist ein Geschenk, eine Spende. Es wird nicht erstattet. Vor allem nicht von und an Parteien, die nicht mal in dem ursprünglichen Vertrag gestanden haben. Präzedenzfälle dafür sind kaum bekannt. Der Fall könnte letztlich beim Obersten Gericht landen.«
»Also nichts in den nächsten sieben Tagen ?«
»Wir wären mit den nächsten sieben Jahren zufrieden.«
»Sie sind bis über beide Ohren bei Kredithaien verschuldet.«
»Wie, ist dem Bürokraten egal.«
»Und Ihnen ?«
Julian erklärte: »Unsere Mandanten weigern sich strikt, uns Einblick in ihre Finanzen zu geben.«
Reacher nickte.
Er sagte: »Sie wollen ihre Schiffe nicht hinter sich verbrennen.«
»Exakt ihre Worte«, sagte Gino. »Sie wollen die Kredithaie nicht anzeigen, weil sie fürchten, sich dann kein Geld mehr leihen zu können, was aller Erfahrung nach bald wieder nötig sein dürfte.«
Reacher fragte: »Gäbe es für sie sonst noch juristische Möglichkeiten ?«
»Rein hypothetisch«, antwortete Julian. »Das Mittel der Wahl wäre eine Zivilklage gegen den schuldigen Arbeitgeber. Kann nie schiefgehen. Wird aber in solchen Fällen nicht angestrengt, weil allein die Klage den Beschuldigten als Betrüger entlarvt und dadurch ruiniert, sodass er keine Vermögenswerte mehr besitzt, auf die der erfolgreiche Kläger zurückgreifen könnte.«
»Sonst können sie nichts tun ?«
»Wir haben bei Gericht eine Petition eingereicht«, sagte Gino. »Aber der Richter legt sie weg, wenn er liest, dass ihre Behandlung sichergestellt ist.«
»Okay«, sagte Reacher. »Hoffen wir das Beste. Jemand hat mir heute erzählt, dass eine Woche lang ist. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Er wandte sich ab und trat auf den Gehsteig hinaus. Blieb an der Straßenecke stehen, um sich zu orientieren. Einmal rechts, einmal links, dachte er. Das müsste hinkommen.
Dann hörte er, wie sich hinter ihm die Tür erneut öffnete. Er hörte Schritte auf dem Gehsteig. Als er sich umdrehte, sah er Isaac herankommen. Der Kerl mit der mittleren Haarfarbe. Er war knapp eins achtzig groß und massig wie ein Seelöwe.
Er sagte: »Ich bin Isaac, erinnern Sie sich ?«
»Isaac Mehay-Byford«, antwortete Reacher. »J. D. der Stanford Law School. Eine Eliteuniversität. Glückwunsch. Aber ich vermute, dass Sie von der anderen Küste stammen.«
»Boston«, sagte er. »Mein Dad war dort ein Cop. Sie erinnern mich ein bisschen an ihn. Er war auch ein guter Beobachter.«
»Jetzt fühle ich mich alt.«
»Sind Sie ein Cop ?«
»Ich war einer«, sagte Reacher. »Vor langer Zeit. In der Army. Zählt das auch ?«
»Vielleicht«, meinte Isaac. »Sie könnten mir einen Rat geben.«
»Wenn ich kann.«
»Wie haben Sie die Shevicks kennengelernt ?«
»Ich habe ihm heute Morgen geholfen. Er hatte sich am Knie verletzt. Ich habe ihn nach Hause begleitet. Sie haben mir die Story erzählt.«
»Seine Frau ruft mich gelegentlich an. Sie haben nicht viele Freunde. Ich weiß, woher sie Geld bekommen. Früher oder später werden sie an ihre Grenzen stoßen.«
»Das tun sie bereits, denke ich«, sagte Reacher. »Oder in sieben Tagen.«
»Ich habe eine verrückte private Theorie«, sagte Isaac.
»Worüber ?«
»Aber vielleicht bilde ich mir nur etwas ein.«
»Was denn ?«, fragte Reacher.
»Ich denke an den letzten Punkt«, antwortete Isaac. »An die Zivilklage gegen den Arbeitgeber. Zwecklos, wenn keine Vermögenswerte da sind. Im Allgemeinen ist das ein guter Rat. Bestimmt auch in diesem Fall. Aber ich bin mir nicht ganz sicher …«
»Wieso nicht ?«
»Der Mann war hier eine Zeit lang berühmt. Die ganze Stadt hat über ihn geredet. Durch eine Ironie des Schicksals hat Meg Shevick das mit ihrer großartigen PR -Arbeit erreicht. Viel Hightech-Mythologie, viel Jungunternehmer-Hype, viel Lob für einen Mann, der mittellos nach Amerika gekommen ist und solchen Erfolg hatte. Aber ich habe auch Negatives gehört. Hier und da, Fragmente, Gerüchte, Klatsch, alles zusammenhanglos. Unbewiesen und nur vom Hörensagen, aber von Leuten, die solche Dinge wissen. Ich war förmlich davon besessen rauszukriegen, wie alle diese Teilchen hinter seinem öffentlichen Image zusammenpassten. Es schien drei Hauptthemen zu geben: Er war ein krasser Egoist, er war skrupellos, und er schien viel mehr Geld zu besitzen, als er haben dürfte. Meine persönliche Schlussfolgerung war, dass er sich wohl an Firmengeldern bereicherte. Was für einen skrupellosen Boss ein Kinderspiel gewesen wäre. Damals gab es einen Tsunami von frischem Geld. Unglaublich ! Ich vermute, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte. Dass er Millionen Dollar Anlegerkapital unter seiner privaten Matratze gebunkert hat.«
»Was erklären würde, wieso die Firma so rasch untergegangen ist«, sagte Reacher. »Sie verfügte über keine Reserven. Die waren gestohlen. Die Buchhaltung war ein Chaos.«
»Der springende Punkt ist, dass das Geld noch da sein könnte«, meinte Isaac. »Oder der größte Teil davon. Oder ein kleiner Teil. Weiter unter seiner Matratze. In diesem Fall wäre eine Klage aussichtsreich. Gegen ihn persönlich, nicht gegen die Firma.«
Reacher schwieg.
Isaac sagte: »Der Anwalt in mir ist davon überzeugt, dass die Chancen hundert zu eins stehen. Aber ich fänd’s schrecklich, wenn die Shevicks untergehen würden, ohne dass das versucht worden ist. Doch ich weiß nicht, wie ich’s anstellen soll. Deshalb möchte ich Sie um Rat bitten. Eine richtige Kanzlei würde einen Privatdetektiv beauftragen. Der würde den Mann aufspüren und seinen Finanzstatus überprüfen. Zwei Tage später hätten wir Klarheit. Aber dafür hat unser Projekt keine Mittel. Und wir verdienen nicht genug, um für einen Detektiv zusammenlegen zu können.«
»Wieso müsste der Kerl aufgespürt werden ? Ist er verschwunden ?«
»Wir wissen, dass er nach wie vor in der Stadt lebt. Aber er hat sich verkrochen. Ich glaube nicht, dass ich ihn allein finden könnte. Er ist sehr clever und, wenn ich recht habe, auch sehr reich. Keine gute Kombination. Sie verringert die Chancen.«
»Wie heißt er ?«
»Maxim Trulenko«, entgegnete Isaac. »Er ist Ukrainer.«
Das erste Raunen aus dem Gourmetkarree erreichte Gregory eine Stunde nach den dortigen Ereignissen. Sein Buchhalter rief an, um zu melden, dass sein abendlicher Bericht sich verspäten würde, weil er auf zwei Abholer wartete, die noch nicht eingecheckt hatten. Gregory fragte, welche zwei das seien, und erfuhr, dass es sich um die Kerle handelte, die die fünf Restaurants abkassiert hatten. Zunächst dachte Gregory sich nichts dabei. Sie waren erwachsen.
Dann rief seine rechte Hand an, um zu melden, diese beiden Abholer seien seit längerer Zeit nicht mehr auf dem Handy erreichbar, und weil ihr Auto nicht dort stand, wo es hätte stehen sollen, war die Taxiflotte mit einer Beschreibung des Wagens alarmiert worden und hatte ausnahmsweise sofort geantwortet. Zwei Fahrer hatten unabhängig voneinander das Gleiche ausgesagt. Sie hätten vor einiger Zeit gesehen, wie ein Wagen, auf den diese Beschreibung passte, abgeschleppt wurde. Die Hinterräder angehoben, hinter einem mittelgroßen Abschleppwagen. Drei Silhouetten im Fahrerhaus. Zunächst dachte Gregory sich nichts dabei. Autos konnten eine Panne haben.
Dann fragte er: »Aber würde sie das daran hindern, sich am Telefon zu melden ?«
Er glaubte Dinos Stimme zu hören: Wir haben einen Kerl, der bei der Autoverwertung an der Schrottpresse arbeitet. Auch er schuldet uns Geld . Laut sagte er: »Er macht vier für zwei daraus. Nicht zwei für zwei. Er muss den Verstand verloren haben.«
Sein Mann sagte: »Der Restaurantblock ist weniger wert als das Kreditgeschäft. Vielleicht ist das die Message.«
»Was ist er jetzt, ein Wirtschaftsprüfer ?«
»Er kann’s sich nicht leisten, schwach zu wirken.«
»Ich auch nicht. Vier für zwei ist Bullshit. Sag den Jungs Bescheid. Sie sollen bis morgen früh zwei weitere umlegen. Diesmal etwas auffälliger.«
Reacher bog erst rechts, dann links ab und erreichte ein Dreieck aus Hotelhochhäusern, alles Mittelklassehotels großer Ketten, zwei davon westlich der Center Street und eines östlich. Er betrat das nächste und verbrachte volle fünf Minuten seines Lebens an der Rezeption, wo er seinen Reisepass und seine Bankkarte vorlegen und auf zwei Vordrucken zwei Unterschriften aus zwei verschiedenen Gründen leisten musste. In der guten alten Zeit war es einfacher gewesen, ins Pentagon reinzukommen.
Er nahm einen Stadtplan mit und fuhr in sein Zimmer hinauf, das nichts Empfehlenswertes an sich hatte, aber mit Bett und Bad alles bot, was er brauchte. Er setzte sich auf die Bettkante, um den Stadtplan zu studieren. Die Stadt war birnenförmig angelegt, hatte auffällig gerade Straßen und streckte sich im oberen Teil nach der Interstate. Der Ford-Händler und die Landmaschinen befanden sich ganz oben, wo der Stängel gesessen hätte. Die Hotels standen mitten in dem bauchigen Teil. Im Geschäftsbezirk. Hier gab es eine Galerie und ein Kunstmuseum. Die GI -Siedlung mit dem Haus der Shevicks lag fast am östlichen Stadtrand. Auf dem Stadtplan sah sie wie ein winziger quadratischer Daumenabdruck aus.
Wo würde eine sehr clevere und sehr reiche Person sich verkriechen ?
Nirgends. Das war Reachers Schlussfolgerung. Die Stadt war groß, aber nicht groß genug. Der Mann schien eine Lokalgröße gewesen zu sein. Er hatte eine Vizepräsidentin für Kommunikation beschäftigt. Alle hatten über ihn geredet. Vermutlich war sein Bild öfter in der Zeitung erschienen. Konnte jemand wie er über Nacht ein Eremit werden ? Unmöglich. Schließlich musste der Typ essen. Er musste einkaufen gehen oder sich Essen bringen lassen. So oder so würde er gesehen werden. Leute würden ihn erkennen und tratschen. Nach einer Woche würde es Bustouren zu seinem Haus geben.
Es sei denn, die Leute, die ihm das Essen brachten, hielten eisern dicht.
In den Vereinigten Staaten lebten etwa vierhunderttausend gebürtige Ukrainer. Kein Grund zu glauben, dass sie sich alle kannten. Kein Grund, irgendwelche Verbindungen vorauszusetzen. Aber in einer Stadt dieser Größe konnte sich jemand nur mit Verbindungen versteckt halten. Die einzige Erfolgsgarantie bestand darin, von einer loyalen und wachsamen Truppe versteckt, beschützt und versorgt zu werden. Wie ein Geheimagent in einem sicheren Haus. Sehnsüchtig aus dem Fenster starrend, während diskrete Kuriere kommen und gehen.
Sieben Chancen, bevor die Woche vorüber ist, dachte er.
Reacher faltete den Stadtplan zusammen, steckte ihn in eine Hüfttasche. Dann fuhr er in die Hotelhalle hinunter und trat auf die Straße hinaus. Er war hungrig. Seit dem Lunch mit den Shevicks hatte er nichts mehr gegessen. Ein Sandwich mit Hühnersalat, einen Beutel Kartoffelchips und eine Dose Limonade. Nicht viel und lange her. Er ging die Center Street entlang und stellte nach anderthalb Blocks fest, dass die meisten Restaurants schon geschlossen hatten. Es war bereits spätabends.
Was ihn nicht störte. Er legte keinen Wert auf die meisten Restaurants.
Er ging auf der Center Street nach Norden bis zu der Stelle, wo der bauchige Teil der Birne dünner zu werden begann. Dann kehrte er um, ging ein Stück weit nach Süden und setzte sich an einer Bushaltestelle auf die Bank und beobachtete die Passanten. Das geschah praktisch in Zeitlupe. Fahrbahn und Gehsteig waren meist leer. Zwischen einzelnen Autos gab es große Lücken. Fußgänger kamen und gingen, oft in Vierer- oder Fünfergruppen, die je nach Alter und Kleidung auf dem Heimweg aus Restaurants oder die ersten Gäste der Klubszene waren. Die ungefähr fifty-fifty östlich und westlich der Center Street angesiedelt zu sein schien, wenn man die allgemeine Drift beobachtete. Die tatsächlich mehr als nur eine Drift war. In ihr steckte eine gewisse Energie. Als spürten die Menschen eine Anziehungskraft.
Ab und zu kamen auch einzelne Männer vorbei. Manche betrachteten den Gehsteig vor ihren Füßen, während andere starr geradeaus blickten, als wäre es ihnen peinlich, gesehen zu werden. Alle hatten es eilig, ihr Ziel zu erreichen.
Reacher erhob sich und schloss sich der Drift nach Osten an. Vor sich sah er ein elegantes Quartett durch eine Tür nach rechts verschwinden. Als er sie erreichte, erkannte er dahinter eine Bar, die wie ein Bundesgefängnis eingerichtet war. Die Barkeeper trugen orangerote Häftlingsoveralls. Nicht kostümiert war nur ein großer Mann auf einem Hocker gleich hinter der Tür. Schwarzhaarig und schwarz gekleidet. Bestimmt ein Albaner. Reacher kannte den Balkan aus eigener Erfahrung. Der Kerl wirkte wie frisch importiert. Er schien sehr mit sich zufrieden zu sein. Er besaß Macht und genoss sie.
Reacher schlenderte weiter. Er folgte einem Mann, der sich verstohlen, aber entschlossen bewegte, um eine Ecke und verfolgte, wie er durch eine neutrale Tür verschwand, aus der eben ein anderer Mann trat – rot angelaufen und happy. Glücksspiel, dachte Reacher. Nicht Prostitution. Er kannte den Unterschied. Er war dreizehn Jahre Militärpolizist gewesen. Der Hineingehende glaubte vermutlich, das gestern verlorene Geld zurückgewinnen zu können, während der andere Kerl jetzt seine Schulden bezahlen konnte und noch genug für einen Blumenstrauß und ein Dinner für zwei übrig hatte. Oder sollte er lieber darauf vertrauen, dass seine Glückssträhne anhielt ? Eine schwierige Entscheidung. Fast eine moralische Frage. Was tun ?
Reacher beobachtete ihn.
Der Kerl entschied sich für Blumen und Dinner.
Reacher driftete weiter.
Die Albaner tendierten dazu, später am Abend zu kassieren, weil ihre Szene dazu tendierte, erst später in Schwung zu kommen, was bedeutete, dass die Kassen sich später füllten. Ihre Methode war ganz anders als die auf der anderen Seite der Center Street praktizierte. Sie gingen nicht hinein. Kein bedrohliches Auftreten. Keine schwarzen Anzüge. Keine schwarzen Seidenkrawatten. Sie blieben im Auto sitzen. Sie waren gebeten worden, die Klientel der von ihnen betreuten Lokale nicht zu erschrecken. Sie konnten allzu leicht mit Cops oder Drogenfahndern verwechselt werden. Schlecht fürs Geschäft. In niemandes Interesse. Stattdessen brachte ein Bote ihnen den Umschlag, reichte ihn durchs Fenster hinein und lief ins Lokal zurück. Tausende von Dollar für eine Fahrt um den Block. Nette Arbeit, wenn man sie kriegen konnte.
Zwei Blocks östlich und einen Block nördlich des Casinos hatte Reacher drei Lokalitäten nebeneinander entdeckt, die alle derselben Familie gehörten. Erst eine Bar, dann ein die ganze Nacht geöffneter Spätverkauf und an dritter Stelle ein Spirituosenladen. Ihre Schutzgelder wurden von zwei Veteranen kassiert, beide pensionierte Beinbrecher, die hohes Ansehen genossen. Ihre Fahrt von Tür zu Tür lief nach einem bewährten System ab. Von einer Tür zur nächsten waren es ungefähr zehn Meter. Ein Kerl fuhr, und der andere saß hinten rechts. Ihre bevorzugte Methode. Das hintere Fenster stand eine halbe Handbreit offen. Der Umschlag fiel in ein Nichts. Kein Kontakt. Keine allzu große Nähe. Dann wurde das Gaspedal kurz angetippt, was für die nächsten zehn Meter reichte, wo der nächste Umschlag in ein Nichts fiel. Und so weiter, nur dass an diesem Abend vor dem Spirituosenladen kein Umschlag, sondern ein fetter schwarzer Schalldämpfer vor dem Fenster erschien.
Die Waffe war eine Maschinenpistole MP 5 von Heckler & Koch, die offenbar auf Feuerstöße mit drei Schuss eingestellt war, denn die trafen den Kerl auf dem Rücksitz – blind, aber clever abgegeben, tief bis mittelhoch steppend, um Beine oder Arme, vielleicht auch die Brust zu treffen. Gleichzeitig bekam der Fahrer von einem weiteren Kerl, der mit seiner H&K vom anderen Gehsteig herübergekommen war, durch zersplitterndes Glas drei Kugeln in den Kopf.
Danach wurden die Autotüren fast synchron aufgerissen. Der Typ vom Gehsteig stieß den Fahrer auf den leeren rechten Sitz und nahm seinen Platz am Steuer ein, während der Typ vom Spirituosenladen sich mit auf den Rücksitz zwängte. Sie knallten die Türen zu, und der Wagen schoss davon: alle Plätze besetzt, seine Insassen diagonal verteilt, zwei Männer mit ihrer Arbeit zufrieden, dazu ein Toter und ein Sterbender.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich Reacher schon zwei Blocks jenseits der Center Street. Er wusste jetzt, wo die Demarkationslinie zwischen den Revieren der Albaner und der Ukrainer verlief. Und er hatte genau das gefunden, was er suchte. Er hielt sich in einer Bar mit kleinen runden Kabaretttischen und einem niedrigen Podium vor der Rückwand auf. Auf dem Podium spielte ein Trio – Gitarre, Bass, Schlagzeug –, und auf den Tischen lagen Speisekarten für Mitternachtssnacks. Hinter der Theke stand eine italienische Kaffeemaschine. An der Tür saß ein Kerl auf einem Hocker. Schwarzer Anzug, schwarze Seidenkrawatte, blasses Gesicht, blondes Haar. Bestimmt ein Ukrainer.
Alles gut, dachte Reacher. Alles, was er brauchte, nichts, was er nicht leicht entbehren konnte.
Er entschied sich für einen Tisch ungefähr in der Mitte des Raums, an dem er mit dem Rücken zur Wand sitzen konnte. Im linken Augenwinkel hatte er den Kerl am Eingang, im rechten das Trio auf dem Podium. Die Jungs waren ziemlich gut. Sie spielten Blues in Arrangements aus den fünfziger Jahren. Volle, runde Gitarrentöne, nicht zu laut, hölzernes Klopfen vom Bass, das Schwirren der Besen auf der Snaredrum. Kein Gesang. Die meisten Gäste tranken Wein. Manche aßen Pizzen in der Größe von Untertassen. Auf der Speisekarte hießen sie Pizzas à la carte. Salami oder Peperoni. Neun Dollar.
Eine Bedienung trat an seinen Tisch. Sie passte zu der Musik aus den Fünfzigern. Sie war zierlich und burschikos, schätzungsweise Ende zwanzig, schlank und athletisch, schwarz gekleidet, mit dunkler Kurzhaarfrisur, lebhaften Augen und zurückhaltendem, aber ansteckendem Lächeln. Sie hätte in einem alten Schwarz-Weiß-Film mit Jazz als Soundtrack mitspielen können. Als jemandes freche kleine Schwester. Gefährlich aufmüpfig. Wollte bei der Arbeit Hosen tragen.
Reacher mochte sie.
Sie fragte: »Was darf’s sein ?«
Reacher bestellte zwei Gläser Leitungswasser, zwei doppelte Espresso und zwei Peperonipizzen.
Sie fragte: »Erwarten Sie jemanden ?«
»Ich mache mir Sorgen wegen Unterernährung«, antwortete er.
Sie lächelte und ging, und das Trio stimmte eine trübselige Version von Howlin’ Wolfs altem Song »Killing Floor« an. Die Gitarre übernahm den Gesangspart und erklärte mit perlenden Noten, dass er sich wünschte, er wäre seinem Instinkt gefolgt und hätte sie verlassen, um nach Mexiko zu gehen. Unterdessen kamen weitere Gäste herein, immer zu zweit oder mehreren, niemals einzeln. Alle machten kurz halt, wie Reacher es getan hatte, damit der Türsteher sie begutachten konnte. Er musterte sie von Kopf bis Fuß und sah jedem ins Gesicht, bevor er eine knappe Kopfbewegung zu dem Lokal hinter seiner Schulter machte. Sobald die Gäste an ihm vorbei waren, verschränkte er die Arme und sackte wieder auf seinem Hocker zusammen.
Zwei Songs später erschien die Bedienung mit seinem Essen. Sie stellte alles vor ihn hin. Er sagte vielen Dank. Sie sagte bitte sehr. Reacher fragte: »Weist der Kerl an der Tür jemals Gäste ab ?«
»Kommt darauf an, wer sie sind«, entgegnete sie.
»Wen lässt er nicht rein ?«
»Cops. Allerdings haben wir seit Jahren keine mehr als Gäste gehabt.«
»Wieso Cops ?«
»Nie eine gute Idee. Man weiß nie, was passiert. Dreht sich der Wind, ist’s plötzlich Bestechung oder Korruption oder eine Falle oder irgendeine andere große Sache. Darum haben Cops ihre eigenen Bars.«
»Daher hat er seit Jahren niemanden mehr abgewiesen. Aber was tut er dann überhaupt hier ?«
»Wieso fragen Sie das ?«
»Ich bin neugierig«, sagte Reacher.
»Sind Sie ein Cop ?«
»Als Nächstes erzählen Sie mir, dass ich wie Ihr Dad aussehe.«
Sie lächelte.
»Er ist viel kleiner«, meinte sie.
Sie zwinkerte ihm nicht ganz zu, als sie sich abwandte, aber fast. Das Trio spielte weiter. Der Kerl an der Tür zählte die Gäste, vermutete Reacher. Er war ein Kuckuckskind. Schutzgeld wurde vermutlich pro Kopf fällig. Er zählte die Gäste, damit die Besitzer nicht schummeln konnten. Außerdem fungierte er als eine Art Wachmann. Um den Deal zu versüßen. Damit alle sich besser fühlten.
Die Bedienung kehrte zurück, bevor Reacher aufgegessen hatte. Sie brachte ihm die Rechnung in einem schwarzen Kunstledermäppchen. Sie hatte jetzt dienstfrei. Er zahlte bar, rundete den Betrag auf und legte einen Zehner als Trunkgeld dazu. Sie ging. Er aß auf, blieb aber noch einen Augenblick an seinem Tisch und beobachtete den Kerl am Eingang. Dann stand er auf, ging auf ihn zu. Anders konnte man die Bar nicht verlassen. Zur Tür rein, zur Tür raus.
Er blieb neben dem Hocker stehen.
Er sagte: »Ich habe eine dringende Nachricht für Maxim Trulenko. Sie müssen überlegen, wie ich sie ihm zukommen lassen kann. Ich bin morgen zur gleichen Zeit wieder da.«
Dann ging er weiter, durch die Tür, auf die Straße hinaus. Fünf, sechs Meter rechts von ihm kam die Bedienung aus dem Personaleingang. Im genau gleichen Moment. Das hatte er nicht erwartet.
Sie blieb auf dem Gehsteig stehen.
Zierlich, burschikos, dienstfrei.
Sie sagte: »Hi.«
Er sagte: »Noch mal besten Dank für den guten Service. Viel Spaß für den Rest Ihres Abends.«
In Gedanken zählte er die Sekunden mit.
Sie sagte: »Ihnen auch und danke für das großzügige Trinkgeld.«
Sie hielt gut zwei Meter Abstand, wirkte irgendwie nervös, angespannt. Ihre Körpersprache verriet alles Mögliche.
Er sagte: »Ich versuche mir vorzustellen, welches Trinkgeld mir gefallen würde, wenn ich eine Bedienung wäre.«
»Eine originelle Idee !«
Reacher zählte in Gedanken, weil bald etwas passieren würde. Oder auch nichts. Vielleicht nichts, weil der Name Maxim Trulenko ihnen nichts sagte. Oder vielleicht etwas, weil der Name Trulenko auf ihrer Liste von VIP -Klienten ganz oben stand.
Das würde sich erweisen.
Die Bedienung fragte: »Was sind Sie also, wenn Sie kein Cop sind ?«
»Ich bin gerade zwischen zwei Jobs.«
Falls der Name Trulenko auf einer Liste stand, sah das Protokoll vermutlich vor, dass der Türsteher die Frage sofort telefonisch oder per SMS meldete. Anschließend würde er – weil er den Auftrag dazu erhalten hatte oder es ohnehin zum Protokoll gehörte – herauskommen, um Reacher mit allen möglichen Tricks so lange hinzuhalten, dass er wenigstens ein Handyfoto von ihm machen konnte. Hoffentlich lange genug, bis ein fliegendes Überwachungsteam eintreffen würde. Oder ein fliegendes Entführungsteam. Autos hatten sie bestimmt genug. Und ihr Gebiet war nicht riesig. Die Hälfte einer birnenförmigen Stadt.
»Oh, das tut mir leid«, sagte die Bedienung. »Hoffentlich finden Sie bald etwas.«
»Danke«, sagte Reacher.
Der Kerl in der Bar würde ungefähr vierzig Sekunden brauchen, um anzurufen oder eine SMS zu schicken, bevor er von seinem Hocker aufstand, tief durchatmete und hinter ihnen ins Freie trat. Dann war er demnächst fällig.
Falls etwas an der Sache dran war.
Vielleicht war auch nichts dran.
Die Bedienung fragte: »Was möchten Sie denn arbeiten ?«
Hinter ihnen kam der Kerl aus der Tür.
Reacher trat an den Randstein, sodass ein flaches Dreieck mit der Bedienung links von ihm und dem Kerl rechts von ihm entstand, bei dem er den Rücken frei hatte.
Der Kerl starrte Reacher an, aber er sprach mit der Bedienung.
Er sagte: »Verpiss dich, Kid.«
Reacher sah zu ihm hinüber.
Sie sagte mit lautlosen Lippenbewegungen etwas. Vielleicht: Passen Sie auf, wohin ich gehe . Dann wandte sie sich ab und überquerte rasch die Straße. Reacher schaute sich zweimal kurz nach ihr um. Beim ersten Blick war sie auf dem gegenüberliegenden Gehsteig nach Norden unterwegs, beim zweiten Mal schon verschwunden. Vermutlich in einem Hauseingang. Ziemlich am Ende des Blocks.
Der Kerl rechts von ihm sagte: »Ich bräuchte Ihren Namen, bevor ich eine Verbindung zu Maxim Trulenko herstellen könnte. Und vielleicht sollten wir erst mal darüber reden, Sie und ich, woher Sie ihn kennen. Nur damit ich beruhigt sein kann.«
»Wann könnten wir das machen ?«, fragte Reacher.
»Am besten gleich jetzt«, antwortete der Kerl. »Kommen Sie wieder rein. Ich spendiere Ihnen einen Kaffee.«
Hinhalten, dachte Reacher. Bis das Entführungsteam eintraf. Er blickte nach links und rechts die Straße entlang. Kein Auto, keine Scheinwerfer. Noch nicht.
Er sagte: »Danke, ich habe gerade Kaffee getrunken. Ich möchte nichts. Ich komme morgen Abend wieder. Ungefähr um diese Zeit.«
Der Kerl zog sein Handy heraus.
»Ich könnte ihm Ihr Foto schicken«, bot er an. »Als ersten Schritt. Das wäre schneller.«
»Nein, danke«, sagte Reacher.
»Sie müssen mir sagen, woher Sie Maxim kennen.«
»Maxim kennt jeder. Schließlich war er hier eine Zeit lang berühmt.«
»Sagen Sie mir, welche Nachricht Sie für ihn haben.«
»Die ist nur für ihn bestimmt«, erklärte Reacher.
Der Mann gab keine Antwort. Reacher sah sich erneut auf der Straße um. Keine Scheinwerfer. Noch nicht.
Der Kerl sagte: »Sie dürfen mich nicht falsch verstehen. Jeder Freund von Maxim ist mein Freund. Aber wenn Sie Max kennen, wissen Sie natürlich auch, dass wir Sie überprüfen müssen. Sie würden nichts anderes für ihn wollen.«
Reacher kontrollierte erneut die Straße. Jetzt kam ein Auto heran. Um die Südwestecke des übernächsten Blocks bog ein Scheinwerferpaar, das wippte, hüpfte und sprang, als der Fahrer die Kurve viel zu schnell nahm. Dann leuchtete es kurz geradeaus, bis der Lichtkegel hochstieg, als der Wagen stark beschleunigte.
Direkt auf sie zu.
»Man sieht sich«, sagte Reacher. »Hoffentlich.«
Er wandte sich ab, überquerte die Straße und entfernte sich von dem Auto weg nach Norden. Und entdeckte einen zweiten Wagen, der um die Nordwestecke des übernächsten Blocks bog. Auch er mit wippenden Scheinwerfern. Starke Beschleunigung. Direkt auf ihn zu. Vermutlich zwei Männer pro Fahrzeug. Kein schlechtes Aufgebot, und sie hatten schnell reagiert. Offenbar herrschte Alarmstufe Rot. Folglich war Trulenko wichtig. Folglich würden ihre Einsatzregeln in erheblichem Maß Ermessenssache sein.
Im Augenblick war Reacher das Fleisch in einem Sandwich aus hellem Licht.
Passen Sie auf, wohin ich gehe.
Ein Hauseingang am Ende des Blocks.
Er hastete weiter, kniff die Augen im Scheinwerferlicht zusammen und sah einen Hauseingang nach dem anderen aus ständig wechselnden Schatten hervortreten. Die meisten Türen gehörten zu Läden, sodass hinter ihnen nur das formlose Grau geschlossener Geschäfte lag. Einige wirkten schlichter und massiver und führten anscheinend zu Wohnungen hinauf, aber keine von ihnen stand auch nur einen einladenden Fingerbreit offen, hinter keiner brannte Licht. Er lief weiter nach Norden, weil die Bedienung nach Norden gegangen war, und aus den Schatten traten nacheinander neue Türen hervor, die jedoch alle grau und hartnäckig geschlossen waren.
Die Autos näherten sich. Ihre Scheinwerfer leuchteten heller. Reacher gab die Sache mit den Hauseingängen auf. Anscheinend hatte er ihre lautlose Botschaft falsch verstanden. Sein Gehirn begann sich Szenarien vorzustellen, in denen zwei Kerle aus Norden und zwei aus Süden kamen, alle vier zweifellos bewaffnet, doch hier in der Stadt eher nicht mit Schrotflinten, eher mit Pistolen, vielleicht sogar mit Schalldämpfern, je nachdem, welche Vereinbarung mit der hiesigen Polizei existierte. Schließlich sollten die Wähler nicht erschreckt werden. Aber jeder Instinkt, der vielleicht zu Vorsicht riet, würde durch das starke Bestreben überlagert werden, ihre Bosse unter keinen Umständen zu enttäuschen.
Die Autos wurden langsamer, hielten.
Reacher war in der Mitte zwischen ihnen gefangen.
Seit seiner Kindheit, seit er zu der Erkenntnis gelangt war, dass man erschreckt werden oder selbst erschrecken konnte, lautete seine Regel Nummer eins: Immer auf die Gefahr zugehen, nicht von ihr weg. Vorwärts oder rückwärts ? Er entschied sich für vorwärts. Nach Norden, wo er sowieso hinwollte. Im selben Tempo weiter. Ohne an Schwung zu verlieren. Gleißend helles Licht vor ihm, hinter ihm. Er marschierte weiter. Instinktiv, aber auch eine gute Taktik. So gut wie unter diesen verzweifelten Umständen möglich. Als versuchte man, aus einem miserablen Blatt das Beste zu machen. Zumindest veränderte er dadurch die Geometrie des Gefechtsfelds. Die Kerle vor ihm würden sich unter Druck gesetzt fühlen, je näher er kam. Für die Kerle hinter ihm würde die Schussentfernung größer werden. Beides würde ihre Effizienz beeinträchtigen. Sie mit etwas Glück unter fünfzig Prozent drücken. Weil die Kerle hinter ihm sich Sorgen wegen ihrer Kumpel machen würden, die wegen ihrer Nähe zu der Zielperson leicht getroffen werden konnten.
Vielleicht würden die Kerle hinter ihm bewusst nicht schießen.
Das Beste aus einem miserablen Blatt machen.
Reacher eilte weiter.
Er hörte, wie Autotüren geöffnet wurden.
Im Vorbeihasten erkannte er links neben sich Ladeneingänge, die einer nach dem anderen aus den Schlagschatten auftauchten, alle abweisend und fest verschlossen. Bis auf einen, der keine Ladentür, sondern ein Durchgang war. Eine schmale Gasse. Rechts von ihm verlief der Randstein in gleicher Höhe weiter, aber links tat sich zwischen den Häusern eine zweieinhalb Meter breite dunkle Lücke auf. Ihr Boden war mit denselben Platten belegt wie der Gehsteig. Irgendeine öffentliche Fußgängerpassage. Wohin führte sie ? Das war im Augenblick egal. Sie wirkte dunkel. Und sie führte garantiert zu etwas, das besser war als eine leere Straße, die von zwei Paar aufgeblendeten Autoscheinwerfern erhellt wurde.
Reacher verschwand in der Gasse.
Hinter sich hörte er rennende Schritte.
Er lief weiter. Nach einer Haustiefe verbreiterte sich die Gasse, ging in eine enge Straße über. Ebenfalls düster. Die Schritte hinter ihm kamen näher. Er blieb dicht bei den Häusern, wo die Schatten am dunkelsten waren.
Vor ihm im Dunkel öffnete sich eine Tür.
Eine Hand packte ihn am Arm und zog ihn hinein.
Die Tür schloss sich lautlos wieder, und drei Sekunden später trampelten draußen die Schritte in langsamem, vorsichtigem Joggingtempo vorbei. Stille kehrte ein. Die Hand auf Reachers Arm zog ihn tiefer in die Dunkelheit hinein. Kleine, aber kräftige Finger. Sie gelangten in einen anderen Raum mit anderer Akustik. Er hörte Fingernägel über eine Wand scharren, als sie den Lichtschalter suchten.
Licht flammte auf.
Er blinzelte. Die Bedienung.
Passen Sie auf, wohin ich gehe.
Eine Gasse, kein Hauseingang. Oder eine Gasse, die zu einem Hauseingang führte. Eine Gasse, die zu einem Hauseingang mit einer Haustür führte, die einladend einen Spalt weit offen stand.
»Sie wohnen hier ?«, fragte er.
Sie nickte.
Sie trug noch ihre Arbeitskleidung. Schwarze Jeans, schwarze kurzärmlige Leinenbluse. Zierlich, burschikos, dunkle Kurzhaarfrisur, besorgter Blick.
»Danke«, sagte Reacher. »Dafür, dass Sie mich gerettet haben.«
»Ich hab mir überlegt, welches Trinkgeld mir gefallen würde«, sagte sie. »Wenn ich ein Fremder wäre, den der Türsteher von der Seite her beobachtet.«
»Hat er das getan ?«
»Sie müssen ihn irgendwie misstrauisch gemacht haben.«
Er gab keine Antwort. Das Zimmer, in dem sie standen, war ein behaglicher Raum in gedämpften Farben, voller abgenutzter, komfortabler Möbel, teils aus Secondhandshops, gesäubert und instand gesetzt, teils aus alten Maschinenteilen zusammengeschraubt. Der Standfuß irgendeiner alten Maschine trug die Platte des Couchtischs; die Beistelltische wirkten ähnlich konstruiert. Und so weiter. Umfunktionieren, nannte man das. Das hatte er in einer Zeitschrift gelesen. Ihm gefiel ihr Stil. Ihm gefiel das Resultat. Ein hübsches Zimmer. Dann hörte er eine Stimme in seinem Kopf: Wär doch schade, wenn ihm was zustieße .
»Sie arbeiten für sie«, sagte er. »Sie sollten mir keine Zuflucht bieten.«
»Ich arbeite nicht für sie«, entgegnete sie. »Ich arbeite für das Ehepaar, dem die Bar gehört. Der Kerl an der Tür ist in diesem Geschäft unvermeidlich. Das wäre in keiner Bar anders.«
»Er hat anscheinend geglaubt, Sie herumkommandieren zu können.«
»Das tun sie alle. Ich habe Sie auch reingeholt, um mich ein bisschen zu revanchieren.«
»Danke«, sagte er noch mal.
»Gern geschehen.«
»Ich bin Jack Reacher«, erklärte er. »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«
»Abigail Gibson«, sagte sie. »Die Leute nennen mich Abby.«
»Mich nennen sie Reacher.«
Sie sagte: »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Reacher.«
Sie schüttelten sich ganz förmlich die Hand. Kleine Finger, aber kräftig.
Er sagte: »Ich habe sie absichtlich provoziert. Ich wollte sehen, ob und wie schnell und wie energisch sie auf etwas reagieren würden.«
»Worauf ?«
»Auf den Namen Maxim Trulenko. Sie haben von ihm gehört ?«
»Klar«, antwortete Abby. »Er ist gerade pleitegegangen. Eine dieser Dotcom-Pleiten. Eine Zeit lang war er hier eine Lokalgröße.«
»Ich möchte ihn finden.«
»Wozu ?«
»Er ist Leuten Geld schuldig.«
»Sind Sie ein Schuldeneintreiber ? Mir haben Sie erzählt, dass Sie arbeitslos sind.«
»Ehrenamtlich«, sagte Reacher. »Nur vorübergehend. Für ein altes Ehepaar, das ich getroffen habe. Noch im Anfangsstadium.«
»Ob er Leute Geld schuldet, ist egal. Er hat keins. Er ist bankrott.«
»Eine Theorie lautet, dass er einen Haufen Geld unter seiner Matratze gebunkert haben soll.«
»Solche Theorien gibt’s immer.«
»Ich glaube, dass sie in seinem Fall zutrifft. Das ist nur logisch. Wäre er pleite, hätte man ihn inzwischen aufgespürt. Doch bisher hat ihn niemand gefunden, folglich kann er nicht pleite sein. Weil er sich auf Dauer nur verstecken kann, wenn er die Ukrainer dafür bezahlt, dass sie ihn verbergen. Was eine Menge Geld kostet. Also hat er noch welches. Wenn ich ihn bald aufstöbern kann, ist vielleicht noch etwas davon übrig.«
»Für Ihr altes Ehepaar.«
»Hoffentlich genug für ihre Bedürfnisse.«
»Wer nicht gefunden werden will, darf nicht pleite sein«, sagte sie. »Das könnte auf dem Zettel in einem Glückskeks stehen. Aber der heutige Abend hat wohl bewiesen, dass das stimmt.«
Reacher nickte.
»Zwei Autos«, sagte er. »Vier Kerle. Er bekommt eine Menge für sein Geld.«
»Sie sollten sich nicht mit diesen Leuten anlegen«, meinte Abby. »Ich hab sie schon mehrmals erlebt.«
»Sie haben sich mit ihnen angelegt. Sie haben mir die Tür geöffnet.«
»Das ist etwas anderes. Das erfahren sie nie. Es gibt hundert Türen.«
Er fragte: »Warum haben Sie mich reingeholt ?«
»Das wissen Sie«, antwortete sie.
»Vielleicht wollten die Typen sich nur in aller Freundschaft mit mir unterhalten.«
»Das glaube ich nicht.«
»Vielleicht wäre ich nur streng ermahnt worden.«
Sie äußerte sich nicht dazu.
»Sie wussten, dass mir Schlimmeres gedroht hätte«, sagte er. »Deshalb haben Sie mich reingeholt.«
»Ich hab sie schon mehrmals erlebt«, wiederholte sie.
»Was hätten die Kerle gemacht ?«
»Sie mögen es nicht, wenn jemand sich in ihre Geschäfte einmischt«, erklärte Abby. »Ich glaube, sie hätten Sie arg zugerichtet.«
»Haben Sie so was schon mal miterlebt ?«
Sie schwieg.
»Jedenfalls noch mal vielen Dank«, sagte Reacher.
»Brauchen Sie sonst noch etwas ?«
»Ich muss weiter. Sie haben schon genug für mich getan. Ich habe ein Hotelzimmer.«
»Wo ?«
Er sagte es ihr. Sie schüttelte den Kopf.
»Das ist westlich der Center Street«, meinte sie. »Sie haben dort ihre Leute. Der Suchauftrag mit Ihrer Beschreibung ist längst per SMS rausgegangen.«
»Die Ukrainer scheinen diese Sache ziemlich ernst zu nehmen.«
»Ich hab’s Ihnen gesagt. Sie mögen es nicht, wenn jemand sich in ihre Geschäfte einmischt.«
»Wie viele sind es denn ?«
»Mehr als genug«, sagte sie. »Ich wollte gerade Kaffee machen. Mögen Sie auch einen ?«
»Klar«, sagte Reacher.
Sie nahm ihn in ihre Küche mit, die klein und zusammengestückelt, aber sauber und aufgeräumt wirkte. Ein gemütlicher Raum. Sie füllte Kaffee und Wasser ein und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Das Gerät blubberte und gurgelte und erfüllte die Küche mit Kaffeeduft.
»Können Sie dann überhaupt schlafen ?«, fragte Reacher.
»Für mich ist jetzt Abend«, antwortete sie. »Ich gehe ins Bett, wenn die Sonne aufgeht. Dann schlafe ich den ganzen Tag.«
»Klingt vernünftig.«
Sie stellte zwei weiße Porzellanbecher, die sie aus einem Hängeschrank nahm, auf den Tisch.
»Ich gehe unter die Dusche«, sagte sie. »Bedienen Sie sich, wenn der Kaffee vor mir fertig ist.«
Eine Minute später hörte er Wasser rauschen und anschließend das gedämpfte Geräusch eines Föns. Die Kaffeemaschine blubberte und gurgelte weiter, bis Abby zurückkam. Sie hatte rosige Wangen, duftete nach guter Seife und trug jetzt ein Hemdkleid, das wie ein Herrenhemd aussah, aber länger und schmaler geschnitten war. Vermutlich ohne viel Wäsche darunter. Ihre Füße waren jedenfalls nackt. Freizeitkleidung. Ein gemütlicher Abend daheim. Sie schenkten sich Kaffee ein und nahmen ihre Becher ins Wohnzimmer mit.
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte sie. »Dazu war wohl keine Gelegenheit mehr.«
»Welche Frage ?«, wollte er wissen.
»Was möchten Sie denn arbeiten ?«
Reachers Antwort bestand aus seiner Kurzbiografie. Anfangs leicht zu verstehen, später schwieriger. Sohn eines Offiziers im Marine Corps, Kindheit an fünfzig Orten, dann West Point, danach an hundert Orten bei der Militärpolizei und dann die Sparmaßnahmen nach dem Kalten Krieg, durch die er plötzlich Zivilist geworden war. Eine geradlinige Story. Gefolgt von seiner Wanderschaft, die nicht so geradlinig war. Kein Job, kein Heim, immer ruhelos. Ständig unterwegs. Immer ohne Gepäck. Kein bestimmtes Ziel und alle Zeit der Welt, um es zu erreichen. Manche Leute fanden das schwer begreiflich. Abby schien es jedoch zu verstehen. Sie stellte keine der üblichen dummen Fragen.
Ihre eigene Biografie war aufgrund ihres geringeren Lebensalters kürzer. Am Rand einer Großstadt in Michigan geboren, in kalifornischen Suburbias aufgewachsen, liebte Bücher und Philosophie und Theater und Musik, Tanz und experimentelle Performances. War als Studentin hergekommen und hier hängen geblieben. Aus einem vierwöchigen Aushilfsjob als Bedienung waren zehn Jahre geworden. Sie war zweiunddreißig. Älter, als sie aussah. Sie sei glücklich, sagte sie.
Zwischendurch holten sie sich frischen Kaffee aus der Küche und saßen sich dann an beiden Enden des Sofas gegenüber: Reacher entspannt hingefläzt, Abby im Schneidersitz, der ihre nackten Knie sehen ließ. Reacher verstand nicht viel von Philosophie, Theater, Musik, Tanz oder experimentellen Performances, aber er las Bücher, wenn er konnte, und hörte Musik, wenn sich die Gelegenheit bot, sodass er einigermaßen mitreden konnte. Mehrfach ergab sich, dass sie die gleichen Sachen gelesen hatten. Bei Musik war es ähnlich. Abby nannte das ihre Retrophase. Er sagte, ihm komme es wie gestern vor. Darüber lachten sie.
So wurde es zwei Uhr morgens. Reacher wusste, dass er in einem albanischen Hotel ein Zimmer bekommen würde. Einen Block weiter östlich. Bestimmt nicht schlechter. Was er schon gezahlt hatte, konnte er verschmerzen. Er ärgerte sich mehr über die fünf Minuten seines Lebens an der Rezeption. Die würde er nie zurückbekommen.
Abby sagte: »Du kannst hierbleiben, wenn du möchtest.«
Ihr Hemdkleid war jetzt einen Knopf weiter aufgeknöpft als zuvor, das erschien ihm ziemlich sicher. Er wusste, dass er in dieser Beziehung seiner Beobachtungsgabe trauen konnte. Er war ein ausgezeichneter Beobachter. Das ursprüngliche Dekolletee hatte er schon mehrere Male bewundert. Es war sehr reizvoll gewesen. Doch das neue wirkte noch verlockender.
Er sagte: »Ich habe kein Gästezimmer gesehen.«
Sie sagte: »Ich habe keins.«
»Wäre das ein Lifestyle-Experiment ?«
»Im Gegensatz wozu ?«
»Zu den üblichen Gründen.«
»Eine Mischung aus beiden, denke ich.«
»Aber gern«, sagte Reacher.
Dinos zwei Kerle blieben die ganze Nacht über verschwunden. Ihre Spur verlor sich ab dem Spirituosenladen. Ihre Smartphones waren tot. Niemand hatte ihr Auto gesehen. Sie hatten sich in nichts aufgelöst. Was natürlich unmöglich war. Aber trotzdem wurde Dino nicht geweckt. Stattdessen lief eine kleine Suchaktion an. In allen infrage kommenden Vierteln. Ohne Ergebnis. Die beiden Männer blieben verschollen. Bis sieben Uhr morgens auf ihrem eigenen Territorium, als ein Staplerfahrer Zedernstämme aus der hintersten Ecke des Holzlagerplatzes holen sollte.
Nun wurde Dino geweckt.
Der Lagerplatz war von einem zweieinhalb Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben. Die beiden Männer waren mit dem Kopf nach unten an diesen Zaun gehängt worden. Man hatte sie aufgeschlitzt. Durch die Schwerkraft waren ihre Eingeweide herausgesackt – über die Brust, über den Kopf, bis auf den Boden. Zum Glück nach ihrem Tod. Beide wiesen verkrustete Schusswunden auf. Der Kopf eines der Kerle war weitgehend zertrümmert.
Keine Spur von ihrem Wagen. Keine Fußabdrücke. Nichts, was irgendwie weiterhelfen konnte.
Dino berief eine Besprechung im rückwärtigen Konferenzraum ein. Nur fünfzig Meter von dem grausigen Fundort entfernt. Wie ein General auf Frontbesuch, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen.
Er sagte: »Gregory muss den Verstand verloren haben. Wir waren hier die ursprünglichen Opfer, wir haben jedes Mal den Kürzeren gezogen, und jetzt will er’s uns durch vier für zwei hinreiben ? Das ist Bullshit ! Wie ungleich soll die Sache noch werden ? Was zum Teufel denkt er sich dabei ?«
»Aber warum so grässlich ?«, fragte seine rechte Hand. »Wozu all das Drama mit den raushängenden Eingeweiden ? Sieht fast nach Rache aus. Als wären wir bei irgendwas besser gewesen«
»Waren wir aber nicht.«
»Möglicherweise geht’s um etwas, von dem wir nichts ahnen. Vielleicht haben wir irgendwo die Oberhand behalten und es nur noch nicht gemerkt.«
»Was nicht gemerkt ?«
»Das wissen wir noch nicht. Das ist der springende Punkt.«
»Wir haben nur den Restaurantblock dazubekommen.«
»Vielleicht ist er irgendwie besonders. Oder er bringt mehr, als wir dachten. Vielleicht kommen wir so besser an Leute heran. Alle Bonzen müssen dort essen. Mit ihren Frauen und so weiter. Wohin sollten sie sonst gehen ?«
Dino gab keine Antwort.
Der Mann fragte: »Warum sollten sie sonst so wütend sein ?«
Dino äußerte sich noch immer nicht dazu.
Dann sagte er: »Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist der Restaurantblock mehr wert als das Kreditgeschäft. Das hoffe ich jedenfalls. Wir hatten Glück, sie sind sauer. Aber vier für zwei ist trotzdem Bullshit. Damit können wir nicht leben. Alarmiere die Jungs. Bis Sonnenuntergang muss der Stand ausgeglichen sein.«
Reacher wachte gegen acht Uhr morgens auf: warm, entspannt, ausgeglichen, teilweise mit Abby verschlungen, die ungestört weiterschlief. Neben ihm liegend schaute sie winzig aus. Sie war über einen Kopf kleiner, wog weniger als die Hälfte. In Ruhe wirkte sie weich und knochenlos, in Bewegung hart, geschmeidig und stark. Und sie experimentierte gern. Ihre Performance war ein Kunstwerk gewesen. Das stand verdammt fest. Er konnte sich glücklich schätzen. Er atmete tief durch und blickte zu der ungewohnten Zimmerdecke auf. Sie hatte Risse im Putz, die an das Mündungsdelta eines Flusses erinnerten und oftmals übertüncht waren, sodass sie wie verheilte Narben aussahen.
Er machte sich sanft frei, glitt aus dem Bett, ging nackt ins Bad und dann in die Küche, wo er Kaffee aufsetzte. Dann betrat er wieder das Bad und duschte. Anschließend suchte er seine Sachen im Wohnzimmer zusammen und zog sich an. Er nahm einen weißen Porzellanbecher aus dem Hängeschrank und genoss den ersten Kaffee des Tages. Er saß an dem kleinen Tisch am Fenster. Der Himmel war blau, und die Sonne strahlte. Ein herrlicher Morgen. Von draußen drangen schwach Geräusche herein. Verkehr und Stimmen. Geschäftiges Treiben, als Leute zur Arbeit gingen.
Er stand auf, schenkte sich Kaffee nach und setzte sich wieder. Eine Minute später kam Abby nackt herein, streckte sich gähnend und lächelnd. Sie goss sich einen Kaffee ein, trat damit an den Tisch und setzte sich auf seinen Schoß. Nackt, weich, warm und duftend. Was sollte ein Mann tun ? Eine Minute später landeten sie wieder im Bett. Es war noch besser als beim ersten Mal. Zwanzig volle Minuten von der Vor- bis zur Nachspeise. Danach lagen sie keuchend und hechelnd nebeneinander. Nicht übel für einen alten Kerl, dachte er. Sie kuschelte sich an ihn, erschöpft, schwer atmend. Er spürte eine körperliche Erfüllung in ihr. Irgendeine tiefe animalische Befriedigung. Und noch etwas anderes. Sie fühlte sich sicher, warm und beschützt. Das genoss sie.
»Gestern Abend«, sagte er, »vor der Bar, als ich dich nach dem Kerl an der Tür gefragt habe, wolltest du wissen, ob ich ein Cop bin.«
»Du bist ein Cop«, murmelte sie.
»War einer«, sagte er.
»Für einen ersten Eindruck hat’s gereicht. Diesen Look wird man nie los, glaub ich.«
»Wolltest du, dass ich ein Cop bin ? Hast du das gehofft ?«
»Wieso sollte ich das ?«
»Wegen des Typs an der Tür. Vielleicht hast du gehofft, ich könnte etwas gegen ihn unternehmen.«
»Nein«, sagte sie. »Das zu hoffen wäre Zeitverschwendung. Die Cops unternehmen nichts wegen dieser Kerle. Nie. Zu viel Stress. Zu viel Schmiergeld. Glaub mir, vor den Cops sind diese Männer ziemlich sicher.«
Alte Enttäuschungen in ihrer Stimme.
Aus Neugier fragte er: »Hätte es dir gefallen, wenn ich seinetwegen etwas unternommen hätte ?«
Sie kuschelte sich enger an ihn. Unbewusst, dachte er. Was etwas bedeuten musste.
Sie fragte: »Wegen dieses speziellen Kerls ?«
»Er war der Einzige, der vor mir gestanden hat.«
Sie zögerte kurz.
»Ja«, sagte sie dann, »das hätte mir gefallen.«
»Was hätte ich mit ihm anfangen sollen ?«
Er spürte, dass sie sich ein wenig versteifte.
Dann sagte sie: »Ich glaube, mir hätte es gefallen, wenn du ihn zusammengeschlagen hättest.«
»Schlimm.«
»Echt schlimm.«
»Was hast du gegen ihn ?«
Sie schwieg.
Nach einer Weile sagte er: »Gestern Abend hast du noch etwas anderes erwähnt. Du hast gesagt, dass SMS mit meiner Beschreibung rausgegangen sind.«
»Sobald klar war, dass sie dich nicht finden konnten.«
»An Hotels und dergleichen.«
»An alle. So machen sie’s heutzutage. Das funktioniert automatisch. Sie arbeiten immer mit der neuesten Technik. Probieren ständig neue Betrügereien aus. Dagegen ist eine automatische Suchmeldung ein Kinderspiel.«
»Und buchstäblich jeder bekommt diese Suchmeldung ?«
»Denkst du an jemand Bestimmten ?«
»Potenziell an einen Kerl in einer anderen Branche. Im Kreditgeschäft.«
»Wäre das ein Problem ?«
»Er besitzt ein Foto von mir. Mein Gesicht aus nächster Nähe. Ich wette, dass er mich nach der Beschreibung erkennt und daraufhin das Foto verbreitet.«
Sie kuschelte sich enger an ihn. Wieder entspannt.
»Spielt keine große Rolle«, meinte sie. »Alle halten sowieso Ausschau nach dir. Deine Beschreibung reicht völlig. Ein Foto von deinem Gesicht macht keinen großen Unterschied. Nicht aus der Entfernung.«
»Das ist nicht das Problem.«
»Sondern ?«
»Der Kredithai glaubt, dass ich Aaron Shevick heiße.«
»Wieso ?«
»Die Shevicks sind ein altes Ehepaar. Ihretwegen war ich geschäftlich bei ihm. Ich dachte, das sei eine gute Idee. Aber jetzt ist der falsche Name in Umlauf. Sie könnten die Adresse herausfinden. Ich möchte nicht, dass sie auf der Suche nach mir bei den Shevicks aufkreuzen. Das könnte zu allen möglichen Unannehmlichkeiten führen. Die Shevicks haben schon genügend andere Sorgen.«
»Wo wohnen sie denn ?«
»Fast an der östlichen Stadtgrenze. In einer ehemaligen GI -Siedlung.«
»Das ist albanisches Territorium. Für die Ukrainer wär’s höchst riskant, dort aufzukreuzen.«
»Sie haben schon ihre Bar mit dem Kreditgeschäft übernommen«, erklärte Reacher. »Die liegt weit westlich der Center Street. Die Frontlinien scheinen in Bewegung geraten zu sein.«
Abby nickte verschlafen an seiner Brust.
»Ich weiß«, sagte sie. »Alle sind sich einig, dass es wegen des neuen Polizeichefs keinen Krieg geben darf, aber trotzdem passiert alles Mögliche.«
Dann atmete sie tief durch, setzte sich auf und sagte entschlossen: »Komm, wir müssen los.«
»Wohin ?«, fragte Reacher.
»Wir sollten uns vergewissern, dass mit deinem alten Ehepaar alles in Ordnung ist.«
Abby verfügte über ein Auto. Es stand einen Block weit entfernt in einer Tiefgarage. Es war ein kleiner viertüriger weißer Toyota mit Handschaltung und ohne Radkappen. Und mit Kabelbindern, mit denen ein Ende der vorderen Stoßstange befestigt war. Und mit einem Sprung in der Frontscheibe, der den Blick auf die Straße ungefähr in zwei Hälften teilte. Aber der Motor sprang an, und die Lenkung funktionierte ebenso wie die Bremsen. Die Scheiben waren nicht getönt, sodass Reacher das Gefühl hatte, sein Gesicht sei ihnen wegen des beengten Innenraums sehr nahe und daher von außen gut sichtbar. Er hielt Ausschau nach Lincoln Town Cars, wie er sie bei dem Ford-Händler verschrottet und am Abend zuvor auf der Straße gesehen hatte, als sie von Norden und Süden auf ihn zugekommen waren. Aber er sah keine – und auch keine blassen Männer in schwarzen Anzügen, die an Straßenecken herumlungerten und die Passanten beobachteten.
Sie fuhren auf dem Weg zurück, den er gekommen war: am Busbahnhof vorbei, über die Kreuzung, auf schmaleren Straßen weiter, an der Bar vorbei und in ein Gebiet mit lockerer Bebauung. Vor ihnen tauchte die Tankstelle mit der Imbisstheke auf.
»Fahr dort rein«, sagte Reacher. »Wir sollten ihnen etwas Essen mitbringen.«
»Ist ihnen das recht ?«
»Ist das wichtig ? Essen müssen sie doch.«
Sie bog in die Tankstelle ab. Die Auswahl war unverändert. Geflügel- oder Thunfischsalat. Er kaufte von jeder Sorte zwei, dazu Kartoffelchips und Limonade. Und eine Dose gemahlenen Bohnenkaffe. Wenig zu essen zu haben war eine Sache. Ohne Kaffee auskommen zu müssen war eine ganz andere.
Sie fuhren in die Siedlung hinein und navigierten auf schmalen Straßen und durch enge Kurven bis zu der Sackgasse ziemlich in der Mitte. Sie parkten vor dem Staketenzaun mit seinen Rosenknospen.
»Das ist ihr Haus ?«, fragte Abby.
»Jetzt gehört es der Bank«, antwortete Reacher.
»Wegen Maxim Trulenko ?«
»Und weil sie in bester Absicht ein paar Fehler gemacht haben.«
»Meinst du, dass sie’s von der Bank zurückkriegen können ?«
»Von solchen Sachen verstehe ich nicht viel. Aber das müsste möglich sein. Ich glaube nicht, dass die sich gegen einen Rückkauf sperren würde. Sie würde bestimmt eine Möglichkeit finden, dabei Gewinn zu machen.«
Sie gingen den schmalen Weg entlang. Die Haustür wurde geöffnet, bevor sie sie erreichten. Aaron Shevick stand auf der Schwelle. Er war sichtlich nervös und besorgt.
»Maria ist verschwunden«, sagte er. »Ich kann sie nirgends finden.«
Aaron Shevick mochte vor vielen Jahren ein ausgezeichneter Feinmechaniker gewesen sein, aber zum nützlichen Zeugen in der Gegenwart taugte er nicht. Er habe draußen keinen Verkehr gehört, sagte er. Er hatte keine Autos auf der Straße gesehen. Seine Frau und er waren um sieben Uhr morgens aufgestanden und hatten um acht Uhr gefrühstückt. Anschließend war er zu einem Spaziergang aufgebrochen, um im Nachbarladen Milch zu holen. Bei seiner Rückkehr hatte er Maria nirgends finden können.
»Wie lange waren Sie weg ?«, fragte Reacher.
»Zwanzig Minuten«, erwiderte Shevick. »Vielleicht etwas länger. Ich bin noch immer schlecht zu Fuß.«
»Und Sie haben sie im ganzen Haus gesucht ?«
»Ich dachte, sie sei vielleicht gestürzt. Aber sie war nirgends. Auch nicht im Garten. Also ist sie irgendwohin unterwegs. Oder jemand hat sie entführt.«
»Fangen wir damit an, dass sie irgendwohin unterwegs ist. Hat sie ihren Mantel an ?«
»Den brauchte sie nicht«, warf Abby ein. »Dafür ist’s zu warm. Eine bessere Frage wäre: Hat sie ihre Handtasche mitgenommen ?«
Shevick sah an den üblichen Orten nach, wie er sie nannte. Von diesen gab es vier. Eine spezielle Stelle auf der Arbeitsplatte in der Küche, ein spezielles Tischchen in der Diele, einen speziellen Kleiderhaken an der Garderobe und eine spezielle Stelle auf dem Teppich im Wohnzimmer neben ihrem Sessel.
Keine Handtasche.
»Okay«, sagte Reacher. »Das ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass sie das Haus aus eigenem Antrieb verlassen hat – ruhig und geordnet, nicht in Panik, auch nicht unter Zwang.«
Shevick sagte: »Vielleicht hat sie ihre Handtasche woanders hingestellt.« Er sah sich hilflos um. Das Haus war klein, enthielt aber trotzdem hundert mögliche Verstecke.
»Sehen wir die Sache positiv«, fuhr Reacher fort. »Sie hat ihre Handtasche mitgenommen, sie sich über den Arm gehängt und ist auf die Straße hinausgegangen.«
»Oder sie haben sie in ein Auto gezerrt. Sie dazu gezwungen, ihre Handtasche mitzunehmen. Vielleicht wussten sie, wie wir das interpretieren würden. Sie versuchen, uns auf eine falsche Fährte zu locken.«
»Ich glaube, dass sie zum Leihhaus gefahren ist«, sagte Reacher.
Shevick machte eine nachdenkliche Pause. Dann hob er einen Finger, wie um zu bedeuten, er sei gleich wieder da, und hinkte den Flur entlang ins Schlafzimmer. Eine Minute später kam er mit einem alten Schuhkarton in den Händen zurückgehinkt. Der in verblassten Farben Weiß und Rosa gestreifte Karton trug an der Stirnseite ein Etikett mit dem Namen des Herstellers, einem gezeichneten Pumps mit mittelhohem Absatz, der Größenangabe – Größe 36 – und dem Preis: $3.99. Vielleicht Maria Shevicks Brautschuhe.
»Der Familienschmuck«, erklärte Shevick.
Er nahm den Deckel ab. Der Schuhkarton war leer. Keine Eheringe aus 585er-Gold, keine kleinen Brillantringe, keine vergoldete Armbanduhr mit einem Sprung im Glas.
»Wir sollten hinfahren und sie abholen«, meinte Abby. »Sonst steht ihr ein trauriger Heimweg bevor.«
Zu den traditionellen Betätigungsfeldern des organisierten Verbrechens gehörten Zinswucher, Drogenhandel, Prostitution, Glücksspiel und Schutzgelderpressung. In ihrer Hälfte der Stadt betätigten die Ukrainer sich auf allen diesen Gebieten sehr geschickt und souverän. Der Drogenhandel lief besser als je zuvor. Mit Cannabis war kaum noch Geld zu verdienen, seit es überall schleichend legalisiert wurde, aber die explodierende Nachfrage nach Meth und Oxycodon machte diesen Ausfall mehr als wett. Die Gewinne waren ungeheuer. Gesteigert wurden sie durch eine Abgabe auf das mexikanische Heroin, das in der Stadt vom Westrand bis zur Center Street vertickt wurde. Auf jedes einzelne Gramm. Das war Gregorys größter Erfolg. Diesen Deal hatte er persönlich ausgehandelt. Die mexikanischen Gangs waren berüchtigte Barbaren, und es hatte einige Mühe gekostet, sie davon zu überzeugen, dass ihr Straßenverkauf nur dann sicher war, wenn die Ukrainer ihn garantierten. Daher die Umsatzbeteiligung. So waren alle zufrieden.
Auch die Prostitution florierte, wobei Gregory ein natürlicher Vorteil zu Hilfe kam. Ukrainische Mädchen waren oft schön: groß und schlank und sehr blond. Keine hatte zu Hause rosige Zukunftsaussichten. In der alten Heimat stand ihnen ein ärmliches Leben bevor. Keine elegante Kleidung, kein Luxusapartment, kein Mercedes. Das war ihnen klar. Deshalb wanderten sie gern nach Amerika aus. Sie verstanden, dass der Papierkram kompliziert und das Verfahren teuer war. Sie wussten, dass sie ihren Helfern die verauslagten Kosten möglichst schnell zurückerstatten müssten. Und definitiv, bevor sie den nächsten Schritt in ein neues Leben taten, in dem es hoffentlich elegante Kleidung, ein Luxusapartment und einen Mercedes gab. Aber vorher würden sie für kurze Zeit eine Stelle annehmen müssen. Erst danach hätten sie Zugang zu all diesen glitzernden Möglichkeiten. Und das System war sehr gut organisiert, die Arbeit angenehm und sozial. Eigentlich wie PR -Arbeit, die einen mit vielen Leuten zusammenbrachte. Sie würde ihnen gefallen. Vielleicht hatten sie sogar Glück und lernten einen Mann fürs Leben kennen.
Nach ihrer Ankunft wurden sie in Klassen eingeteilt. Nicht, dass etwa eine von ihnen hässlich gewesen wäre. Gregory konnte mit einer großen Auswahl aufwarten. Alle wirkten unverbraucht und attraktiv. Überraschenderweise waren nicht die Jüngsten am begehrtesten. Natürlich gab es genügend Typen, die bereit waren, für einen Blowjob von einem Mädchen zu zahlen, das jünger als ihre Enkelinnen war, aber die Erfahrung zeigte, dass die Kerle, die wirklich Geld besaßen, dies nicht ganz geheuer fanden. Erfahrungsgemäß bevorzugte ein Kerl dieser Art eine etwas ältere Frau, vielleicht sogar Ende zwanzig, mit Eleganz und Raffinesse, mit gewisser Reife, vielleicht sogar ein paar Lachfältchen, damit er sich nicht wie ein Kinderschänder vorkam. Damit er das Gefühl haben konnte, mit einer jüngeren Kollegin, vielleicht einer aufstrebenden Führungskraft zusammen zu sein, die einen Ratschlag, eine Beförderung oder eine Gehaltserhöhung anstrebte – und dann alles bekommen würde, wenn sie ihre Karten richtig ausspielte.
Eine Frau dieser Art blieb meist etwa fünf Jahre in dieser Rolle. Irgendwie brachte sie es nie zu eleganter Kleidung, einem Luxusapartment und einem Mercedes. Irgendwie gelang es ihr nie, ihre Schulden zu tilgen. Niemand hatte daran gedacht, dass auch Zinsen fällig wurden. Hielt sie sich gut, arbeitete sie – auf der Webseite als »Mature« beworben – manchmal weitere fünf Jahre; tat sie das nicht, wurde ihr Stundenlohn um ein paar Hundert Dollar reduziert, und sie machte so gut und so lange weiter, wie sie konnte. Danach wurde sie ganz von der Webseite genommen und in einem der vielen Massagesalons eingesetzt, in denen der kürzeste Einsatz zwanzig Minuten dauerte. Dort trug sie eine äußerst knappe Schwesterntracht sowie Gummihandschuhe und musste sechzehn Stunden am Tag arbeiten.
Jeder einzelne dieser Massagesalons wurde von einem Boss und seinem Stellvertreter geleitet. Wie die dort arbeitenden Frauen gehörten sie nicht zur Elite der Ukrainer. Andererseits hatte ihr Job den Vorteil, unkompliziert zu sein. Sie hatten nur drei Aufgaben: Sie mussten einen festgelegten Betrag pro Woche abliefern. Sie mussten die Frauen bei Laune halten. Sie mussten für Ordnung unter den Freiern sorgen, mehr nicht. Diese Anforderungen lockten sehr spezielle Kandidaten an. Brutal genug, um das Geld einzutreiben, taff genug, um die Freier zu bändigen, anspruchslos genug, um Spaß mit dem Personal zu haben.
In einem Massagesalon zwei Blocks westlich der Center Street hießen diese beiden Bohdan und Artem. Bohdan war der Boss, Artem sein Stellvertreter. Bisher lief der Tag gut. Sie hatten eine Textnachricht wegen eines gesuchten Kerls bekommen. Mit einer kurzen Beschreibung, auch von Größe und Gewicht, die beide beeindruckend klangen. Daraufhin hatten sie sich ihre Kundschaft angesehen. Kein Typ dieser Art. Aber viele andere Typen. Bisher alle manierlich. Alle befriedigt. Auch mit dem Personal bis auf eine Kleinigkeit keine Probleme. Eine der älteren Frauen hatte sich morgens verspätet und sich nicht angemessen entschuldigt. Sie erhielt die Wahl unter mehreren Bußen. Sie entschied sich für das Lederpaddel, sobald ihr Dienst beendet war. Bohdan würde die Strafe ausführen, und Artem würde sie per Video festhalten. Eine Stunde später würde der Film auf ihren Pornoseiten abrufbar sein. Vielleicht hatte er bis zum Morgen schon ein paar Bucks verdient. Eine Win-win-Situation. Alles gut. Bisher lief ihr Tag bestens.
Dann betraten zwei Freier den Laden, die anders ausschauten. Schwarzes Haar, dunkler Teint, Sonnenbrille. Kurze dunkelgraue Regenmäntel. Schwarze Jeans. Fast wie eine Uniform. Was vorkommen konnte. Meist wegen der Universität. Sie zog alle möglichen Ausländer an, die sich häufig wie daheim kleideten. So auch diese beiden. Vielleicht wollten sie die verbotenen Freuden ihres Gastlandes rein zu Forschungszwecken ausloten. Nur um das gegenseitige Verständnis zu fördern.
Oder auch nicht.
Unter ihren gleich aussehenden Regenmänteln zogen sie gleiche MP 5 von Heckler & Koch hervor: Maschinenpistolen mit aufgeschraubten Schalldämpfern. Zufällig dieselbe Marke und dasselbe Modell, das die Ukrainer am Vorabend vor dem Spirituosenladen benutzt hatten. Die beiden Männer bedeuteten Bohdan und Artem, sie sollten sich nebeneinander aufstellen. Um zu beweisen, dass ihre Waffen schallgedämpft waren, schossen beide einmal in den Boden. Zwei kurze trockene Knalle. Laut, aber nicht laut genug, dass jemand angerannt kam.
Die beiden stellten sie in stockendem Ukrainisch mit starkem albanischem Akzent vor eine Wahl. Draußen stand ein Wagen, in den Bohdan und Artem steigen konnten, oder sie würden an Ort und Stelle erschossen werden – mit MP s, die leise genug waren, dass niemand angerannt kam. Sie konnten nach zwanzig Minuten Todeskampf auf dem Fußboden verbluten und würden dann hinausgeschleift und trotzdem in den Wagen geladen werden.
Ihre Wahl.
Bohdan antwortete nicht gleich. Auch Artem nicht. Sie waren sich wirklich unsicher. Die Albaner hatten einen üblen Ruf als Folterer. Vielleicht war ein Bauchschuss doch besser. Sie sagten nichts. In dem Gebäude herrschte Stille. Nirgends ein Laut. Die Massagekabinen lagen hinter einer geschlossenen Tür an einem langen Korridor. Der vordere Raum hätte der Empfangsbereich einer Anwaltskanzlei sein können. Das Ergebnis eines Geheimdeals mit der Stadtverwaltung. Aus den Augen, aus dem Sinn. Nur nicht die Wähler verschrecken. Den Deal hatte Gregory ausgehandelt.
Dann wurde die Stille unterbrochen. Vom Korridor her war ein Geräusch zu hören. Tap-tap-tap. Das Klicken von Stilettoabsätzen, wie alle sie tragen mussten. Stripper Heels. Die Amerikaner hatten für alles ein Wort. Tap-tap-tap . Eine von ihnen war unterwegs, vielleicht von der Toilette zu ihrer Kabine. Oder von einer Kabine zur anderen. Von einem Kunden zum nächsten. Manche Girls waren beliebt. Manche wurden extra angefordert.
Die High Heels kamen näher. Tap-tap-tap . Vielleicht war sie zu einer Kabine ganz vorn unterwegs.
Tap-tap-tap .
Die innere Tür ging auf. Eine Frau kam herein. Bohdan sah, dass sie eine der älteren Frauen war – tatsächlich sogar die eine, die nach Dienst bestraft werden sollte. Wie alle Girls trug sie sehr knappe Schwesterntracht aus weißem Latex mit einer im Haar festgesteckten frechen kleinen Kappe. Ihr Rock endete eine Handbreit über ihren schwarzen Nylons. Sie hob eine Hand mit vage vorgestrecktem Mittelfinger, wie es Leute tun, um sich wegen einer Störung zu entschuldigen oder eine Frage anzukündigen.
Dazu kam sie nicht mehr. Welche banale Sache sie hergeführt hatte, blieb unausgesprochen. Neue Handtücher, neue Lotion, neue Gummihandschuhe. Irgendwas in dieser Art. Als die Tür sich am linken Rand des Blickfelds des linken Kerls öffnete, gab er sofort einen kurzen Feuerstoß ab. Die drei Geschosse trafen ihre Körpermitte. Eigentlich ohne Grund. Nur aus nervöser Anspannung heraus. Ein Zucken der Mündung, ein Zucken des Fingers am Abzug. Es gab keine Schussknalle, kein Echo. Nur ein dumpfer Aufprall, als die Frau zusammensackte.
Bohdan sagte: »Jesus !«
Damit waren alle anderen Argumente hinfällig. Erschossen zu werden war keine bloße Theorie mehr. Die Demonstration war überzeugend gewesen. Nun setzte der uralte Überlebenstrieb ein. Noch eine Minute länger leben. Abwarten, was als Nächstes passiert. Sie stiegen freiwillig in das Auto. Wie es der Zufall wollte, gelangten sie in genau dem Augenblick, in dem die Frau in Schwesterntracht starb, jenseits der Center Street auf albanisches Gebiet. Sie lag allein auf dem Fußboden des Empfangsbereichs, halb drinnen und halb draußen im Korridor. Alle Kunden hatten die Flucht ergriffen. Sie waren über sie hinweggesprungen und weggerannt. Ebenso ihre Kolleginnen. Sie starb allein, unter Schmerzen, ohne Beistand, ohne Trost. Sie hieß Anna Uljana Doroschkin und war einundvierzig. Fünfzehn Jahren zuvor war sie mit sechsundzwanzig in die Stadt gekommen – ganz aufgeregt wegen einer Karriere im PR -Sektor.
Aaron Shevick hatte keine Vorstellung davon, wo es in der Stadt Leihhäuser gab. Reacher vermutete, sie würden ungefähr gleich weit von dem Busbahnhof entfernt sein, in diskretem Abstand zu den besseren Vierteln. Er kannte Städte. Dort würde es mehrere Blocks mit Billigmieten für kleine Geschäfte geben. Werkstätten für Fensterfolien und Waschsalons, staubige Eisenwarengeschäfte und Läden für preiswerte Autoteile. Und Leihhäuser. Kompliziert war nur die Routenplanung. Sie wollten Mrs. Shevick abfangen, wenn sie bereits wieder auf dem Heimweg war. Das gestaltete sich schwierig, weil sie ihr Ziel nicht kannten. Also beschrieben sie weite Kreise, bis sie ein Leihhaus fanden, schauten durchs Fenster und fuhren erst ein gutes Stück in Richtung Siedlung, bevor sie eine neue Suche begannen.
Zuletzt entdeckten sie Aarons Frau weit westlich der Center Street, als sie aus einem schmuddeligen Pfandhaus trat, das in einer engen Straße gegenüber einem Taxiunternehmen und einer Firma lag, die Gerichtskautionen stellte. Mrs. Shevick, wie sie leibte und lebte, mit erhobenem Kopf und ihrer Handtasche am Arm. Abby hielt neben ihr. Aaron kurbelte das Fenster herunter und rief ihren Namen. Sie war sehr überrascht, ihn zu sehen, stieg jedoch sofort ein. Das Ganze dauerte keine zehn Sekunden. Als hätten sie alles zuvor vereinbart.
Anfangs wirkte sie wegen Abby verlegen. Wegen einer Fremden. Sie müssen uns für sehr töricht halten . Als Aaron fragte, wie viel sie für die Ringe und die Uhr bekommen habe, schüttelte sie nur den Kopf und gab keine Antwort.
Etwas später sagte sie: »Achtzig Dollar.«
Niemand äußerte sich dazu. Sie fuhren nach Osten zurück, am Busbahnhof vorbei und über die Ampelkreuzung.
Zur selben Zeit erfuhr Gregory in seinem Büro, was sich in seinem Massagesalon ereignet hatte. Ein anderer seiner Kerle war dort zufällig vorbeigekommen. Er hatte gespürt, dass hier etwas nicht stimmte. Zu still. Er war reingegangen und hatte den Salon völlig leer vorgefunden. Bis auf eine alte Nutte, die erschossen in einer großen Blutlache auf dem Boden lag. Sonst niemand. Keine Kunden. Auch die anderen Girls hatten offenbar das Weite gesucht. Von Bohdan und Artem keine Spur. Artems Handy lag auf seinem Schreibtisch, und Bohdans Jackett hing über seiner Stuhllehne. Keine guten Zeichen. Sie bedeuteten, dass die beiden den Salon nicht freiwillig verlassen hatten. Sie mussten irgendwie dazu gezwungen worden sein.
Gregory rief seine Topleute zusammen. Er schilderte ihnen den Sachverhalt und forderte sie auf, sechzig Sekunden lang angestrengt nachzudenken und dann zu analysieren, was zum Teufel passiert war – und was zum Teufel sie dagegen unternehmen sollten.
Seine rechte Hand sprach als Erster.
»Dahinter steckt Dino«, erklärte er. »Ich glaube, das wissen wir alle. Er verfolgt einen Plan. Mit dem Trick, dass wir einen Spitzel bei der Polizei haben, haben wir zwei seiner Leute ausgeschaltet, also hat er bei dem Ford-Händler zwei unserer Kerle erledigt. Was fair war, keine Frage. Wie du mir, so ich dir. Aber weil’s ihm anscheinend nicht gefällt, das Kreditgeschäft verloren zu haben, hat er zur Strafe zwei weitere Männer im Restaurantblock umgelegt. Also mussten wir uns mit den beiden vor dem Spirituosengeschäft revanchieren. Damit waren es vier zu vier. Ein fairer Tausch. Ende der Geschichte. Nur ist Dino offenbar anderer Meinung. Er will anscheinend etwas beweisen. Könnte ein Egotrip sein. Er hat den Ehrgeiz, immer zwei Kerle Vorsprung zu haben. Vielleicht fühlt er sich dann besser. Deshalb steht’s jetzt sechs zu vier.«
»Was sollten wir dagegen tun«, fragte Gregory.
Der andere schwieg lange.
Dann sagte er: »Wo wir jetzt stehen, sind wir, weil wir clever waren. Machen wir daraus sechs zu sechs, erhöht er auf acht zu sechs. Und so weiter und so fort. Das wäre ein Krieg in Zeitlupe. Aber wir können uns jetzt keinen Krieg leisten.«
»Was sollten wir also tun ?«
»Wir sollten uns damit abfinden. Wir haben zwei Leute und den Restaurantblock verloren, aber das Kreditgeschäft dazugewonnen. Alles in allem stehen wir jetzt besser da als zuvor.«
Gregory sagte: »Lässt uns schwach aussehen.«
»Nein«, widersprach der Kerl. »Es lässt uns wie Erwachsene aussehen, die auf lange Sicht planen und ihr Ziel fest im Blick haben.«
»Wir haben zwei Mann weniger. Das ist demütigend.«
»Hätte Dino dir vor einer Woche sein gesamtes Kreditgeschäft im Tausch gegen zwei unserer Kerle und das Restaurant angeboten, hättest du sofort eingeschlagen. W ir schneiden weit besser ab. Dino ist gedemütigt, nicht wir.«
»Erscheint mir verrückt, die Sache auf sich beruhen zu lassen.«
»Nein«, widersprach der Kerl noch mal. »Das ist clever. Dies ist eine Schachpartie. Und vorläufig gewinnen wir.«
»Was macht er mit unseren Leuten ?«
»Bestimmt nichts Nettes.«
Dann sagte Gregory: »Wir müssen die Nutten finden. Dürfen nicht zulassen, dass sie weglaufen. Schlecht für die Disziplin.«
»Wir sind dran«, warf irgendwer ein.
Schweigen.
Gregorys Handy klingelte. Er meldete sich, hörte zu und beendete das Gespräch.
Dann grinste er.
»Vielleicht hast du recht«, sagte er. »Vielleicht bringt uns das Kreditgeschäft wirklich nach vorn.«
»Wie das ?«, fragte seine rechte Hand.
»Wir haben jetzt einen Namen«, antwortete Gregory. »Und ein Foto. Der Kerl, der gestern Abend nach Maxim Trulenko gefragt hat, heißt Aaron Shevick. Er ist ein Kunde. Im Augenblick schuldet er uns fünfundzwanzigtausend Dollar. Wir sind dabei, seine Adresse rauszukriegen. Er scheint ein großer hässlicher Hundesohn zu sein.«
Abby parke am Randstein vor dem Staketenzaun, und sie stiegen alle aus, gingen den schmalen Weg entlang. Maria Shevick holte ihre Schlüssel aus der Handtasche und sperrte auf. Sie traten ein. Maria sah die Kaffeedose auf der Arbeitsplatte stehen.
»Danke«, sagte sie.
»Purer Egoismus«, meinte Reacher.
»Möchten Sie welchen ?«
»Ich dachte schon, Sie würden das nie fragen.«
Maria öffnete die Dose und schaltete die Kaffeemaschine ein. Dann ging sie ins Wohnzimmer, wo Abby die Familienfotos an der Wand betrachtete.
Sie fragte mitfühlend: »Was haben Sie zuletzt von Meg gehört ?«
»Die Behandlung ist brutal«, sagte Maria. »Sie liegt isoliert auf der Intensivstation, ist wegen starker Schmerzmittel nicht ansprechbar oder schläft tief, weil sie sediert wird. Wir können sie nicht besuchen, nicht mal mit ihr telefonieren.«
»Das klingt schrecklich.«
»Aber die Ärzte sind optimistisch«, fuhr Maria fort. »Wenigstens bis jetzt. Bald sollen wir mehr erfahren. Demnächst wollen sie einen weiteren Scan vornehmen.«
»Wenn wir im Voraus dafür zahlen«, warf ihr Mann ein.
Sechs Chancen, bevor die Woche zu Ende ist, dachte Reacher.
Er sagte: »Wir glauben, dass Megs früherer Boss noch hier lebt und irgendwo Geld gebunkert hat. Ihre Anwälte halten es für die absolut beste Strategie, ihn persönlich zu verklagen. Kann unmöglich schiefgehen, haben sie gesagt.«
»Aber wo ist er ?«, fragte Shevick.
»Das wissen wir noch nicht.«
»Können Sie ihn finden ?«
»Ich denke schon«, sagte Reacher. »Solche Dinge haben früher zu meinem Job gehört.«
»Die Mühlen der Justiz mahlen langsam«, sagte Maria wie schon einmal.
Sie aßen den aus der Tankstelle mitgebrachten Lunch. Im Wohnzimmer, nicht in der Küche, denn dort gab es nur drei Stühle. Abby saß im Schneidersitz auf dem Teppich, wo der Fernseher gestanden hatte, und balancierte ihren Teller auf einem Knie. Maria Shevick fragte sie nach ihrem Beruf. Abby erzählte es ihr. Aaron sprach über die gute alte Zeit vor der Einführung rechnergesteuerter Werkzeugmaschinen. Als es auf Auge und Tastsinn angekommen war – auf Tausendstelzoll genau. Sie hatten alles herstellen können. Amerikanische Arbeiter. Eine der größten natürlichen Ressourcen der Welt. Und was hatten die Computer aus ihnen gemacht ? Eine Schande war das !
Reacher hörte draußen ein Auto vorfahren. Dem Geräusch nach eine große Limousine. Er stand auf, trat in die Diele und lugte aus dem Fenster neben der Haustür. Ein schwarzer Lincoln Town Car. Mit zwei Kerlen. Blond, blasse Gesichter, schwarze Anzüge. Sie versuchten, auf dem beengten Raum zu wenden, stießen mehrmals vor und zurück, um abfahrbereit zu parken. Vielleicht, um rasch flüchten zu können. Abbys Toyota stand ihnen im Weg.
Reacher ging ins Wohnzimmer zurück.
»Sie haben Aaron Shevicks Adresse ausfindig gemacht«, sagte er.
Abby sprang auf.
Maria fragte: »Sie sind hier ?«
»Weil jemand sie hergeschickt hat«, erklärte Reacher. »Das müssen wir bedenken. Uns bleibt ungefähr eine halbe Minute Zeit, uns eine Taktik zurechtzulegen. Wer sie geschickt hat, weiß, wo sie sind. Stößt ihnen etwas zu, wird dieses Haus der Ground Zero für Vergeltungsmaßnahmen. Also sollten wir das möglichst vermeiden. Woanders wäre das kein Problem. Aber nicht hier.«
Shevick fragte: »Was machen wir also ?«
»Sie abwimmeln.«
»Ich ?«
»Irgendeiner von euch. Nur ich nicht. Mich halten sie für Aaron Shevick.«
Jemand klopfte an die Haustür.
Erneutes Klopfen an der Haustür. Keiner bewegte sich. Dann machte Abby einen Schritt vorwärts, doch Maria legte ihr eine Hand auf den Arm, und Aaron ging an ihrer Stelle hinaus. Reacher verschwand in der Küche und nahm auf einem Stuhl Platz, um zu lauschen. Er hörte, wie die Haustür geöffnet wurde, worauf sekundenlang Schweigen herrschte, als wären die beiden Männer kurzzeitig darüber verblüfft, dass ihnen nicht der Mann öffnete, den sie suchten.
Dann sagte einer der Kerle: »Wir müssen Mr. Aaron Shevick sprechen.«
Mr. Aaron Shevick fragte: »Wen ?«
»Aaron Shevick.«
»Er war unser Vormieter, denke ich.«
»Sie sind hier Mieter ?«
»Ich bin im Ruhestand. Kaufen wäre zu teuer.«
»Wer ist Ihr Vermieter ?«
»Eine Bank.«
»Wie heißen Sie ?«
»Bevor ich Ihnen das sage, möchte ich den Grund Ihres Besuchs erfahren.«
»Der geht nur Mr. Shevick etwas an. Die Angelegenheit ist sehr delikat.«
»Augenblick !«, sagte Shevick. »Kommen Sie von einer Behörde ?«
Keine Antwort.
»Oder dem Versicherungsfonds ?«
Einer der Kerle fragte: »Wie heißen Sie, Alter ?«
Seine Stimme klang drohend.
Shevick sagte: »Jack Reacher.«
»Woher wissen wir, dass Sie nicht Shevicks Vater sind ?«
»Wir hätten denselben Namen.«
»Dann eben sein Schwiegervater. Woher wissen wir, dass er nicht hier im Haus ist ? Vielleicht haben Sie den Mietvertrag übernommen, und er hat hier nur ein Zimmer. Im Augenblick schwimmt er nicht gerade in Geld.«
Shevick schwieg.
Dieselbe Stimme sagte: »Wir kommen jetzt rein, um uns umzusehen.«
Shevick wurde zur Seite gestoßen, dann waren Schritte in der Diele zu hören. Reacher stand auf und trat hinter die Küchentür. Er zog eine Schublade nach der anderen auf, bis er ein großes Tranchiermesser fand. Besser als nichts. Er hörte Abby und Maria aus dem Wohnzimmer in die Diele kommen.
Die Kerle machten halt.
Er hörte Abby fragen: »Wer sind Sie ?«
»Wir suchen Mr. Aaron Shevick«, antwortete einer der Kerle.
»Wen ?«
»Wie heißen Sie ?«
»Abigail«, sagte Abby.
»Abigail wie ?«
»Reacher«, sagte sie. »Das hier sind meine Großeltern, Jack und Joanna.«
»Wo ist Shevick ?«
»Er war der Vormieter. Er ist ausgezogen.«
»Wohin ?«
»Er hat keine Nachsendeadresse hinterlassen. Anscheinend hatte er große finanzielle Schwierigkeiten. Im Prinzip hat er sich nachts verdrückt, glaub ich. Er ist heimlich abgehauen.«
»Bestimmt ?«
»Ich weiß, wer hier wohnt, Mister. Dieses Haus hat zwei Schlafzimmer. Eines für meine Großeltern und eines für mich, wenn ich hier bin. Für Gäste, wenn ich nicht da bin. Sonst lebt hier niemand. Das wäre mir aufgefallen, denke ich.«
»Kennen Sie ihn persönlich ?«
»Wen ?«
»Mr. Aaron Shevick.«
»Nein.«
»Ich habe ihn kennengerlernt«, sagte Maria Shevick. »Als wir das Haus besichtigt haben.«
»Wie hat er ausgesehen ?«
»Ich erinnere mich, dass er groß und kräftig war.«
»Das ist der Mann«, sagte die Stimme. »Wie lange ist das her ?«
»Ungefähr ein Jahr.«
Keine Antwort. Die Schritte bewegten sich Richtung Wohnzimmertür. Die Stimme sagte: »Sie wohnen seit einem Jahr hier und haben noch keinen Fernseher ?«
»Wir leben im Ruhestand«, erklärte Maria. »Diese Dinger sind teuer.«
Die Stimme sagte: »Oh.«
Reacher hörte ein leises kratziges Klicken, dann Schritte durch die Diele zur Haustür. Verhallten auf dem schmalen Fußweg. Autotüren wurden zugeschlagen, ein Motor sprang an, und die große Limousine fuhr davon.
Danach herrschte wieder Stille.
Er legte das Messer in die Schublade zurück und verließ die Küche.
»Gut gemacht«, sagte er.
Aaron wirkte zittrig. Maria sah blass aus.
»Sie haben ein Foto gemacht«, sagte Abby. »Sozusagen als Abschiedsgruß.«
Reacher nickte. Das leise kratzige Klicken. Ein Smartphone, das eine Kamera imitierte.
»Ein Foto wovon ?«
»Von uns dreien. Teils für ihren Bericht, teils für ihre Notfalldatenbank. Aber vor allem, um einzuschüchtern. Das ist ihre Methode. Die Leute sollen sich verwundbar fühlen.«
Reacher nickte erneut. Er erinnerte sich an den blassen Kerl in der Bar. Wie er sein Smartphone hob. Dann das Klicken, als er ein Foto machte. Wäre ich ein Klient gewesen, hätte mir das nicht gefallen.
Die Shevicks gingen in die Küche, um mehr Kaffee zuzubereiten. Reacher und Abby setzten sich ins Wohnzimmer, um darauf zu warten.
Abby sagte: »Einschüchterung ist nicht der einzige Zweck dieses Fotos.«
»Sondern ?«, fragte Reacher.
»Sie schicken sich das Foto untereinander zu. Für den Fall, dass jemand ein weiteres Puzzleteil einfügen kann. Früher oder später bekommt es jeder – auch der Türsteher in der Bar. Er weiß, dass ich nicht Abigail Reacher bin. Er weiß, dass ich Abigail Gibson heiße. Das wissen auch andere Türsteher, weil ich schon in verschiedenen anderen Bars gearbeitet habe. Sie werden anfangen, Fragen zu stellen. Ich bin ohnehin schon unbeliebt bei ihnen.«
»Wissen sie, wo du wohnst ?«
»Das können sie bestimmt aus meinem Boss rauskriegen.«
»Wann verschicken sie das Foto ?«
»Das haben sie bestimmt schon getan.«
»Könntest du woanders unterkommen ?«
Sie nickte.
»Bei einem Freund«, sagte sie. »Östlich der Center Street. Zum Glück auf albanischem Gebiet.«
»Kannst du dort arbeiten ?«
»Das hab ich schon getan.«
Reacher sagte: »Tut mir echt leid, dass ich dich da mit reingezogen habe.«
»Ich sehe die Sache als Experiment«, sagte sie. »Jemand hat mir mal gesagt, eine Frau sollte jeden Tag etwas tun, das sie ängstigt.«
»Sie könnte zur Army gehen.«
»Du brauchst auch eine Unterkunft östlich der Center Street. Wir könnten zusammenbleiben. Wenigstens noch heute Nacht.«
»Wäre das deinem Freund recht ?«
»Das hoffe ich«, sagte sie. »Und den Shevicks passiert heute Nacht nichts ?«
Reacher nickte.
»Die Leute verlassen sich auf ihre eigenen Augen«, meinte er. »In diesem Fall auf die des blassen Kerls in der Bar. Er kennt mich persönlich. Er hat mich fotografiert. Ich bin Aaron Shevick. Das ist in Stein gemeißelt. In ihrer Vorstellung ist Shevick ein großer, kräftiger Typ aus einer jüngeren Generation. Das konnte man aus dem heraushören, was sie sagten. Sie haben den Alten verdächtigt, Shevicks Vater oder Schwiegervater zu sein, aber nie behauptet, er sei Shevick selbst. Also passiert ihm nichts. Aus der Sicht dieser Leute sind die beiden nur ein altes Ehepaar namens Reacher.«
Dann rief Maria aus der Küche, der Kaffee sei fertig.
Der Inhaber des schäbigen Pfandhauses in der engen Straße gegenüber dem Taxiunternehmen und einer Firma, die Gerichtskautionen stellte, kam aus seiner Tür, wich einem Lastwagen aus und überquerte die Straße zu dem Taxiunternehmen. Er ignorierte den Dispatcher am Funkgerät und ging nach hinten durch. Zu Gregorys Büro. Gregorys rechte Hand sah auf und fragte, was er wolle. Er sagte, er habe etwas zu berichten. Da sei es schneller, über die Straße zu laufen, als eine Textnachricht zu schreiben.
»Welche Textnachricht ?«, fragte Gregorys rechte Hand.
»Heute Morgen ist ein Alarm mit dem Foto eines Kerls namens Shevick gekommen. Ein großer hässlicher Hundesohn.«
»Hast du ihn gesehen ?«
»Ist Shevick ein häufiger amerikanischer Name ?«
»Wie kommst du darauf ?«
»Ich hatte heute Morgen eine Kundin namens Shevick. Aber sie war eine kleine alte Frau.«
»Wahrscheinlich verwandt. Vielleicht eine ältere Tante oder Cousine.«
Der Mann nickte.
»Das hab ich erst auch gedacht«, sagte er. »Aber dann ist ein neuer Alarm mit einem weiteren Foto gekommen. Auf dem war dieselbe alte Frau zu sehen. Aber dieses Mal mit einem anderen Namen. In der zweiten Alarmmeldung heißt sie Joanna Reacher. Aber bei mir hat sie heute Morgen als Maria Shevick unterschrieben.«